20.11.15
Was hat Nadine immer früher
gesagt, als ich ihr vorgehalten hab, dass Conchita wenigstens ehrlich war, als
sie mir unter Tränen beichtete, dass sie als 14-jähriges Mädchen vergewaltigt
worden war.
„Schön blöd…dass sie dir das
gesagt hat!“ In einem ganz abfälligen Ton.
„Ich hätte das nicht
gemacht…“ Oder hat sie Letzteres gar nicht gesagt, sondern du hast es
dazugedichtet?
Wie dem auch sei, eigentlich
hätten da schon Alarmglocken läuten müssen.
Denn selbst nach 19 Jahren
weißt du so gut wie nichts über ihre Vergangenheit in Ecuador oder in
Deutschland, was bei dir zu den wildesten Theorien führt. So bist du eben. Und
das weiß sie auch. Aber das war ihr schon immer egal.
Wer weiß, was für schlimme
Sachen sie hier erlebt hat, als Illegale. Oder was passiert ist, als sie mit 15
von Zuhause abgehauen ist und alleine mit dem Bus nach Guayaquil gefahren ist.
Ihre Version klingt im
Nachhinein ziemlich unglaubwürdig. Sie hat am Bahnhof – oder wo auch immer – eine
Familie getroffen, bei der sie arbeiten konnte, bis ihr Vater sie ab- und
wieder nach Hause geholt hat.
Wer weiß, was da wirklich
passiert ist.
Also, „normale“
Ausreißergeschichten klingen da ganz anders – und das in Deutschland. Wie muss
es erst in einem Drittweltland wie Ecuador sein.
Immer wieder – obwohl du das
gar nicht willst, gar nicht richtig wahrhaben willst – geistert ein Wort, ein
vager Verdacht durch deinen Kopf, der sich genau so wenig rational begründen
lässt wie er sich abschütteln lässt.
Prostitution.
Sexueller Missbrauch.
Du kratzt dich nervös am
Hals, während dir dieses Wort nicht über die Lippen geht. Es ist schon komisch,
aber die Geschichte von ihr und ihrer Schwester in Deutschland klingt genauso
unrealistisch. Die Kirche hat ihr geholfen, als sie ohne alles in Deutschland
angekommen ist. Das glaube ich nicht. Zumindest nicht so richtig. Das ist das
erste, was dir durch den Kopf geht, wenn du darüber nachdenkst. Das dir wie ein
kalter Schauer den Rücken runterläuft. Was ist denn zum Beispiel mit all diesen
komischen Typen, die damals da rumhingen, bei denen Zuhause, am Anfang eurer
Beziehung. Und man hört das doch immer wieder von Südamerikanerinnen, die
alleine nach Deutschland kamen. Das ist alles ein bisschen unglaubwürdig. Und ich
glaube sie weiß, dass ich das weiß. Und schweigt genau deswegen. Um sich nicht
noch tiefer reinzureiten. Weil sie genau weiß, dass ich nicht dumm. Zumindest
nicht so dumm, dass ich ihr all diese
aalglatten Geschichten glauben würde.
Eigentlich glaube ich ihr
gar nichts mehr.
Irgendwas ist da faul.
Tierisch faul. Irgendwas verschweigt sie mir.
Sie verschweigt dir alles,
da sie ja gar nicht mehr mit dir zusammen ist. Also lass endlich die Toten
ruhen. Aber sie ist ja noch nicht tot, denn sie wohnt – sehr lebendig - keine 5
Kilometer von dir entfernt in der Bonner Altstadt.
Prostitution.
Erpressung.
Keine Ahnung, was sonst noch
alles für Dreck.
Pädophilie.
So manche ihrer Reaktionen
waren schon komisch. Zum Beispiel auf diesen Spieler, der immer zu dir kommt.
Wie sie den im Bus gesehen hat. Da hat sie gesagt, dass sie den ekelhaft
findet.
Aber warum ekelhaft?
Oder war es gar nicht
ekelhaft und du bildest dir das alles einfach nur ein.
Ne, ich glaube nicht.
