Eines Tages Ende
Mai, die Sonne scheint, die Sonne brennt, gestern waren es 35 Grad, viel zu
viel, wie immer viel zu extrem alles in Deutschland, viel zu deutsch…
Eines Vormittages
Ende Mai, die Steuererklärung ist fast fertig, er ist fast fertig…
…entschließt er
sich, dass es so nicht mehr geht…
…dass es so nicht
mehr weitergehen kann…
…dass er diese
Wärme braucht…
…diese menschliche
Wärme, die sie ihm genommen hat…
…dass er sie
verloren hat…
…für immer…
…und nicht mehr
trauern kann…
…nicht mehr heulen
kann…
…nicht mehr jeden
Tag traurige, spanische Indie-Lieder hören kann…
…es ist genug…
…er hat genug…
…gelitten…
…für ein ganzes
Leben lang…
…nur gelitten…
…vermisst…
…geliebt…
…vermisst…
…getrauert…
…um die, die nicht
sein können…
…niemals sein
werden…
…niemals mehr sein
werden…
…die er verloren
hat (wen interessiert da schon noch, wer daran schuld war)…
…für immer…
Aber er braucht
jetzt Wärme…
Wärme, die er in
diesem Land nur durch die Sonne kriegen kann…
…die fast nie
scheint…
…außer heute…
Er kann nicht mehr
Er kann nicht mehr
leiden
Nicht mehr lieben
Jemand lieben, der
ihn nicht will
Der ihn nicht mehr
will
Der ihn
weggeworfen hat
Wie Dreck
Du bist noch nicht
mal das Schwarze unter den Fingernägeln wert
Kein Wort
Tot
Er kann nicht mehr
tot sein
Er will leben
Will lieben
Er hat lange genug
gewartet
Er will wieder
Wärme
Wieder eine
Schulter an seiner Seite
An der er sich
ausheulen
An die er sich
lehnen kann
In guten und in
schlechten Zeiten
Er will leben
Quiero vivir
De puta madre
A lo bestia
Como debe ser
Wie ich sein muss
A lo bestia
Wie dieses
Mädchen, Mitte 20, nachts in Barcelona, vor der Disko, mit ihren Freundinnen,
die es in die Nacht hinausgeschrien hat: ¡Quiero
vivir!
Ich will leben
Hier sterbe ich
Hier bin ich schon
mal gestorben
Damals, als ich
aus Aberdeen wiedergekommen bin, nach Deutschland
Nicht in Spanien
geblieben bin
Aus Angst
Du bist zu alt, um
Angst zu haben
Habe viel zu viel
Angst, weil ich zu alt bin
Und da er nicht
mehr kann…nicht mehr will…nicht mehr warten kann/will…öffnet er Facebook, geht
auf das Bookmark…zögert eine Sekunde nachdem ihre Seite auf dem Bildschirm
auftaucht
er ist ja jetzt
frei, er kann machen, was er will
sie will ihn ja
nicht mehr
hat ihn entsorgt
als Ehemann und Vater
Er weiß nicht
genau, was er schreiben soll, denkt darüber nach
Einen Link zu
seinem Blog, zu der Seite seines Blogs, die er „Vergangenheit“ getauft hat und
ein einfaches ¿Te acuerdas? Mit
umgedrehten Fragezeichen. „Erinnerst du dich?“, „Weißt du noch?“, „¿Te acuerdas de Aberdeen?“, Erinnerst du
dich an Aberdeen?
Natürlich tut sie
das, das weiß er
Denn er hat ihre
Internetseite vor ein paar Wochen, Monaten, Tagen entdeckt. Die erste Seite,
nach der er auf Facebook gesucht hat. Nach ihrer Seite konnte er ja nicht
suchen, durfte er ja nicht suchen, wollte er ja nicht mehr suchen
Also war sie die
Erste, nach der er gesucht hat
Oder ein einfaches
Hola. Nein, das reicht nicht.
Er hätte sie nie
verlassen sollen, damals. Er ist auch ein Verlassender, ein dumper. Er ist nicht besser als sie.
Aber er hatte seine Gründe. María. Die damals noch ein Baby war. Jetzt ist sie
18. Und er kann nicht ewig warten…
…kann nicht ewig
auf ihre Mutter warten…
…in diesem Land…
…ihre Mutter, die
nicht zurückkommen wird, das hat sie selbst gesagt…
…das hat María
selbst ihm gesagt, als sie gesagt hat: „Die Mama kommt nicht wieder…“
Das war nicht ihre
Schuld. Damit hatte sie nichts zu tun. Wenn überhaupt, dann har sie sie
zusammengehalten, all die Jahre. Und trotzdem hat sie es auf sich genommen, ihm
das zu sagen. „Die Mama kommt nicht mehr wieder.“
Wollte er natürlich
glauben, damals
Jetzt glaubt er es
ihr
Jetzt weiß er,
dass sie die Wahrheit gesagt hatte
Die Wahrheit ist
hart
Aber das Leben
muss weitergehen. Er muss sich etwas anderes suchen
Er fängt an zu
tippen: Hola. ¿Te acuerdas de eso? ¿Te
acuerdas de Aberdeen? Und dann der Link zu seinem Blog: https://stirboderschreib.blogspot.de/.
Aber er macht den Link wieder weg. Und setzt stattdessen den anderen Link ein: https://stirboderschreib.blogspot.de/p/blog-page_22.html.
Der, der zu der Vergangenheit führt. In die Vergangenheit. Den macht er aber
auch weg. Und setzt stattdessen den Link ein, der zu der spanischen Version der
Vergangenheit führt: https://stirboderschreib.blogspot.de/p/en-espanol.html.
Ja, das ist es: En español. Mit „ñ“.
Und erschreckt
sich vor sich selbst. Vor seinem eigenen Mut. Seiner eigenen Verzweiflung.
Seiner eigenen Sehnsucht, nach Wärme, ein bisschen Wärme auf diesem kalten
Planeten.
Sie wird ihm das
südamerikanische Spanisch verzeihen. Vielleicht
Sie wird sich
erinnern…dessen ist er sich sicher