Mittwoch, 23. März 2016

Je suis Bruxelles



23.03.16





Ich gucke die Sondersendung zu den Terroranschlägen in Brüssel und denke: Was ich vermisse ist die Wut. Kann Europa nichts außer rational auf die ganzen Terrorakte zu reagieren? Hat Europa keine Wut mehr in sich? Kann sich Europa nicht mehr angemessen wehren? Immer ruhig bleiben. Immer kühl rational die Situation analysieren. Wie mein Vater. Ist das angemessen oder ein Zeichen von Resignation? Wie viel Wut braucht man? Das macht die USA auch nicht. Oder? Wenn bei denen ein Terrorakt ist, dann ziehen sie in den Krieg. Der bringt auch nicht viel, ich weiß. Aber können wir wirklich nicht mehr, als Lichterketten bilden und trauern? Immer nur trauern? Wie ich. Das ganze Leben lang trauern und Gefahren abwehren. Sind wir deswegen in dieser Situation? Weil wir unfähig geworden sind zu handeln? In 70 Jahren Frieden. Sind wir zu complacent, zu selbstgefällig geworden? Zu satt? Wo ist der Zorn? Wo ist die Wut? Kennen wir im Westen keine Wut mehr? Können wir das nicht mehr? Wie war das bei Freud? Die Zivilisation ist nur eine ganz dünne Kruste…über einem Vulkan. Wo ist der europäische Vulkan? Gibt es ihn noch? Leben wir noch? Oder trauern wir nur noch? Und wo ist überhaupt das "wir" in Europa? Die gemeinsamen Werte? Die Familie? Die Loyalität? Unter der ganz dünnen Kruste?

In diesen Tagen ist das eine hochpolitische und eine hochpersönliche Frage für ihn

Montag, 21. März 2016

Dieses Gefühl, dass...








Nachts in der U-Bahn von Tannenbusch überkommt mich plötzlich dieses Gefühl. Urplötzlich.  Wie aus heiterem Himmel. Oder besser gesagt: Wie aus dem Nichts.

Dieses Gefühl, das ich früher – ohne den ganzen Stress öfter hatte. Das aber trotzdem noch nicht gänzlich verschwunden ist; das nie ganz verschwinden wird. Keine Chance. Das mir regelmäßig Schauer über den Rücken laufen lässt. Immer mal wieder, wenn ich gerade mal wieder denke, ich hätte meine Sterblichkeit überwunden.

wie denn auch

wie sollte ich denn auch

Fliegendes Fleisch




Irgendwann in der Vergangenheit…






Ich weiß noch, wie wir damals in Schottland waren. María war noch ganz klein, so um die 2, 3 Jahre alt. Ich studierte und Nadine putzte bei einer Lehrerin, die Spanisch sprach und allmählich bei immer mehr ihrer Nachbarn. Wir wohnten in einer kleinen Wohnung auf dem Campus, für Familien. Kleine Familien, denn die Wohnung war nur eine 1-Zimmer-Küche-Diele-Bad-Wohung. Und die Heizung war elektrisch. Und an Weihnachten flog Fleisch durch die Gegend. Was wohl María von ihren Eltern dachte. So mit 2 ½ Jahren. Weihnachten in Schottland und dann noch fliegendes Fleisch. Ihre Mutter, ihr Vater schreit, ihre Mutter guckt böse, schweigt, ihr Vater heult. Und es ist Weihnachten. Heiligabend, glaub ich. Das Fleisch fliegt wie der Weihnachtsmann durch die Gegend. War eh zäh, wie alles, was Nadine an Schnitzeln und Steaks gemacht hat. Das konnte sie nicht.