Leider nicht
…
Das hat alles auch irgendwas
mit deiner Arbeit zu tun. Du bist quasi umzingelt von komischen Typen. Nicht
nur die Spieler, auch der Sohn vom Chef und vielleicht sogar der Chef selbst. Komische
Männer. Ich weiß, diese übermäßige Einbildungskraft („Einbildung ist auch eine
Art der Bildung“) habe ich von meiner Mutter, die genauso paranoid war und in
jedem meiner Freunde einen potentiellen Vergewaltiger gesehen hat, aber es gibt
bei Nadine nun mal sehr viele Ungereimtheiten.
Und Leute, die so viel
schweigen, haben auch meistens etwas zu verbergen.
…
Damals auf deiner
Abschlussfeier hat das sogar irgendjemand gesagt. Und deine Schwester hat es
dir postwendend auf die Nase gebunden.
Irgendwas wie: „Der Jens ist
mit einer Prostituierten hier.“
Du hast das damals nicht
verstanden. Und heute eigentlich immer noch nicht richtig. Nadine sah doch
nicht aus wie eine Prostituierte. Wie sieht denn überhaupt eine Prostituierte
aus? Keine Ahnung, du warst noch nie im Puff. Wie sollst du das auch wissen.
Weil sie älter als du war? Weil sie ein lockeres Kleid trug? Wohl kaum. Oder
sah wer auch immer das damals gesagt hat irgendetwas in Nadine, dass du nicht
sahst? Verliebt wie du warst. Das dein Vater sah. Weil er auch nicht der Engel
ist, für den du ihn damals immer gehalten hast.
Ich weiß es nicht und es wird
sich bestimmt nie vollständig aufklären.
Wer kann die Wahrheit schon
vertragen?
Und ich bin mir nicht
sicher, ob du das kannst, trotz deiner Ehrlichkeit, deiner Direktheit in Bezug
auf das Leben.
Wer weiß, was da vorgeht, in
dieser WG, in der María jetzt lebt. Wer weiß, was da in Wahrheit vor sich geht.
Sie ist ja jetzt frei.
Ist sie das wirklich?
Wohl kaum.
Niemand ist wirklich frei im
Leben.
Noch nicht mal Mistah Kurtz.
And
he dead.
In was bist du da bloß
hineingeraten?!
Der Horror, der Horror.
Das Grauen, das Grauen.
The
horror, the horror.
Fuck
Aber so einfach kommst du da
auch nicht mehr raus.
Und vielleicht, nur
vielleicht, gehst du vorher bis zum Grund.
Wer kann die Wahrheit schon
vertragen.
Vielleicht haben ja Conchita
und Nadine mehr miteinander zu tun, als sie bereit sind, sich einzugestehen…
…und haben sich deshalb
damals so innig die Hand gegeben…
Du wirst es nie erfahren.
Oder doch?
Bist du bereit
Aber was hast du zu
verlieren?
Du musst sie irgendwie
beobachten, in ihrer neuen Wohnung. In ihrer „WG“. So, dass sie dich nicht
sieht. Oder du schnappst dir ihre Schwester. Was willst du aus der schon
rauskriegen. Die ist ja noch härter als Nadine.
Aber heutzutage ist das gar
nicht so einfach, bei all den Handys, die so einfach ein Foto von dir schießen
können. Und dann bist du ein Stalker. Ein liebeskranker Stalker. Ein
Verrückter.
Loco.
Du musst endlich handeln. In
welcher Form auch immer. Hauptsache, du handelst. Du machst was.
Du scheißt jemand bei der
Polizei an, bei den Bullen.
Und während dir diese
Gedanken durch den Kopf gehen, und du die dunkle Treppe in den Keller
runtergehst, um auf Klo zu gehen, fühlst du dich hier – in der „Halle“ –
überhaupt nicht mehr sicher.
Irgendwas stimmt da nicht…
Ich weiß…aber es stimmt.
Irgendwas.
Stinkt. Something is fishy. Funny. Und überhaupt nicht „lustig“, obwohl
Lust bestimmt eine Rolle spielt.
Tut sie ja immer.
Du musst Druck ausüben,
denkst du, während du auf dem Klo endlich dem Druck deines Darms nachgibst.
Vielleicht kippen sie ja dann um. Eine nach der anderen. Die andere nach der
einen.
Plötzlich denkst du: wenn
jetzt hier jemand die Treppe runterkommt…
…runterkommen würde…
…ohne dass du ihn hörst…
…oder gerade so, dass du ihn
schon von weitem hörst…
…auf dem Klo
sitzend…drückend.
