Montag, 29. Februar 2016

Geborgenheit


27.02.16





Am Samstagabend sitze ich nach der Arbeit im Bus nach Hause und höre Taylor Swift. Ist schon komisch, dass ich seit der Trennung fast nur Frauen höre. Zuerst Adele (die für Trennungsschmerz natürlich wie geschaffen ist – wer schon, wenn nicht sie?) und jetzt Taylor (die Adele in nichts nachsteht). Ich sitze auf dem Vierer im vorderen Bereich des Busses, weil mir irgend so ein Spasti den Einzelplatz gegenüber vom Fahrer weggeschnappt hat. So ein komischer Typ mit hoher Stirn und Mantel. Und rosa Sporttasche. Geil, ne?! Ein Vogel eben.

Und so muss ich mit dem Vierer Vorlieb nehmen, wo sich bestimmt gleich irgendjemand mir gegenüber hinsetzt. Irgendein Arschloch. Nie die Sexiest Woman Alive. Immer irgendein Arschloch. So ist das eben im Leben. Ich drehe den MP3-Player lauter, dann wieder leiser. Nicht, dass die das hören können. Dass ich hier Taylor höre. Aber ihre Musik ist einfach zu gut. Und ihre Texte…

…Trennungsschmerz pur! A bitter sweet symphony!

Und schon ist es passiert. Erst setzt sich ein Mädchen – ein Mädchen – mir gegenüber hin und dann folgt auch noch ihr Freund. Beide Emos. Oder Goths oder wie auch immer man die heute nennt. Im Sofa, dem Club neben dem Busbahnhof war heute auch irgend so was. Darkest Night Ever oder irgend so ein Scheiß. Keine Ahnung, wie die Scheiße heißt, aber das hast du eben, auf dem Weg zum Bus, schon gesehen. Alles schwarze Gestalten. Da warst du auch mal, direkt nach der Trennung. Das passte damals zu deiner Stimmung. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Nur, dass du da nicht mehr hingehst. Da hatte ich eh keine Chance. Und nachdem ich an Neujahr fast mein Leben ausgekotzt und gekackt habe, hab ich da im Moment auch keinen Bock mehr. Vielleicht versuche ich es noch mal in zehn Jahren. Wer weiß.

Und jetzt sitzt dieses junge Emo-Pärchen mir gegenüber. Egal. Immer noch besser als irgendwelche „Ich-schwöre-bei-Gott-Besoffenen“. Wenigstens können die Emos sich benehmen, egal wie die nach außen hin aussehen. Du hast dich sowieso schon immer gefragt, ob das bei denen nur Schau ist oder ob die Emos wirklich das Leben und den Tod schärfer sehen als andere und sich deswegen so kleiden. Oder ob es eben nur eine Mode ist. Er hat eine grüne Bierflasche – Becks wahrscheinlich – in der einen Hand und legt den freien Arm um sie. Sie ist total fertig. Keine Ahnung, ob das der Alkohol ist oder ob sie Drogen genommen hat.

Oder der Typ hat der was ins Glas getan, in der Disko, und fährt die jetzt zu sich nach Hause, wo er dann über sie herfällt.

Nein, Mann, was denkst du denn schon wieder?

Das ist der Sexentzug.

Oder sie ist krank.

Sie hustet.

Scheiße, sie hustet. Genau in meine Richtung. Wo soll sie auch anders hin husten, wenn ich ihr genau gegenüber sitze?!

Ich drehe meinen Kopf leicht zur Seite – in einem verzweifelten Versuch, einer weiteren Hustenattacke aus dem Weg zu gehen. Es grassiert schließlich im Moment die Grippe. Nicht, dass sie nicht unter Drogen steht oder müde ist, sondern krank. Er sagt irgendwas wie „Du zitterst ja“ und ich horche erst recht auf. Drehe meinen Kopf noch weiter zur Seite. Aber wie weit kann man seinen Kopf schon drehen. Auf jeden Fall keine 180 Grad. Das wär jetzt echt das Beste. Aber so geht nur eine 90 Grad Drehung zur Seite. Hoffentlich hört sie auf zu husten.

Aber schon ist sie wieder dran. Ein kleines, aber deutlich hörbares Hüsteln. Scheiße. Einen Moment lang überlege ich, ob ich mich doch woanders hinsetzen soll oder zumindest mir das Buch vor die Nase halten kann, so dass sie mich wenigstens nicht direkt anhusten kann. Aber dann lasse ich es. Und sie kriegt sich auch ein, hustet nicht mehr und versucht stattdessen zu schlafen. Der Typ legt die Hand ohne Bier um sie. Er hat ein fettes Tattoo auf dem Handrücken. Scheiße, Mann. Seine blonden etwas längeren Haare sind auf einer Seite seines Schädels komplett kahl rasiert. Zwischen seinen Beinen steht eine Gitarre in ihrer schwarzen Tasche. Liebevoll breitet er ihr einen Schal als Kissenersatz aus. Männer sind eben die wahren Romantiker, während Frauen…nur an Geld denken. Und gegen mein Knie stoßen, während sie ihren Körper hin und herschieben, um die richtige Schlafposition zu finden.