ich würde alles dafür geben, in diese Zeit zurückzukehren

aber es gibt kein Zurück

zurück zum fliegenden Fleisch

noch einmal mit Nadine streiten

ich würd alles dafür geben

Nachts umarmten wir uns immer. Lagen die ganze Nacht in den Armen des anderen. Das ham wir sonst nie so gemacht. In Deutschland, mit einer Heizung, die nicht elektrisch war – und das im Ölland Europas! – war mir das zu heiß. Nadine war im Bett wie ein Ofen. Heißblütig. Da passte es gut, dass wir beide zu kniesig waren, allzu viel Geld für die Elektroheizung auszugeben. Und so schliefen wir fest umarmt – was das Fleisch nicht vom Fliegen abhielt, aber immerhin unser eigenes Fleisch, und vielleicht auch unsere Herzen, erwärmte.

wie wir so umarmt dalagen, die ganze Nacht, María neben unserem Bett


Heute blickt er mit einen lachenden, einem weinenden und einem skeptischen, hinterfragenden Auge auf diese Zeit  zurück. Er fragt sich immer wieder, ob das damals vielleicht nur der Kälte geschuldet war. Diese innigen Umarmungen. Ob das nur der Tatsache geschuldet war, dass der schottische Winter noch rauer ist als der deutsche. Oder ob wirkliche Zuneigung im Spiel war. In Anbetracht der Tatsache, wie sie sich heute ihm gegenüber verhält fällt es ihm schwer, daran zu glauben.

War er etwa nur der Heizungsersatz? Oder spürte sie auch etwas, als sie ihn umarmte? Oder ist diese Wärme an sich schon „etwas“? Oder war ihr kalt und er war nur  nützlich? Oder war ihm kalt und sie diente ihm nur als lebende Heizung? Er wird es nie erfahren.

Man kann den Menschen nur bis zur Stirn gucken.

Selbst, wenn man die ganze Nacht in ihren Armen schläft kommt man nicht weiter.

Mittwoch, 16. März 2016

Knausgard, Frust, verlogene Ehrlichkeit und Bayern - Juventus

16.03.16





Abends liest er (und selbst dieses "er" ist natürlich eine weitere Lüge) ein Interview mit Knausgard, in dessen zweiten Buch in seiner Mein-Kampf-Reihe er heute annähernd 40 Seiten gelesen hat. Er denkt: Der hat recht, aber du kannst das nicht, du wirst das nie schaffen, weil du gar nichts schaffst, weil deine Ehrlichkeit einfach so verpufft.

"Mach die Augen zu, dann siehst du was du hast!" hat sein Vater immer ganz stolz gesagt, als er noch klein war. Zu klein, um zu verstehen?

Doch, er hat das doch ein bisschen verstanden: Er hatte nichts, was nichts.

Oder hat sein Vater gesagt: "Mach die Augen zu, dann siehst du, was du bist?"

Woher soll ich - äh, er, meine ich natürlich - das wissen.

Das ist lange vorbei, nur die Scheiße bleibt. Die Scheiß-Schlacke der Vergangenheit.
Ist doch eh scheißegal, in 40 Jahren bin ich eh tot. Haha, 40 Jahre, wovon träumst du nachts?!
Genau davon

Knausgards Titel war ein Weg "Fuck you" zum Leser zu sagen. Genau wie Eminem, der "fuck you" zu seinem Publikum sagt.

Er hat heute Streit mit seiner Tochter gehabt. Lange hat er keinen mehr gehabt, hat sich beherrscht, hat sich benommen, war zu allen gut - nur nicht zu sich selbst. Das ist so, wenn man zu allen gut ist. Für andere lebt.

Selbst die Bayern können nicht mehr gewinnen, sind Verlierer wie er.

Aber heute hatte er mal wieder die Schnauze voll. Von allen Leuten, die in Deutschland immer die Klappe halten, weil ihnen sowieso keiner zuhört - oder weil sie das denken.

Seine Frau mag ihn ruinieren können - finanziell und psychisch - aber er wird sie mit runterziehen.
Ab morgen wird er schweigen, genau wie sie, seine Tochter und seine Frau, alle.
Mit gleicher Münze.

Knausgard hat recht. Die ganze Scheiß-Welt ist so verlogen, so verschwiegen, so beschissen, das geht gar nicht mehr.