Wenn jetzt hier einer
runterkommt…
…dann bist du auf dem Klo
gefangen…
…in der Kabine…
Du guckst auf das Schloss
der Klotür, das abgeschlossen ist.aber wenn jetzt jemand käme, dann wäre das
egal, weil du hier nicht rauskommst…
…jemand…
Die Glühbirne in der Kabine
ist kaputt. Schon lange.
Wenn ein Kunde…
…oder noch schlimmer…
…kein Kunde…
Du hast Angst, starrst auf
den schmalen Spalt unter der Tür.
Als ob schon jemand da wäre.
Kann ja nicht, den hättest
du ja gehört.
Wenn jemand unter der Tür
durch greift. Nach dir greift. Nach deinem Block. Weil er deine Gedanken
gelesen hat.
Du horchst in das Halbdunkel
der Kellertreppe und der Herrentoilette hinein. Es ist nichts zu hören.
Ruft da nicht jemand
von oben
Irgendeiner von diesen
komischen Typen…
…mit denen du dich hier
umgibst…
…und denkst, das hat keine
Konsequenzen…
…während du vor deiner
Tochter von den Konsequenzen ihres Handelns faselst.
…die Tür aufgeht…
…könntest du dich
verteidigen
Schnell wischst du dir den
Arsch ab. Gründlich wie immer, aber schnell. Heute hat das lang gedauert. Ewig.
Du warst lange nicht mehr auf Klo. Groß. Du packst dein Gemächt und deinen
Arsch wieder in die Hose. Du öffnest ein bisschen zögerlich die Kabinentür,
wäschst dir die Hände. Schnell…
…bevor noch jemand kommt…
Ist das jetzt Ironie oder
Galgenhumor. Schon Galgenhumor…
Endlich bist du wieder oben.
Aber oben ist es auch nicht
besser.
Die „Halle“ ist immer noch
menschenleer. Keine Menschenseele weit und breit. So hat sie etwas Unheimliches.
Du fühlst dich wie auf dem Präsentierteller, wie ein Fisch im Aquarium, in
diesen hell erleuchteten Räumen voller Weihnachtsdeko.
Wenn jetzt jemand von
draußen reinguckt.
Du denkst wieder an Nadine,
an die „Situation“, denkst: Sollte ich jemals alles herausfinden, dann gnade
dir Gott, Nadine.
Oder mir?
***
Auf der Arbeit knallst du
dich voll mit spanischem Fernsehen, so als wäre es eine Droge. Dabei ist dein
Spanisch schon lange langsamer geworden, jetzt wo du es nicht mehr jeden Tag
sprichst.
Und deinen ecuadorianischen
Akzent verlierst du auch nicht, denn er ist wie eingebrannt in dein Gehirn.
Aber eine Nachricht lässt
dich aufhorchen. Der Tungurahua, der größte Vulkan Ecuadors spuckt wieder
Asche. Die Bauern sind verzweifelt, weil ihre Ernte zerstört ist. Geil!
Du hoffst auf ein Erdbeben,
das ganz Ambato dem Erdboden gleichmacht. Das die ganzen Häuser, die ihre
Schwester sich im Laufe der Jahre mühsam erbaut haben, eistürzen lässt. Das
Ambato und besonders Santa Rosa, das Dorf aus dem sie kommt, für immer in einer
dunklen Erdspalte verschwinden lässt. Und sie war‘n nie mehr gesehen.
Alles, was die bleibt ist
die Hoffnung. Die Hoffnung auf Gerechtigkeit. Denn der Glaube und die Liebe
sind verschwunden.
***
Telefongespräch zwischen mir
und meiner Tochter.
„Und sonst? Alles klar.
Schön in der WG?“
„Ja, alles klar. Scheiße,
ne?!“
Leck mich am Arsch. Das ist
echt Scheiße und das weißt du ganz genau. Du weißt ganz genau, wie du mich
kriegen kannst. Ich aber auch…
„Du weißt ja, Heiligabend
ist dieses Jahr an einem Donnerstag!“
„Ach, nerv mich jetzt
nicht.“
Das kriegt sie zurück.
Morgen.