Einen Moment lang denkst du: Nicht, dass die mir gleich noch in den Schoß kotzt. Das wär dann doch zu viel des Guten. Sie riecht schon ein bisschen nach Alkohol.

Die Alte ist besoffen. Eindeutig.

Am Ende entscheidet sie sich dann dafür, dass der Platz unter seinen der bequemste ist und schließt sogar die Augen. Muss Liebe schön sein…

Er nimmt seine Hand, an deren Mittelfinger ein schwerer Metallring prangt, streichelt zärtlich ihr Haar, während der Bus den Venusberg hinauffährt (der heißt übrigens wirklich so, das ist keine Metapher). Ich kann gar nicht hingucken, tue es aber trotzdem. Wie er ihre Haarsträhnen zwischen den Fingern durchgleiten lässt, immer und immer wieder. Männer sind die wahren Romantiker. Und als wollte er meine These bestätigen, küsst er sie genau in diesem Moment zärtlich auf die Stirn. Sie erwidert seinen Kuss im Halbschlaf.

Du guckst nach draußen. Das kannst du nicht mehr ansehen. Schrecklich. Diese Zärtlichkeit, diese Geborgenheit. Und trotzdem versäumt er es nicht, sich auch noch einen Schluck aus seiner Bierflasche zu gönnen. Draußen ist alles dunkel. Von den Lichtern der Stadt ist fast nichts mehr zu sehen, hier oben im Wald. Dir bleibt nur die Dunkelheit, während er immer wieder ihre Haare streichelt. Fast rhythmisch. Das hast du früher auch so gemacht, bei Nadine. Wie du ihr damals immer über das Gesicht gestrichen bist, mit der Hand. Immer wieder. Du konntest nicht genug von ihrer Zuneigung kriegen. So viel, dass es ihr schon fast lästig wurde. Lästig war. Am Valentinstag. Das weißt du noch, das wirst du jetzt ein ganzes Leben lang mit dir rumschleppen. Als Ballast. Du hast ja breite Schultern. Jetzt, wo du zum Zuschauen verdammt bist, hier im Bus. Wo du dasitzt und nur zusehen kannst ein anderer, fremder Mann einer anderen, fremden Frau die Geborgenheit, die Berührung schenkt, die dir so fehlt. Es ist nicht der Sex, es ist die Berührung, die Liebkosung. Der Sex natürlich auch. Aber auch das Miteinander. Das Füreinander-Dasein.

Dir bleibt nur die dunkle Nacht. So warst du auch mal, mit Nadine. Früher. Nur, dass sie fast nie so betrunken oder so groggy war wie die. Nur einmal, an Neujahr, wenn man mal von der Hochzeit in Ecuador absieht (nein, nicht deine!). Damals hatte sie Streit mit dir. An Neujahr. Eurem Jahrestag. Keine Ahnung der wievielte das damals war. Auf jeden Fall hat sie sich damals aus irgendeinem Grund so richtig zugekippt. Dafür brauchte sie nicht viel Alkohol. Bei 1,50 m. und 48 Kilo. Das hat sie sonst nie gemacht, keine Ahnung, warum sie damals so die Kontrolle verloren hat. Vielleicht war sie ja genauso frustriert wie du. Bestimmt. Du musstest sie sogar nach Hause tragen hattest Angst, dass sie in den Bus kotzt. Soweit ist die Emo-Tante dir gegenüber noch lange nicht, soweit wie Nadine damals. Dieses eine Mal war sie besoffen, dann warst du es, der sich jedes Mal, wenn ihr zusammen rausgegangen seid, einen hinter die Binde gekippt hat. Jedes Mal. Besser wurde es dadurch nicht. Im Gegenteil. Denn allmählich wurde ihr dein dauerndes Frustsaufen zu viel.

Wann ist die Zärtlichkeit verloren gegangen? Die Liebe? Bei dir noch immer nicht. Bis heute nicht. Aber bei ihr.

Du guckst dir das Mädchen genauer an. Wie sie da sitzt, an seine Schulter gekuschelt. Diese Geborgenheit. Diese Geborgenheit, die du nicht mehr hast. Du, der du auf die zu einem stumm leidenden Beobachter degradiert worden bist. Ein Zuschauer in ihrer Welt. Ein Spanner. Wirst du sie je wieder selbst spüren, diese Geborgenheit, mit irgendeiner Frau, nachdem deine dir so das Herz gebrochen hat? Sie trägt einen dicken, schwarzen Mantel. Ihre Haare sind schwarz gefärbt und ihr Gesicht ist ganz weiß. Ich weiß nicht, ob sie sich so geschminkt hat oder nicht, aber die Haare sind auf jeden Fall gefärbt. Echt sind die nicht. Ihr Gesicht ist schön, jung, verletzlich…so verletzlich, ihre Gesichtszuge sanft. Sie sieht eigentlich richtig gut aus unter ihrer harten Emo-Schale, ihren pechschwarz gefärbten Haaren, ihrem Mantel, den ganzen Schnallen, die die immer haben. Und einem ebenfalls schwarzen Minirock. Du traust dich gar nicht hinzugucken, tust es aber trotzdem und siehst ihre Strumpfhose. Ob du ihr unter den Rock gucken könntest? Und was sehen würdest? Zwischen all dem Schwarz? Geil! Vielleicht. Ihren Slip. Die ist bestimmt rasiert. Aber der Typ hält weiterhin schützend seine Hand über sie. Dafür sind Männer ja auch da. Oder nicht?! So romantische Männer wie der und er.

