15.11.15
Immer noch denke ich an sie. In jeder freien Minute. Ich liebe sie immer noch, da gibt es nicht viel mehr zu zu sagen. Ich habe das Wertvollste, was ich hatte verloren. Einfach so. Eigene Dummheit. Aber was soll ich dazu sagen. Selber schuld. Mund abwischen und weiter. Das Leben wird auch ohne sie irgendwie weitergehen. Nicht so gut wie vorher, aber irgendwie muss es ja weitergehen. Ich liebe sie, aber wenn ich ihr das jetzt zeige oder sage, habe ich auch nichts davon. Diese Chance ist vorbei. Endgültig.
Oder nicht?
Fast bin ich schon wieder
versucht, ihr schon wieder eine SMS zu schicken, auf die ich wie immer keine
Antwort bekommen werde. Ich muss stark sein und es mir verkneifen. Obwohl ich
sie liebe. Und es für María das Beste wär. Aber ich habe so oft gegen eine Wand
angeredet, dass es auf keine Kuhhaut mehr draufgeht. Sie will nichts mehr von
mir. Ich habe die Frau meines Lebens, die Mutter meiner Tochter verloren. Für
immer. Wenn sie jetzt durch die Tür käme, ich wäre wieder glücklich. Aber sie
wird nicht durch die Tür kommen, also schmink es dir ab. Ich muss jetzt hart
sein und mich auf den bevor stehenden Kampf so gut es geht vorbereiten. Obwohl
ich eigentlich schon seit Wochen bereit bin.
***
Vor der Tür der „Halle“ ruft
ein Kind: „Achtung, Papa!“ Das berührt dich. Deine Tochter war auch mal so
klein. Achtung, Papa: Vorsicht, da kommt eine Trennung. Achtung! Da kommt der
Neue deiner Exe, Achtung! Pass auf, Papa! Da kommt die Einsamkeit. Und da,
Papa, noch schlimmer: Das Alter! Papaaa! Und am Ende, Scheiße, noch schlimmer,
Papa, pass auf, da kommt der Tod!
Das war knapp, dem bist du gerade so noch mal von
der Schippe gesprungen. Achtung! Achtung, Papa!
***
Ich kann nicht mehr richtig schlafen,
kann mir keinen mehr runterholen, nichts. Aber das ist egal heute, denn ich
fühle trotzdem nicht ganz so schlecht, hier draußen, auf dem Weg in den Wald.
Das ist wichtig, dass du dich jetzt um dich kümmerst. Um deinen Körper, deine
Fitness.
Das ist ein richtiger
Herbststurm heute, denke ich auf dem Weg durch Ippendorf. Die Welt ist in
Aufruhr. Die Attentate von Paris gestern. Die Flüchtlingskrise. Die Eurokrise.
Yeats hatte Recht. Der Anruf deines Vaters gestern. Auf niemanden kannst du
zählen. Er lässt einmal klingeln, dann legt er auf. Sagt, das war ein Versehen.
Ist jeder Anruf beim Sohn ein Versehen. Er sei da drangekommen. Ich komme nie
an irgendeine Nummer. Seit Nadine weg ist, haha, keine Nummern mehr. Keine
schellen Nummern mehr am Morgen. Am Abend. Am Mittag. Irgendwas hindert mich
daran, meinem Vater zu vertrauen. Er hat mich zu oft enttäuscht. Und ich habe
nicht daraus gelernt, renne ihm immer noch hinterher wie einem Hündchen. Ich
vertraue im Moment nur mir selbst. Und meiner Tochter. Obwohl auch sie mein
Vertrauen oft genug enttäuscht hat. Aber sie ist meine Tochter. Und wenn mein
Vater sie einfach so nicht mehr sehen will, dann kann ich ihm auch nicht
vertrauen. Meine Tochter ist mein Fleisch und Blut. Das ist etwas anderes. Mein
Vater interessiert sich ja gar nicht für mich. Ruft mich kaum noch an.
Vielleicht wird das anders, wenn er in Rente geht. Wie in diesem Buch dieses
italienischen Schriftstellers. Wo der Vater, als er in Rente geht, zu seinem
Sohn zurückfindet. Und umgekehrt. Aber ich weiß nicht, ob das bei mir auch der
Fall sein wird. Er weiß doch, dass es mir schlecht geht. Dann könnte er sich
doch wenigstens mal melden. Das ist doch die Aufgabe eines Vaters. Ich werde
das alles anders machen.
Das sehe ich ja, was dabei
rauskommt, wenn ich alles anders, alles besser mache: Eine Trennung, Streit,
Tränen, Mari ist hin und hergerissen zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter.
Das ist nicht so einfach,
alles anders zu machen.
