Montag, 3. Juli 2017

Anruf aus dem Nichts












Auf einmal klingelt das Telefon. Ich habe gerade keine Schüler, also kann ich drangehen. Eigentlich kann das ja nur einer sein. Eine. Ich krame das Handy aus der engen Hosentasche und gucke auf das Display. Da steht es: Mari. Mari! Ja! Result! 
Eigentlich hatte ich mir ja geschworen, sie nicht mehr anzurufen. Bevor sie nach Dublin fliegt. Hätte ich auch nicht mehr gemacht. Diesmal echt nicht. Diesmal hätte ich das auch durchgehalten. Einmal. Einmal im Leben. Einmal hart bleiben. Nicht der Vater sein, der – wie sie sagt – sich zu viel um sie kümmert. Hat sie letztens gesagt, als ich ihr diesen Artikel in der Bild vorgelesen habe. Wie hieß der noch mal? Irgendwas mit „Viele Kinder fühlen sich von ihren Eltern vernachlässigt“. Ja, das war’s. Das hab ich ihr vorgelesen, abends, und dann hat sie gesagt, ein bisschen später: Um mich wird sich zu viel gekümmert. Also wollte ich diesmal mal der lockere Vater sein, der coole Vater, der gelassene, rationale Vater. Obwohl das null meinem Naturell entspricht. Ich glaube, ich bin eher der Vater, der rauskommt, wenn man Don Corleone mit einem türkischen Vater kreuzt und dann noch einen südspanischen (vorzugsweise andalusischen) Vater fürs Temperament einfließen lässt). Genau, so ungefähr… Außerdem war ich leicht angesäuert. Warum eigentlich. Nicht wegen ihr, nein, nicht deswegen, sondern wegen der Situation, in die mich die Scheidung gebracht hat. Diese unmögliche Situation, wo man noch nicht mal zu zweit als Eltern (und das sind wir immer noch) zum Flughafen fahren kann, um die Tochter zu verabschieden. Wo die Tochter einen belügen muss, nur damit sie nicht einen der beiden (meistens ihre Mutter) vor den Kopf stößt. Moment mal: Wie kommt es eigentlich, dass sie jetzt anruft? Es ist schon zwanzig vor zwei. Wie will sie denn um zwei da sein? Wenn sie nicht mit ihrer Mutter oder ihrem neuen Stecher zum Flughafen fährt. Gefahren wird? Samt Freundin. Gute Mama! Böser Papa! Aber egal…
…was du nicht weißt, macht dich noch heißer (den Corleone, den Türken und den Spanier in dir).
Was du nicht weißt, macht dich sowas von heiß…
Vielleicht wolltest du dich ja nur vor dieser Enttäuschung schützen. Der Enttäuschung, dass du sie nicht sehen kannst, am Morgen vor ihrem Abflug. Weil das bis um 18 Uhr ein „Mama-Tag“ ist. Geil, ne?! Also wollte ich mich zurückziehen, sie nicht stören, in ihren Kreisen. Wenn sie um ihre Mutter kreist. Am Anfang hatte ich zwar noch gedacht, sie morgens zu sehen, extra morgens nach Bonn zu fahren, um mich richtig von ihr zu verabschieden. Standesgemäß sozusagen. Aber das war mir dann doch zu viel und bestimmt wär ich so ihrer Mutter in die Quere gekommen und hätte mich am Ende noch mehr geärgert. Also, hab ich schon am Freitag (bis Schulbeginn mein Tag – DAS IST MEIN TAG!!!) so nonchalant wie möglich tschüs gesagt (auch damit es nicht zu sehr wehtut, weil ich sie ja am Wochenende vor der Fahrt nicht mehr sehe). Ich habe „Tschüs“ gesagt und sie hat „Tschüs“ gesagt und die Tür ging zu und das war‘s. Natürlich habe ich – wieder – das ganze Wochenende mit mir gerungen, ob ich mich nicht doch noch mit ihr treffen soll, aber dann habe ich mich für diese Lösung entschieden. So lakonisch wie möglich, nur so viele Worte wie nötig. Und dann passiert genau das Gegenteil: Da will man(n) schon mal schweigen und wer ruft mich um zwanzig vor zwei mitten auf der Arbeit an: María! Nicht, dass ich mich nicht freue, aber das ist auch irgendwie traurig. Denn für mich heißt das irgendwie auch: Wenn man Spielchen spielt, hat man in diesem Leben Erfolg. Wenn man lügt und betrügt, Spielchen spielt und so tut, als ob. Wenn man ehrlich ist, wird man gefickt. Von hinten, ohne Gummi und ohne Gleitcreme. Von einem BBC (und damit meine ich nicht die Fernsehanstalt!).

