Freitag, 12. Mai 2017

Wärme
















Es ist dieses Gefühl der Wärme, dass ich so vermisse, denkt er auf dem Weg nach Hause. Schon allein das Wort "nach Hause" ist nicht das richtige Wort. Das ist nämlich nicht sein „Zuhause“. Sein Zuhause ist immer noch in Duisdorf mit ihr, all die ganzen Jahre. Du kommst „nach Hause“, ins Nichts deiner Wohnung, schließt die Tür hinter dir ab und da ist niemand. Keine Menschenseele. Nichts kann dieses Gefühl der Wärme ersetzen, dass sie – trotz allem, trotz allen Streitigkeiten, trotz aller Unzufriedenheit – in dein Leben gebracht hat. Es war nicht perfekt mit ihr, aber es war besser als das hier.
Das hier ist ein riesiges, schwarzes Loch, was alles um sich herum in sich hineinzieht, um es nie wieder auszuspucken. Wie eines dieser Wurmlöcher. Nur dass man nicht in die Vergangenheit beziehungsweise in eine bessere Welt abtaucht, sondern ins Nichts. In dieses Nichts. Wo nichts dabei hilft zu vergessen, zu verzeihen Du kannst ich gleich mit Frikadellen vollballern so viel du willst, du wirst nie dieses Gefühl der Wärme erreichen, dass du damals mit ihr hattest, in dem Moment, in dem du Zuhause eintratest. Du kommst nach Hause und sie steht da am Herd und kocht (ich weiß, dass ist jetzt nicht gerade ein frauenfreundliches Bild, vielleicht lag es ja genau daran, dass sie gegangen ist, aber egal). Oder das Essen steht schon auf dem Tisch, warm und auf ihre eigene ecuadorianische Art zubereitet. Die vielleicht nicht immer Sterneküche war, aber dir immer geschmeckt hat. Du gibst ihr einen Kuss und redest mit ihr. María kommt zu euch, setzt sich zwischen euch, erzählt auch etwas. Du hast auch damals mehr gegessen als du hättest tun sollen, aber das war Genuss. Heute das ist nur noch Stopfen. Die Leere vollstopfen, so dass sie für ein paar Stunden nicht ausbricht, nicht an die Oberfläche kommt. Aber sobald das Essen aus dem Weg geräumt ist, kommt sie wieder. Unerlässlich. Immerfort. Nichts hält die Leere auf. Nur Nadine stand zwischen dir und der Leere. Und jetzt, wo sie weg ist, sind der Leere Tür und Tor geöffnet. Sie durchflutet förmlich dein gesamtes Wesen. Du allein hast ihr nichts mehr entgegenzusetzen.

Ach hätte ich sie doch bloß besser behandelt, hätte ich irgendetwas, egal was getan, um sie zu halten, sie festzuhalten, sie bei mir zu halten. Aber manchmal kann man nichts machen. Das hast du in diesem Artikel gelesen, in der Bild, die immer noch die einzige Zeitung ist, die du liest. Neben deinen ganzen Romanen. Deinen ganzen traurigen Romanen. Manche Menschen sind von der Natur darauf programmiert, ihre Partner zu verlassen. Und da kann man gar nichts gegen machen. Nichts in der Welt hält diese Menschen auf, wenn sie gehen wollen. Wenn Nadine nun so ein Mensch war… Dann kannst du nichts dagegen tun. Nichts. Egal wie sehr du dich anstrengst, sie hätte dich sowieso verlassen. Das ist hart, aber so ist das Leben. Man kann nicht alles im Leben kontrollieren. Eigentlich kann man fast gar nichts im Leben kontrollieren. Man macht es sich nur vor, man bildet es sich ein; dass man die Kontrolle und dann…