Ich jogge. Nur so weit ich
eben komme, bis entweder die Beine anfangen zu brennen oder die Luft wegbleibt.
Meistens sind es in letzter Zeit (wieder) die Beine. Das ist ein gutes Zeichen.
Immerhin. Ich komme nicht so weit, aber immerhin. Die „immerhins“ nehmen in
letzter Zeit aber auch exponentiell zu.
Immerhin.
Ich wünschte, ich wär so
jung wie du, hat der alte Mann bei dir auf der Arbeit gestern gesagt. Irgendwie
hat er Recht. Ich will auch wieder jung sein. Mich jung fühlen. Ich will meinen
Körper wieder. Ich will meine Seele wieder. (Hörst du, Nadine!) Ich will meinen
Körper wieder spüren. Mit deinem Körper musst du anfangen, das ist nach der
Trennung das Wichtigste. Dass du wieder fit wirst. Dich wieder spürst.
Du gehst heute bis zu den
Tannen, obwohl du heute nicht so viel Zeit hast. Noch arbeiten musst. Ich liebe
die Tannen, die sind so düster. Dunkel schön. Der milde Winter ist ein Geschenk,
nimm es an. Obwohl, eigentlich ist das ja gefährlich im Wald, bei Sturm. Umherfliegende
Äste könnten dich treffen und umhauen. Es könnte sogar ein ganzer Baum
umstürzen. Wie hoch ist das Risiko von einem Baum getroffen zu werden? Aber das
interessiert dich heute nicht. Der Sturm ist da, in ganz Europa. Und
irgendjemand muss ihn ja begrüßen. Du kommst dir vor wie eine der Hexen in
Macbeth. Der Sturm ist da und die Lügenpresse liegt in den letzten Zügen.
Links von dir schwanken die
Kronen der Tannen bedrohlich. Etwas fliegt dir ins Gesicht dich, du duckst
dich, aber es ist nur einer dieser Propeller. Der Himmel ist grau, der Wind
fegt durch den dunklen Tannenwald und du denkst: Genau hier will ich sein. Im
Auge des Sturms. Im Wald. Die Deutschen haben eine besondere Beziehung zum
Wald. Keine Ahnung, worin diese genau besteht, aber das stimmt schon. Wenn du
den ganzen Tag draußen verbringen müsstest, wo würdest du hingehen? In den
Wald! Da wirst du aber nie jemand kennenlernen.
Ach, scheiß doch drauf.
Du biegst um die Ecke in das
Tannenwäldchen hinein. Nach ein paar hundert Metern hörst du auf zu laufen und
guckst dich um. Du bist hier ganz allein. Unter den Tannen, die selbst am Tag
immer ein wenig düster, ein wenig mysteriös sind. Wie Soldaten stehen sie in
Reih und Glied da. Wie ein Heer, das dir folgt. Deine Frau begraben. Weg.
Ausgelöscht.
haha
Du siehst das rote Kreuz vor
dir im Wald auftauchen. Wie aus dem Nichts. Auf einmal ist es da. Zwischen den
Tannen. Keine Ahnung, aber so wie heute hast du es noch nie gesehen. Heute hat
es irgendetwas Besonderes. Obwohl du schon so oft an ihm vorbeigekommen bist.
Das rote Kreuz, mitten im Wald. Rot wie die Liebe. Und das Blut. Ihr Blut. Das
Blut, was vergossen wird, zur Vergebung der Sünden. Ihr Blut. Dunkelrot
„Wir werden alle sterben“,
hattest du zu ihr gesagt, deiner eigenen Tochter. Da hast du dich mal wieder
nicht gerade mit Ruhm bekleckert, du hast immer noch ein schlechtes Gewissen
und wirst es auch solange du lebst haben. Aber was nützt das schon. Du kannst
nichts rückgängig machen, selbst, wenn du wolltest.
Und wer wird sich schon in
40/50 oder 60 Jahren daran erinnern? Sie vielleicht! Du aber nicht mehr. Und in
100 Jahren auch sie nicht mehr
Trotzdem bleibt das
schlechte Gewissen. Dein überlebensgroßes Über-Ich. Das dir immer nurnichts als
Ärger eingebracht hat.
Vielleicht um diese düsteren
Gedanken zu vertrieben, beginnst du wieder zu joggen. Und sogleich fühlst du
dich besser. Du kannst es noch, alter Junge. Klopf dir nur weiter selbst auf
die Schulter. Morgen wirst du wieder von den Schülern gefickt (schön wär’s).
