Dienstag, 9. Mai 2017

Das arme Deutschland













Larson steht in der Spielhalle hinter der Theke und spült Tassen. Plötzlich kommt dieser Typ in die Halle. Der Künstler... Das sagt eigentlich schon alles. Aber der ist wirklich ein Künstler. Der hat ein Atelier gleich hier in der Nähe, in diesem Hinterhof. Er hat ihn sogar mal dahin eingeladen, hat gesagt, er sei die ganze Nacht wach und er könne kommen, wann er wolle; aber dann, am Ende, ist er doch nicht hingegangen. Obwohl er am Anfang nicht abgeneigt war. Das war kurz nach der Trennung. Wo er noch Redebedarf hatte. Akuten Redebedarf. Hat er den nicht immer noch?! Ja, aber jetzt ist das anderer Redebedarf als damals, direkt nach der Trennung. Damals, wo er sich von dir zwei Euro geliehen hat, die er erst vor kurzem, fast ein Jahr später zurückgezahlt hat.


„Du schuldest mir noch zwei Euro! Ich vergesse nie. Ich bin da wie ein Elefant...“, hast du zu ihm gesagt und er hat die zwei Euro tatsächlich direkt beglichen. Hättest du nicht gedacht.

Und heute ist er wieder hier. Eigentlich findest du ihn nett. Er ist so ein bisschen verplant (genau wie du), er mag die Kunst (genau wie du) und er versucht anders zu leben (genau wie du). In Deutschland versucht er anders zu leben! Das alleine ist schon...

Er setzt sich an die Theke und sagt: "Hallo".

„Hi. Willst du einen Kaffee?“

Er guckt dich mit großen, ein bisschen entgeisterten Augen an, sagt: „Ich hab kein Geld

„Ist egal. Ich geb dir so einen. Kein Problem.“

„Ok.“

„Einen Kaffee oder einen Cappuccino? Hab ich auch.“

„Einen Cappuccino dann.“

Er stellt die Tasse vor ihm auf die Theke.

„…und was macht die Kunst? Bist du schon berühmt? Bist du schon Millionär?“

„Nichts. Nein, ich bin eine Wohnung am suchen. Ich muss aus meinem Atelier raus. Eigentlich weiß ich das schon seit drei Jahren. Und dass ich raus muss schon seit letztem Jahr. Aber jetzt Ende dieses Monats muss ich definitiv raus.“

„Scheiße! Du wohnst ja auch da, ne?!“

„Ja, ich bin da gemeldet. Die haben mir schon das Gas und den Strom abgestellt.“

Erst jetzt bemerkt er seine zerzausten Haare. Die hat er eigentlich immer schon so gehabt, deswegen sind die mir nie aufgefallen. Aber jetzt, wo er das sagt…

„Ich wasche mich im Moment auch nur kalt, mit einem Gartenschlauch…“

Ach, du Scheiße.

„Ach, du Scheiße.“

„Ja, und man findet nichts. Wenn man nicht viel verdient…“

„Wem sagst du das?!“ Er hat auch gerade erst eine Wohnung gefunden. In Meckenheim! Auch außerhalb. „Das ist die Hölle…im Moment...ich bin ja auch gerade erst umgezogen, nach Meckenheim...“

„Meckenheim?“

„Ja. Warum probierst du es nicht mal außerhalb? Im Rhein-Sieg-Kreis. In Bonn ist echt schlimm, im Moment...“

„Kann ich nicht. Das haben die mir gesagt, dann krieg ich kein Hartz-IV mehr

„Scheiße. Weil in Bonn, da ist alles sowas von teuer…“

„Ich weiß. Aber wahrscheinlich wollen die, dass ich erst auf der Straße lande…dann müssen die mir gar nichts mehr zahlen. Wenn ich auf der Straße bin, kriege ich kein Arbeitslosengeld mehr

Scheiße, Mann.

„Was soll ich dazu sagen?! Ich weiß, was du meinst. In Bonn ist das echt die Hölle…mit den Wohnungen.“

„…und jeder Medizintourist kriegt einfach so eine Wohnung. Die schnappen uns die ganzen Wohnungen weg! Und ich steh dann auf der Straße

Plötzlich regt er sich richtig auf, wird richtig sauer.

„Ja, kannste nix machen“, sagt Larson hinter der Theke, ein bisschen leiser. Denn direkt hinter ihm spielt James, der Ägypter an dem Automaten (natürlich ist "James" nur ein Spitzname, nicht sein echter Name - aber wenn er so genannt werden will...). Und der lebt von besagten Medizintouristen aus dem arabischen Raum. Er nimmt den Finger vor den Mund, um ihm anzudeuten, dass er ein bisschen leiser sein soll. Denn die Halle ist gerade voll von Medizintouristen aus dem arabischen Raum! Aus Dubai, Saudi Arabien, Katar, you name it…

Aber das macht ihn nur noch wütender.

„Das ist so eine Scheiße hier Jeder Flüchtling kriegt eine Wohnung, kriegt Geld, kriegt alles…“, sagt er jetzt richtig laut. Schreit er fast, so verzweifelt ist er aufgrund des Verlustes seines geliebten Ateliers. In dem er wahrscheinlich schon jahrelang lebt und arbeitet. Jahrzehntelang. Was ist schon ein Künstler ohne Atelier?! Ein Künstler auf der Straße?! „Ich bin allein erziehender Vater...", fängt er plötzlich wieder an, "...meine Frau verlässt mich 2009, weil sie einen Millionär heiratet und jetzt bin ich fast auf der Straße. Ich hab zwar diesen Dozenten-Job an der Uni, aber das ist nur einmal die Woche..."

Scheiße.