Doch da machen die Bayern plötzlich das 2-2 und gehen in die Verlängerung. Es gibt wieder

Und alles ist wieder halbwegs gut. So gut es eben geht, wenn die Frau schwarz arbeitet und von ihm Unterhalt will, obwohl sie ein Haus in Ecuador hat. Land, ein Grundstück. Und er nichts.

Die Guten, die Ehrlichen sind am Ende die Verlierer, die Dummen, die Gefickten.

Nur die Arschlöcher bleiben übrig.

Und ich will übrig bleiben, denkt er.

Es bleibt für beide Mannschaften ein schmaler Grad

Ich werde kämpfen, denkt er.

Ich werde schweigen und kämpfen.

Kämpfen, Bayern, kämpfen

Das Spiel ist nicht vorbei, Freunde, noch haben wir alle Chancen.

Er wird sie so verhungern lassen, wie sie ihn verhungern lassen, sie so in der Luft hängen lassen, wie sie ihn in der Luft hängen lassen.

Und am Ende natürlich verlieren, natürlich den Kürzeren ziehen.

Wie immer, aber wenigstens mit ein bisschen würde.

Würdevoll scheitern.

Du kannst heute echt nichts mehr sagen, aber ich sage es trotzdem.

Und verliere und scheitere...

...aber ich lebe noch...

...und solange ich noch lebe gibt es noch Hoffnung.

Auch für die Bayern, die in der Verlängerung sind. Die gekämpft haben.

Aber das Leben ist kein Fußballspiel. Im Leben verlieren alle.

Ich werde schreibend untergehen - das ist doch für einen Deutschen schon mal ein Fortschritt.

Oder ein Rückschritt?

Ich werde mein "deutsches" schlechtes Gewissen besiegen.

Ich werde siegen, indem ich verliere.

Denkt er...ich...er...ich

ICH



Und dann - in der 109 Minute - macht Thiago das 3-2 für die Bayern.

Und ich schreie kurz und sehr laut "Jaaaaaaaaaaaaaaaaa" Ein bisschen aus Schau, aber auch, weil ich es fühle.

Fast wie früher, als ich noch mit Nadine Fußbal geguckt habe.

Diesmal aber für MICH.

Wenn es dieses MICH wirklich gibt.

Keine 2 Minuten später schießt Coman das 4-2.


Diesmal fällt sein Jubel ganz bescheiden aus.


Der FC Bayern hat heut tief in den Abgrund gucken müssen.


4-2!!!!!! Bayern lebt noch.

Genau wie ich

Denkt er, haha.

Ja, er lebt noch...



Man soll eben den Abend nicht vor dem Ende des Bayern-Spiels verschreien!!!!!!!

Dienstag, 15. März 2016

...till human voices wake us and we drown

15.03.16







Heute Morgen hat mich María fast dabei erwischt, wie ich Nadines Namen gemurmelt hab (wie so oft). Ich lag noch im Bett, war wahrscheinlich noch müde – nach einer weiteren Nacht sehr holprigen Schlafs – und murmelte mehr oder weniger laut Nadine.

Nadinita

Nadita

Ich muss höllisch aufpassen, dass sie mich nicht irgendwann wirklich dabei erwischt – wenn sie es nicht schon lange getan hat.

Morgens kommt sie immer durch das Schlaf-/Wohnzimmer, auf ihrem Weg ins Bad. Nicht, dass ich irgendwann mal im Schlaf laut den Namen ihrer Mutter gesagt habe, keine Ahnung. Sie redet nicht im Schlaf, liegt einfach nur friedlich und ruhig da, mit ihrem kleinen, süßen Gesichtchen. So unschuldig, so jung.

oh darling don’t you ever grow up…

während ich den ganzen Tag lang den Namen ihrer Mutter murmele

wie im Schlaf


bis ich aufwache und sie weg ist


till human voices wake us and we drown

Samstag, 12. März 2016

Bruchstücke eines Lebens, das mal eins war



12.03.16





„Dann hat sie dich aber auch sehr gereizt, wenn du sie geschubst hast“, sagt deine Mutter.