Aber heute läufst du um dein Leben. Und das Heute zählt. Nur das Hier und Jetzt
zählt. Und heute joggst du. Zwar nur 200 Meter, aber immerhin…
Die Luft ist aber auch so
rein hier, da kannst du richtig durchatmen. Nicht, wie der Mief bei dir
Zuhause. Das ist fast schon wie eine Droge. Wie eine kalte Cola light an einem
warmen Sommertag…an dem Nadine mit den Negern und anderen Großschwänzigen
Fußball spielt.
Ja, ja, ist ja gut.
Ich halt ja schon die
Klappe.
Das hast du in letzter Zeit
voll oft, dass du mit dir selbst redest. Ist ja auch sonst keiner da
mit dem
ich reden könnte.
Stimmt auch wieder.
Du kommst an diesem kleinen
lauschigen Plätzchen mit den zwei Bänken vorbei. Dort, wo letztens das Efeu,
das den Boden bedeckt, einen lila Schimmer annahm, bevor es wieder zu seinem
üblichen Grün zurückkehrte. Wenn ich noch mit Nadine zusammen wär…
…würd ich nachts hierhin
kommen, um sie auf der Bank zu bumsen.
Würde ihr Höschen fallen
sehen…
Würde sie in mir spüren…
(Hey, war das nicht andersrum? Nicht unbedingt.)
Aber sie ist nicht hier und
es ist nass und kalt, ich bin allein an einem Sonntagmorgen und der Baum
zwischen den Bänken und dem Weg, auf dem ich mich bewege, hat bedenklich
Schlagseite. Das wär es jetzt: Bei meinem Glück werd ich bestimmt jetzt noch
von einem umkippenden Baum erschlagen. Ja, was meinst du denn auch, warum außer
dir hier keiner unterwegs ist?!
Aber ich werde (leider)
nicht erschlagen und schaffe es nach Hause, wo jede Menge Spül und 2 Eier und
eine dicke Möhre zum Frühstück auf mich warten. So kann der Tag beginnen.
***
Kann man sich mit
Latte-Macchiato-Bonbons von Aldi selbst vergiften? Ich meine, wenn man eine
ganze Packung auf einmal ist?
Sie
fanden ihn mit einer leeren Packung
Café-Bonbons von Aldi neben sich. Tod. War es Selbstmord? Oder gar
Mord…?
Auf jeden Fall kriegt man
davon eins: mächtig die Scheißerei. Ab einer bestimmten Menge. Das steht sogar auf der Packung. Als Warnhinweis: „Kann bei
übermäßigem Verzehr abführend wirken. Ohne Ausrufezeichen. Das ist einfach so.
Das wirst du dann schon merken. Dafür braucht es kein Ausrufezeichen. Sobald du
auf Klo rennst.
Du hast eine Doppelschicht
übernommen. Robert hat dir dafür 50 Euro gegeben. Sogar einen Euro weniger, als
du eigentlich nach Mindestlohn bekommen hättest. Scheiße! Robert lässt dich
unter Mindestlohn arbeiten und verdient sogar noch einen Euro daran. Was für ein
Wichser!
Aber du hast eh nichts
Besseres zu tun. Und in letzter Zeit kommst du eh nie vor eins oder halb zwei
Uhr ins Bett. Nicht, weil du so einen aufregenden Lebenswandel mit wechselnden
SexualpartnerInnen hättest, sondern weil du nicht schlafen kannst. Du hattest
das für einen Witz gehalten, wie der Typ in Fight
Club nicht schlafen kann, aber jetzt weißt du: Das ist bitterer Ernst.
Außerdem kannst du ja tun und lassen, was du willst, jetzt, wo Nadine weg ist
und María heute nicht kommt. Du bist frei.
Juhheeeee!!
Du bist frei und brauchst
das Geld. Für die Scheidungsanwältin, die „scharf“ sein kann, wenn sie nicht
gerade gesalzene Rechnungen ausstellt. Finde sie eigentlich eher weniger
scharf, aber vielleicht ist sie eine gute Anwältin. Das weiß man ja nie. Nur
eine tote Anwältin ist eine gute Anwältin. Aber dann müsste auch Herr Nix (so
heißt der wirklich!), der Anwalt von Nadine, vorzeitig ableben und den Gefallen
tut er dir, glaub ich, (zumindest noch)nicht. Denn er will dich bluten sehen.