Wer wohl jetzt seinen Arm schützend über Nadine hält? Jetzt, genau in diesem Moment. Oder liegt sie mit Nadine im Bett, warm neben ihr, mit diesem Körper, der so unglaublich warm ist. Nur mit einer Unterhose bekleidet, aus der an der Seite neckisch ihr Schamhaar rausguckt. Diese eine Strähne, die sie hatte. Und nicht auf dem Kopf.

Und dann reißt dich das Tattoo des Typen aus dienen Gedanken. Dieses fette Tattoo, das fast seinen gesamten Handrücken bedeckt. Krass. Das sieht fast aus…als wär das ihr Gesicht. Als hätte der sich ihr Gesicht auf den Handrücken tätowieren lassen. Krass. Du hast immer nur davon geredet, dir Tattoos von deiner Frau und deine Tochter auf verschiedene Körperteile tätowieren zu lassen. Das könnte echt sie sein. Geil! Was für ein Mann! Und sie so schön, so verletzlich, wie sie schläft.

Mittlerweile sind wir schon fast in Ippendorf. Hoffentlich steigen die vor dir aus, du willst sie auf keinen Fall wecken. Aus ihren süßen Träumen. Wer weiß.

Und schon biegt der Bus um die letzte Kurve vor der langen Geraden, auf der sich auch deine Haltestelle befindet. Jetzt wird es aber knapp. Aber sie steigen tatsächlich noch vor dir aus. Um genau zu sein: eine Haltestelle vor dir. Er weckt sie sanft, sie streift sich den Schal über, schließt ihren Mantel und erhebt sich langsam von ihrem Platz. Ein letzter Blick auf ihren Rock und sie ist weg. Verschwindet in der Hand. Ihr steigt nicht zusammen aus. Natürlich nicht. Wir steigen nicht zusammen aus. Du bist ja ohnehin nur ein stummer Beobachter des Lebens der Anderen. Derer, die noch eins haben. Während du schon lange den Geist aufgegeben hast. Sie sind weg und du hast kaum Zeit darüber näher nachzudenken, denn du musst ebenfalls an der nächsten Haltestelle raus.

Fast genau in dem Moment, in dem du aus der Tür setzt Taylor zu diesem Lied an. Never grow up. Unglaublich! Das Schicksal ist wirklich ein mieser Verräter. Ein Arschloch. Genau wie deine Kollegen, dein Chefin und diese Welt. Aber vielleicht hörst du es ja auch jetzt erst und es lief schon die ganze Zeit. Keine Ahnung. Auf jeden Fall trittst du ganz alleine in die Nacht hinaus und Taylor singt:

Take pictures in your mind of your childhood room…

Aber so schön sie das auch singt, es trifft nicht auf mich zu. Ich kann nirgendswohin zurück. Wohin denn auch? In meine Kindheit? Die war nicht so schön, dass ich dahin zurück wollte.

Diese Geborgenheit, Aufgehobenheit, Geliebtheit, ich habe sie nie gespürt, das ist mir in letzter Zeit immer klarer geworden. Und selbst Geborgenheit, die mir meine Frau gegeben hat, ist vielleicht noch nicht mal echt gewesen. Wer weiß das schon. Sonst hätte sie bestimmt nicht einfach so eiskalt gehen können. Ich bin nachts allein auf dem Weg in meine Single-Wohnung, die an vier Tagen die Woche auch zur Wohnung meiner Tochter wird. Meine Tochter hat also zwei Zuhause.

Taylor, ich hatte immer Angst vor den Schritten meines Vaters, der müde von der Arbeit nach Hause kommt, um mich für etwas zu bestrafen, das ich nicht getan habe, das ihm meine Mutter in ihrem unbedingten Willen mich und meine Aggressivität zu unterdrücken, zu unterwerfen, am Telefon gesagt hatte. Das ist keine schöne Erinnerung, Taylor, es tut mir leid. Es gibt sowieso kein Zurück. Nicht in die Kindheit und auch nicht zu der Frau, die mich verlassen hat. Aber so als könnte sie meine Gedanken lesen hat Taylor auch darauf eine Antwort.

I just realized everything I have is someday gonna be gone.

Ich weiß, Taylor. Nur die Nacht bleibt. Und die kalte, einsame Wohnung. Und niemand außermeiner Tochter, der wir gerade auch ihre Kindheit zerschossen haben, die vielleicht insgeheim die gleichen Gedanken hegt, ohne dass es ihr voll bewusst ist.

So here I am in my new apartment…

…wish I’d never grown up.