Er schüttelt den Kopf. „Wo kommst du denn her? Ich meine ursprünglich?“ Erst scheint er ihn nicht zu verstehen, dann kapiert er es doch. Denn obwohl er fast perfekt Deutsch spricht, hat er immer noch diesen leichten Akzent. Wie so ein Tscheche oder so. Oder ein Pole. Keine Ahnung. Er würde auf Osteuropa tippen.

„Ich? Ich komme aus Finnland. Bin schon seit 1981 hier in Bonn. Bin gut integriert, spreche die Sprache, alles! 36 Jahre bin ich jetzt hier! Aber uns Europäer, die machen die platt. Die interessieren die nicht. Aber die Flüchtlinge, schon, die reichen Araber. Das ist so Scheiße

Er schreit jetzt fast, brüllt es jetzt fast raus, viel zu laut, so dass Larson diskret versucht ihn zu beruhigen. So dass keiner was mitbekommt... Wenn James das hört, wird er nachher noch sauer. Und sein „reicher“, „arabischer“ Kumpel und „Medizintourist“ hat heute hier schon so viel Geld verballert. Das würde locker reichen, um dem ein neues Atelier anzumieten. Was hier am Tag umgesetzt wird… Das ist schon obszön

Larson nimmt den Finger vor den Mund, deutet ihm mit einer Geste an, dass er leiser reden soll. „Pssst!“

Aber er denkt gar nicht dran. Also sagt er: „Und nach Finnland kannst du nicht zurück? Das ist doch in relativ gutes Land. Ein wohlhabendes Land. Hast du da keine Verwandten…?“

„Nein, leb du mal da, mit acht Monaten Winter

Da wird man depressiv, das stimmt… Das hat er schon öfter über die skandinavischen Länder gehört. Wenn es da nicht richtig hell wird, im Winter

Er zeigt aufs Fenster nach draußen, wo der Himmel mal wieder grau ist. „Hat man doch hier auch. Acht Monate Winter!“ Er lacht, aber er bleibt ernst, sagt:

„Minus 42 Grad! Minus 42 Grad wird es da

„Ok. Wo kommst du denn her? Aus dem Norden? Aus dem hohen Norden? Oder aus dem Süden?“

„Ne, aus der Hauptstadt. Aus Helsinki.“

„Ach so.“

„Ich war ja auf dem Amt, hab das denen erklärt    “, fängt er wieder an, wieder viel zu laut.  „Im Februar habe ich den Antrag gestellt! Im Februar! Und jetzt teilen die mir mit, dass ich da noch was brauche. Noch das und das und das

„Ich weiß..."

Ich weiß, wie das ist...

„Die sind wie die Maschinen. Die interessiert das gar nicht

„Die verdienen ja genug! Die haben ihre Rente ja sicher…“

„Wie die Roboter. Denen ist das scheißegal“, sagt er jetzt ganz wütend, ganz laut.

Ist halt Deutschland, will Larson ihm sagen, um ihn wenigstens ein bisschen zu beruhigen, aber er kommt gar nicht dazu, denn der Finne legt schon wieder los.

„Wie die Roboter, keine Gefühle! Niemand hier hat mehr Gefühle! Wie die Maschinen! Ob man obdachlos wird ist denen egal! Das wollen die auch! Dann müssen die gar nichts mehr zahlen       , motzt er rum.


„Und jeder Scheiß-Araber, jeder Scheiß-Flüchtling, jeder Medizin-Tourist kommt hier hin und kriegt eine Wohnung“, schreit er durch die ganze Halle.

Jetzt ist es James zu viel. „Leise da!“, sagt er bestimmt über die Schulter, zischt er fast.

„Aber ist doch wahr...“, sagt der Finne, dessen Namen er noch nicht mal kennt. Bis heute wusste er noch nicht mal, dass der Finne ist.

„Wir Europäer sind nur noch Dreck, wir sind Scheiße für die…die haben keine Gefühle, denen ist das scheißegal. Müll. Die entsorgen uns

Er steht auf, versucht hastig seine Jacke vom Barstuhl zu ziehen, was ihm am Anfang nicht gelingt. Fast reißt er sogar den Hocker noch um. „Ich geh ja schon. Keine Gefühle! Wie die Maschinen!“ 

Die Araber gucken schon. Gucken schon rüber zur Theke. Der Dünne kommt sogar schon aus dem hinteren Teil der Halle…

Aber der Finne ist schon weg. Geht an ihm vorbei und geht hinten aus der Halle raus. In Richtung des Ateliers, das im bald nicht mehr gehören wird. In dem er eine Zeit lang sogar mit seinem Sohn gewohnt hat. Der auch Künstler ist. Wie er.


„Was hat der?“, fragt James kurz danach mit einem verdutzten Blick.

„Weiß nicht. Der muss aus seinem Atelier raus. Weißt du doch, der wohnt da auch. Da hinten.“ Er zeigt auf den Hinterausgang.

„Ja, weiß ich.“

Und dann sagt er: „Ah...“ Mit einem mitfühlenden Blick. So als würde er ihn wirklich bedauern.

„Da wohnt der ja schon seit Jahren…“

„Der Arme…“

Und obwohl der Finne seiner Meinung nach Recht hat, absolut Recht hat, mit dem, was er sagt, ist ihm sein Auftritt peinlich.

Warum ist uns eigentlich das Leid anderer, das so offensichtliche, so offensichtlich zur Schau gestellte Leid anderer immer so peinlich? Warum können wir nicht einfach versuchen, ihnen zu helfen, ihr Leben ein bisschen besser zu machen



"Der ist Finne!", sagst du zu James. "Musst du dir mal vorstellen! Ein Finne! Wenn die Finnen schon durchdrehen