Aber das ist auch Geld, dass
ich für Marías Weihnachtsgeschenke ausgeben kann. Sie will neue Schuhe. Sneakers. Die in damals, als du noch
jung warst und die Saurier noch die Erde bevölkerten, 240 gekostet hätten. Du
hattest nie Air Jordans für 300 Mark. Du nicht. Aber sie Huaraches! Hoffentlich
verbringt sie dann auch Heiligabend bei dir. Du hast schon sowas angedeutet:
HEILIGABEND IST DIESES JAHR EIN DONNERSTAG, HÖRST DU MARÍA, EIN DONNERSTAG…UND
DAS IST MEIN TAG!!!!!! Aber genau hat sie sich noch nicht dazu geäußert. Ist ja
auch eine Scheiß-Situation für sie. Sie kann sich ja auch nicht zerreißen. Was
soll sie denn machen? Einen wird sie immer
enttäuschen. Allen kann sie es nicht recht machen. Nie wieder. Das ist
vielleicht auch gar nicht so schlecht. Und außerdem…
…wenn sie schon jemanden
enttäuschen muss, dann…
…sollte das doch wenigstens
ihre Mutter sein!
Das ist nur ausgleichende
Gerechtigkeit für alle Väter dieser Welt. Außerdem ist ihre Mutter ja gegangen.
Nicht ich! Hörst du?! Nicht ich?!
Also bin ich hier, in der
„Halle“, wie Gisela unseren Arbeitsort lakonisch nennt. Mit all den anderen
Verlierern. Mit all den anderen einsamen und überwiegend männlichen
Spielgästen. An Tagen wie heute könnte ich mich fast dazu durchringen, dass zu
glauben, was der Syrer letztens zu mir gesagt hat: „Ich komme nicht hier hin,
um zu spielen. Ich komme hierhin, weil ich nicht weiß, wo ich sonst hin sollte.
Weil ich sonst niemanden hab.“
Vielleicht ist da ja was
dran. Vielleicht wollen die – genau wie du – auch alle nur ihre Ruhe haben, ein
bisschen entspannen und ganz nebenbei 500 Euro verlieren oder gewinnen.
Moment mal: Das ist
mittlerweile dein gefühlter zehnter Latte-Macchiato-Drops und du hast noch
immer nicht die Scheißerei.
Noch nicht mal dein Körper
gehorcht dir. Also: Noch einen nachwerfen und warten.
Vielleicht kommt er ja
doch noch, der große Durchfall.
Ich hab ja noch 8 ½ Stunden
Schicht. Aber auch nur noch 5 Bonbons. Das stellt mich vor sie Entscheidung:
Teile ich mir die jetzt gut ein und sorge so für die langsame, aber sichere
Scheißerei oder schmeiße ich mir die alle auf einmal ein und hoffe, dass sie
endlich ihre Wirkung tun? Das Leben ist voller Entscheidungen. Treffen wir sie
nicht. Feigling! Du willst nur nicht alles auf eine Karte setzen!
Aber neben dem Wunsch auf
die große Kacke ist das ja schließlich auch noch Genuss. Morgen komme ich
wieder zu Aldi! Morgen ist María wieder da. Morgen macht mein Leben wieder
Sinn. Heute ist es noch sinnbefreit, aber Morgen…
Morgen ist ein neuer Tag…
Neuer Tag, neues Glück. Oder
Unglück, ganz wie man’s nimmt. Das Glas ist entweder halb voll oder halb leer.
Oder ganz leer. Oder liegt in Scherben am Boden. Wie die Weihnachtsdeko, die du
im Keller genüsslich auf dem harten Boden der Realität zerschmettert hast. Siehst
du: Hättest du doch wenigstens ein bisschen Geduld bewiesen, könntest du jetzt
mit María euer nicht zusammenhängendes 2-Zimmer-Küche-Bad-Appartment
dekorieren. Mit Kugeln, Eiern (ach ne, das ist Ostern) und Schlitten. Wär das
nicht schön?!
Boah, gut, dass die Scheiße
weg ist.
Aber so ganz allein, nur mit
Mari das Fest der Familie begehen, das ist irgendwie voll Scheiße. Obwohl du
sie auch nicht kampflos deiner Exe überlassen willst, nicht an Heiligabend. Das
hat sie gar nicht verdient, denn...denn…sie ist gegangen!
Schnell einen weiteren Drops
nachwerfen. Ein bisschen Schwung in deinen Verdauungstrakt bringen. Das wird
bestimmt schön. Ihr sitzt beide allein an Heiligabend vor dem Fernseher, sie
gebannt auf ihr Handy starrend und du auf den Bildschirm deines
Laptops.
Und schon ist der Drops
gelutscht.
Der Drops ist gelutscht!
Aber immerhin besser als
ganz alleine vor dem Fernseher zu sitzen und an Selbstmord zu denken. An
Heiligabend ist das Selbstmordrisiko für einsame Männer mindestens 100mal so
hoch wie sonst. Also bei dir 500mal!
Du musst dir halt was
einfallen lassen.
Für Vorschläge melden Sie
sich bitte unter: lebenundschreiben@gmail.com
Du musst das positiv sehen.
Das ist schließlich auch
eine Chance…