Und obwohl dir das schmeichelt, fragst du dich im Nachhinein immer wieder, warum sie das sagt.

Hat sie mich damals etwa auch immer bis aufs Blut gereizt…

…als ich die Kloschüssel mit ihrer Weinflasche eingeworfen habe…

…als wir uns in den Haaren lagen, immer und immer wieder und manchmal sogar
wortwörtlich…

…als es immer wieder Theater gab…und sie immer wieder meinen Vater auf der Arbeit angerufen hat…

…als

…als


Montag, 29. Februar 2016

Geborgenheit


27.02.16





Am Samstagabend sitze ich nach der Arbeit im Bus nach Hause und höre Taylor Swift. Ist schon komisch, dass ich seit der Trennung fast nur Frauen höre. Zuerst Adele (die für Trennungsschmerz natürlich wie geschaffen ist – wer schon, wenn nicht sie?) und jetzt Taylor (die Adele in nichts nachsteht). Ich sitze auf dem Vierer im vorderen Bereich des Busses, weil mir irgend so ein Spasti den Einzelplatz gegenüber vom Fahrer weggeschnappt hat. So ein komischer Typ mit hoher Stirn und Mantel. Und rosa Sporttasche. Geil, ne?! Ein Vogel eben.

Und so muss ich mit dem Vierer Vorlieb nehmen, wo sich bestimmt gleich irgendjemand mir gegenüber hinsetzt. Irgendein Arschloch. Nie die Sexiest Woman Alive. Immer irgendein Arschloch. So ist das eben im Leben. Ich drehe den MP3-Player lauter, dann wieder leiser. Nicht, dass die das hören können. Dass ich hier Taylor höre. Aber ihre Musik ist einfach zu gut. Und ihre Texte…

…Trennungsschmerz pur! A bitter sweet symphony!

Und schon ist es passiert. Erst setzt sich ein Mädchen – ein Mädchen – mir gegenüber hin und dann folgt auch noch ihr Freund. Beide Emos. Oder Goths oder wie auch immer man die heute nennt. Im Sofa, dem Club neben dem Busbahnhof war heute auch irgend so was. Darkest Night Ever oder irgend so ein Scheiß. Keine Ahnung, wie die Scheiße heißt, aber das hast du eben, auf dem Weg zum Bus, schon gesehen. Alles schwarze Gestalten. Da warst du auch mal, direkt nach der Trennung. Das passte damals zu deiner Stimmung. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Nur, dass du da nicht mehr hingehst. Da hatte ich eh keine Chance. Und nachdem ich an Neujahr fast mein Leben ausgekotzt und gekackt habe, hab ich da im Moment auch keinen Bock mehr. Vielleicht versuche ich es noch mal in zehn Jahren. Wer weiß.

Und jetzt sitzt dieses junge Emo-Pärchen mir gegenüber. Egal. Immer noch besser als irgendwelche „Ich-schwöre-bei-Gott-Besoffenen“. Wenigstens können die Emos sich benehmen, egal wie die nach außen hin aussehen. Du hast dich sowieso schon immer gefragt, ob das bei denen nur Schau ist oder ob die Emos wirklich das Leben und den Tod schärfer sehen als andere und sich deswegen so kleiden. Oder ob es eben nur eine Mode ist. Er hat eine grüne Bierflasche – Becks wahrscheinlich – in der einen Hand und legt den freien Arm um sie. Sie ist total fertig. Keine Ahnung, ob das der Alkohol ist oder ob sie Drogen genommen hat.

Oder der Typ hat der was ins Glas getan, in der Disko, und fährt die jetzt zu sich nach Hause, wo er dann über sie herfällt.

Nein, Mann, was denkst du denn schon wieder?

Das ist der Sexentzug.

Oder sie ist krank.

Sie hustet.