Aber egal, ich gehe trotzdem dran:

Hi

Hi, ich bin jetzt gleich am Flughafen…

Häh…, sage ich halb extra, halb gespielt. Bist du schon am Flughafen?

Nein…
…ich fahr jetzt, ich fahr jetzt zum Flughafen…

Ach so…ok.


Na dann wünsche ich dir einen guten Flug! Und viel Spaß! Wann geht denn der Flieger?

Um vier.

Und wann bist du da?

Um sieben. Oder acht. Halb acht.

So spät?

Ja, ich glaub schon…oder früher…

Stimmt, das dauert ja noch. Der Flughafen liegt ja bestimmt auch nicht direkt in der Stadt- Der liegt ja bestimmt außerhalb. Bei RyanAir. Bestimmt

Ja.

Du kannst mich ja mal anrufen, ob du gut angekommen bist. Wenn du da bist. Heute Abend. Ist auch egal, ob das was kostet. Das bezahl ich dann. Ruf mich einfach mal an. Dann bin ich bestimmt auch schon Zuhause. Und wenn nicht, das Handy hab ich ja dabei…dur.

Ja, mach ich.

(Da muss sie zwei anrufen, das ist auch nervig. Dann kann sie uns miteinander vergleichen und analysieren, wer sich besser verhält. Wer cooler ist. Gelassener. Bestimmt Nadine. Was Gelassenheit angeht, bin ich ja eher ein dark horse. Hey, im wahrsten Sinn des Wortes. Scheiße, das ist auch lästig, für die Kinder mit zwei Eltern. Mit getrennten Eltern. Die Kinder im Wechselmodell. Die im Wechselmodell befindlichen Kinder. Die im Wechselmodell existierenden Kinder. Wen sie wohl als erstes anruft?)

Sie sagt nichts. Es klingt die ganze Zeit, als ob sie noch was sagen will, es aber nicht raus bekommt. Das Gefühl habe ich öfters bei ihr, in letzter Zeit. Diese ganze Zurückhaltung kann ja nicht gut sein. Dieses ganze Labern von dir sicherlich auch nicht. Touché!

Wann kommst du denn wieder? Das weißt du doch schon…

Am Freitag.

Und um wie viel Uhr?

Um vier.

Ok, dann kann ich dich ja vielleicht abholen, vom Flughafen...


…ach, ne, geht ja nicht. Da arbeite ich ja…Scheiße…


Du kannst ja mal am Samstag- oder Sonntagvormittag vorbeikommen. Keine Ahnung, ob ich Sonntag arbeite, aber das sage ich dir dann noch…

Ja.

Ok, dann einen guten Flug, komm gut an, hab Spaß…
…und pass auf dich auf. Ya sabes (ich bin hier auf der Arbeit), sólo media cerveza y si sales, no aceptes bebidas de otra gente…ya sabes…

Jaaaaaa

Ciao.

Ciao.




Die Beziehungen. Was du heute Morgen noch im Fernsehen gehört hast. Das mit den Mädchen und den Vätern, den Töchtern und den Vätern und den Söhnen und den Müttern. Vielleicht war das bei dir so gewesen. Vielleicht war das sogar so gewesen, damals bei dir und meiner Mutter. Ist das etwa heute immer noch so? Binde ich María so stark an mich, weil ich nichts anderes mehr habe? In gewisser Weise bestimmt. Das ist hart, das über sich selbst zu sagen. Selbst das über sich selbst zu denken ist hart. Ist sie etwa irgendein Ersatz für Nadine? Eine Ersatzbeziehung? Eine Ersatzbefriedigung? (Deswegen streite ich vielleicht auch immer so gerne auf Spanisch mit ihr, wie mit ihrer Mutter früher, fast nie auf Deutsch) So wie ich ein Ersatz für meine Mutter war? Ich möchte gar nicht dran denken… Aber ich glaube, bei meiner Mutter war das anders. Da war ich eher ein Ziehkind, wie ein Hund, so ein braver, kleiner Chihuahua wie der, den sie heute hat. Den sie nach Lust und Liebe kontrollieren, nach Lust und Liebe verziehen kann…nach Lust und Liebe behüten und vor der bösen Welt beschützen kann. Aber ist das nicht das Gleiche? Oder dasselbe? Ich versuche ja auch, sie zu behüten. Trotz Scheidung, trotz Depressionen, trotz mangelnden Sinns. Aber andererseits: Wenn sich ihre Eltern schon scheiden lassen, dann soll sie das wenigstens nicht in ihrer vollen Härte abbekommen. Das ist doch etwas Gutes. Oder nicht? Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.

Obwohl: Mütter haben es da auch einfacher. Die können noch immer mit ihren erwachsenen Töchtern kuscheln...