Deswegen isst er auch so viel. Um die Leere zu füllen. Er hat sich jetzt von 32 auf Jeansgröße 38 hochgefuttert. Und das trotz gelegentlichen Sports. Obwohl er gestern drei Stunden durch die Nacht gelaufen ist, fast schon geirrt. Auf der Suche nach was… Vielleicht bräuchte er eine Ersatzdroge. Eine neue zweite Nadine, vielleicht sogar eine verbesserte Nadine. Eine, die nicht genetisch auf Verlassen und Vernichten programmiert ist. Aber er will nicht. Er will keine neue Frau. Die arme Frau, er könnte mit ihr nie wieder diese Wärme aufbauen, die er Die Leute sagen immer, man findet das wahre Glück nur in sich selbst, in der Erfüllung seiner eigenen Identität und nicht in anderen. Das mag stimmen. Aber wie soll man sich selbst wärmen? Sich selbst Wärme geben? Wärme, die aus dem Nichts entsteht. Die 68er haben mehr kaputtgemacht als das sie Gutes getan hätten. All diese Individualisten. Die im Endeffekt doch nur Einsamkeit propagiert haben. Egoismus. Den Wegfall der Familie.

Jetzt ist nur noch María da. Und die ist weiß Gott kein Ersatz für Nadine. Soll sie auch nicht sein, in ihrem Alter. Das ist auch gar nicht ihre Aufgabe. Sie ist deine Tochter, geht bald aus dem Haus und ist in einem Abschnitt ihres Lebens, wo man das Leben genießen sollte. Sich vom Leben treiben lassen sollte. Nicht sich von dem dead weight eines Vaters herunterziehen lassen sollte, für den es wahrscheinlich eh keine Lösung mehr gibt. Keine Erlösung. Mit seinen 40 Jahren.

Wie hat das dein Kollege gesagt: „Das ist halt so. Der Lauf der Dinge. Irgendwann werden die flügge und dann…“

Ich weiß das. Ich weiß das auch, aber ich brauche Halt. Ich suche verzweifelt nach irgendetwas, das mich davon abhält, endgültig abzutreiben, abzudriften, endgültig von dieser immensen, unendlich großen Leere aufgesaugt zu werden.

First you got to know, not feel, that one day you’re going to die…

Ich bin wie der Vater bei Knausgard, der Vater von Knausgard, den nach dem Weggang seiner Ehefrau nichts mehr am Leben, der am Ende als Alkoholiker in der total verdreckten Wohnung seiner Mutter stirbt. Weil sie ihm Halt gab und als sie ging, gegangen wurde dieser Halt nicht mehr da war. Manche Menschen brauchen das: Halt.

Den kannst du nicht von María erwarten, den kann sie dir nicht geben. Vielleicht einmal später oder jetzt (wer weiß, wer weiß) ihrem Freund. Aber nicht dir, ihrem Vater. Das ist der Lauf der Dinge, das ist die Natur der Dinge, die menschliche Natur. Und eine neue Nadine gibt es auch nicht. Deine Seele hat sich verbrannt und scheut das Feuer. Die warmen Flammen der Leidenschaft, die verbrennen, aber auch Wärme spenden können. Deine Seele leckt ihre Wunden. Wie lange noch, das weißt du nicht. Du hast immer lange gebraucht, um so etwas zu verdauen, um mit Verlust umzugehen. Das war schon bei Concha so. Wie viele Jahre waren es da? Und das bei nur drei Monaten Beziehung! Wie lang soll das denn bei 19 Jahren dauern. Bis an dein Lebensende. Du fürchtest es fast. Du bist kein Optimist, du kannst dich nicht selbst belügen.

Wie ein Roboter gehst du raus, jeden Tag, um zu arbeiten. Selbst am Wochenende. Aber wenn die Wärme fehlt, dann bringt das auch nichts. Dann macht das auch keinen Sinn. Dann stellt man sich immer wieder die Frage: Wozu? Wozu eigentlich? Dann hat man keine Motivation, sich etwas Besseres zu suchen. Obwohl das jetzt, im Moment tiefster Verunsicherung und Einsamkeit genau das Richtige wäre. Um neu zu beginnen, einen Neuanfang zu starten. Aber genau das macht man genau jetzt nicht. Und wird man gefickt. Von allen Seiten. Immer wieder. Von hinten. Von hinten in den Arsch rein. Und das ist nicht wie das warme Gefühl zwischen ihren Beinen von damals. Das ist genau da Gegenteil. Ein kalter, herzloser, gnadenloser, brutaler Arschfick. Ohne Gnade und Vaseline. Dann lässt man sich gehen. Und weiß instinktiv, dass es eh schon zu spät ist

Und auf einmal hat er trotz Baguette und zwei Dinkelbrötchen von Kamps keinen Hunger mehr.