Scheiße, sie hustet. Genau in meine Richtung. Wo soll sie auch anders hin husten, wenn ich ihr genau gegenüber sitze?!

Ich drehe meinen Kopf leicht zur Seite – in einem verzweifelten Versuch, einer weiteren Hustenattacke aus dem Weg zu gehen. Es grassiert schließlich im Moment die Grippe. Nicht, dass sie nicht unter Drogen steht oder müde ist, sondern krank. Er sagt irgendwas wie „Du zitterst ja“ und ich horche erst recht auf. Drehe meinen Kopf noch weiter zur Seite. Aber wie weit kann man seinen Kopf schon drehen. Auf jeden Fall keine 180 Grad. Das wär jetzt echt das Beste. Aber so geht nur eine 90 Grad Drehung zur Seite. Hoffentlich hört sie auf zu husten.

Aber schon ist sie wieder dran. Ein kleines, aber deutlich hörbares Hüsteln. Scheiße. Einen Moment lang überlege ich, ob ich mich doch woanders hinsetzen soll oder zumindest mir das Buch vor die Nase halten kann, so dass sie mich wenigstens nicht direkt anhusten kann. Aber dann lasse ich es. Und sie kriegt sich auch ein, hustet nicht mehr und versucht stattdessen zu schlafen. Der Typ legt die Hand ohne Bier um sie. Er hat ein fettes Tattoo auf dem Handrücken. Scheiße, Mann. Seine blonden etwas längeren Haare sind auf einer Seite seines Schädels komplett kahl rasiert. Zwischen seinen Beinen steht eine Gitarre in ihrer schwarzen Tasche. Liebevoll breitet er ihr einen Schal als Kissenersatz aus. Männer sind eben die wahren Romantiker, während Frauen…nur an Geld denken. Und gegen mein Knie stoßen, während sie ihren Körper hin und herschieben, um die richtige Schlafposition zu finden.

Einen Moment lang denkst du: Nicht, dass die mir gleich noch in den Schoß kotzt. Das wär dann doch zu viel des Guten. Sie riecht schon ein bisschen nach Alkohol.

Die Alte ist besoffen. Eindeutig.

Am Ende entscheidet sie sich dann dafür, dass der Platz unter seinen der bequemste ist und schließt sogar die Augen. Muss Liebe schön sein…

Er nimmt seine Hand, an deren Mittelfinger ein schwerer Metallring prangt, streichelt zärtlich ihr Haar, während der Bus den Venusberg hinauffährt (der heißt übrigens wirklich so, das ist keine Metapher). Ich kann gar nicht hingucken, tue es aber trotzdem. Wie er ihre Haarsträhnen zwischen den Fingern durchgleiten lässt, immer und immer wieder. Männer sind die wahren Romantiker. Und als wollte er meine These bestätigen, küsst er sie genau in diesem Moment zärtlich auf die Stirn. Sie erwidert seinen Kuss im Halbschlaf.

Du guckst nach draußen. Das kannst du nicht mehr ansehen. Schrecklich. Diese Zärtlichkeit, diese Geborgenheit. Und trotzdem versäumt er es nicht, sich auch noch einen Schluck aus seiner Bierflasche zu gönnen. Draußen ist alles dunkel. Von den Lichtern der Stadt ist fast nichts mehr zu sehen, hier oben im Wald. Dir bleibt nur die Dunkelheit, während er immer wieder ihre Haare streichelt. Fast rhythmisch. Das hast du früher auch so gemacht, bei Nadine. Wie du ihr damals immer über das Gesicht gestrichen bist, mit der Hand. Immer wieder. Du konntest nicht genug von ihrer Zuneigung kriegen. So viel, dass es ihr schon fast lästig wurde. Lästig war. Am Valentinstag. Das weißt du noch, das wirst du jetzt ein ganzes Leben lang mit dir rumschleppen. Als Ballast. Du hast ja breite Schultern. Jetzt, wo du zum Zuschauen verdammt bist, hier im Bus. Wo du dasitzt und nur zusehen kannst ein anderer, fremder Mann einer anderen, fremden Frau die Geborgenheit, die Berührung schenkt, die dir so fehlt. Es ist nicht der Sex, es ist die Berührung, die Liebkosung. Der Sex natürlich auch. Aber auch das Miteinander. Das Füreinander-Dasein.

Dir bleibt nur die dunkle Nacht. So warst du auch mal, mit Nadine. Früher. Nur, dass sie fast nie so betrunken oder so groggy war wie die. Nur einmal, an Neujahr, wenn man mal von der Hochzeit in Ecuador absieht (nein, nicht deine!). Damals hatte sie Streit mit dir. An Neujahr. Eurem Jahrestag. Keine Ahnung der wievielte das damals war. Auf jeden Fall hat sie sich damals aus irgendeinem Grund so richtig zugekippt. Dafür brauchte sie nicht viel Alkohol. Bei 1,50 m. und 48 Kilo. Das hat sie sonst nie gemacht, keine Ahnung, warum sie damals so die Kontrolle verloren hat. Vielleicht war sie ja genauso frustriert wie du. Bestimmt. Du musstest sie sogar nach Hause tragen hattest Angst, dass sie in den Bus kotzt. Soweit ist die Emo-Tante dir gegenüber noch lange nicht, soweit wie Nadine damals. Dieses eine Mal war sie besoffen, dann warst du es, der sich jedes Mal, wenn ihr zusammen rausgegangen seid, einen hinter die Binde gekippt hat. Jedes Mal. Besser wurde es dadurch nicht. Im Gegenteil. Denn allmählich wurde ihr dein dauerndes Frustsaufen zu viel.

Wann ist die Zärtlichkeit verloren gegangen? Die Liebe? Bei dir noch immer nicht. Bis heute nicht. Aber bei ihr.

Du guckst dir das Mädchen genauer an. Wie sie da sitzt, an seine Schulter gekuschelt. Diese Geborgenheit. Diese Geborgenheit, die du nicht mehr hast. Du, der du auf die zu einem stumm leidenden Beobachter degradiert worden bist. Ein Zuschauer in ihrer Welt. Ein Spanner. Wirst du sie je wieder selbst spüren, diese Geborgenheit, mit irgendeiner Frau, nachdem deine dir so das Herz gebrochen hat? Sie trägt einen dicken, schwarzen Mantel. Ihre Haare sind schwarz gefärbt und ihr Gesicht ist ganz weiß. Ich weiß nicht, ob sie sich so geschminkt hat oder nicht, aber die Haare sind auf jeden Fall gefärbt. Echt sind die nicht. Ihr Gesicht ist schön, jung, verletzlich…so verletzlich, ihre Gesichtszuge sanft. Sie sieht eigentlich richtig gut aus unter ihrer harten Emo-Schale, ihren pechschwarz gefärbten Haaren, ihrem Mantel, den ganzen Schnallen, die die immer haben. Und einem ebenfalls schwarzen Minirock. Du traust dich gar nicht hinzugucken, tust es aber trotzdem und siehst ihre Strumpfhose. Ob du ihr unter den Rock gucken könntest? Und was sehen würdest? Zwischen all dem Schwarz? Geil! Vielleicht. Ihren Slip. Die ist bestimmt rasiert. Aber der Typ hält weiterhin schützend seine Hand über sie. Dafür sind Männer ja auch da. Oder nicht?! So romantische Männer wie der und er.

Wer wohl jetzt seinen Arm schützend über Nadine hält? Jetzt, genau in diesem Moment. Oder liegt sie mit Nadine im Bett, warm neben ihr, mit diesem Körper, der so unglaublich warm ist. Nur mit einer Unterhose bekleidet, aus der an der Seite neckisch ihr Schamhaar rausguckt. Diese eine Strähne, die sie hatte. Und nicht auf dem Kopf.

Und dann reißt dich das Tattoo des Typen aus dienen Gedanken. Dieses fette Tattoo, das fast seinen gesamten Handrücken bedeckt. Krass. Das sieht fast aus…als wär das ihr Gesicht. Als hätte der sich ihr Gesicht auf den Handrücken tätowieren lassen. Krass. Du hast immer nur davon geredet, dir Tattoos von deiner Frau und deine Tochter auf verschiedene Körperteile tätowieren zu lassen. Das könnte echt sie sein. Geil! Was für ein Mann! Und sie so schön, so verletzlich, wie sie schläft.

Mittlerweile sind wir schon fast in Ippendorf. Hoffentlich steigen die vor dir aus, du willst sie auf keinen Fall wecken. Aus ihren süßen Träumen. Wer weiß.

Und schon biegt der Bus um die letzte Kurve vor der langen Geraden, auf der sich auch deine Haltestelle befindet. Jetzt wird es aber knapp. Aber sie steigen tatsächlich noch vor dir aus. Um genau zu sein: eine Haltestelle vor dir. Er weckt sie sanft, sie streift sich den Schal über, schließt ihren Mantel und erhebt sich langsam von ihrem Platz. Ein letzter Blick auf ihren Rock und sie ist weg. Verschwindet in der Hand. Ihr steigt nicht zusammen aus. Natürlich nicht. Wir steigen nicht zusammen aus. Du bist ja ohnehin nur ein stummer Beobachter des Lebens der Anderen. Derer, die noch eins haben. Während du schon lange den Geist aufgegeben hast. Sie sind weg und du hast kaum Zeit darüber näher nachzudenken, denn du musst ebenfalls an der nächsten Haltestelle raus.

Fast genau in dem Moment, in dem du aus der Tür setzt Taylor zu diesem Lied an. Never grow up. Unglaublich! Das Schicksal ist wirklich ein mieser Verräter. Ein Arschloch. Genau wie deine Kollegen, dein Chefin und diese Welt. Aber vielleicht hörst du es ja auch jetzt erst und es lief schon die ganze Zeit. Keine Ahnung. Auf jeden Fall trittst du ganz alleine in die Nacht hinaus und Taylor singt:

Take pictures in your mind of your childhood room…

Aber so schön sie das auch singt, es trifft nicht auf mich zu. Ich kann nirgendswohin zurück. Wohin denn auch? In meine Kindheit? Die war nicht so schön, dass ich dahin zurück wollte.

Diese Geborgenheit, Aufgehobenheit, Geliebtheit, ich habe sie nie gespürt, das ist mir in letzter Zeit immer klarer geworden. Und selbst Geborgenheit, die mir meine Frau gegeben hat, ist vielleicht noch nicht mal echt gewesen. Wer weiß das schon. Sonst hätte sie bestimmt nicht einfach so eiskalt gehen können. Ich bin nachts allein auf dem Weg in meine Single-Wohnung, die an vier Tagen die Woche auch zur Wohnung meiner Tochter wird. Meine Tochter hat also zwei Zuhause.

Taylor, ich hatte immer Angst vor den Schritten meines Vaters, der müde von der Arbeit nach Hause kommt, um mich für etwas zu bestrafen, das ich nicht getan habe, das ihm meine Mutter in ihrem unbedingten Willen mich und meine Aggressivität zu unterdrücken, zu unterwerfen, am Telefon gesagt hatte. Das ist keine schöne Erinnerung, Taylor, es tut mir leid. Es gibt sowieso kein Zurück. Nicht in die Kindheit und auch nicht zu der Frau, die mich verlassen hat. Aber so als könnte sie meine Gedanken lesen hat Taylor auch darauf eine Antwort.

I just realized everything I have is someday gonna be gone.

Ich weiß, Taylor. Nur die Nacht bleibt. Und die kalte, einsame Wohnung. Und niemand außermeiner Tochter, der wir gerade auch ihre Kindheit zerschossen haben, die vielleicht insgeheim die gleichen Gedanken hegt, ohne dass es ihr voll bewusst ist.

So here I am in my new apartment…

…wish I’d never grown up.