Donnerstag, 19. November 2015

Meine Tochter


19.11.15





Sie ist so schön, meine Tochter. Wie sie auf meinem Bein liegt und friedlich schläft. Mit ihren Zöpfen, die sie wollte, dass ich sie ihr flechte.

„Kannst du mir Zöpfe flechten?“

„Das kann ich nicht, das hab ich noch nie gemacht.“

Vielleicht hätte ich es ja doch probieren sollen.

„Ich hab dir schon was gekauft. Ich kauf das jetzt, da ist es billiger.“

Ich liebe sie und genau deswegen ist es so schwer, die Trennung von meiner Frau zu akzeptieren. Denn María ist so ein tolles Kind, dass sie beide Eltern verdient hat. Nicht nur 3 ½ Tage der Woche ihren Vater und 3 1/2 Tage die Woche ihre Mutter. Das ist so Scheiße, aber was soll ich denn dagegen machen. Ich habe es weiß Gott oft genug versucht. Jetzt ist die Anwältin dran. Sie ist so süß meine Tochter und ich bin so stolz auf sie. Wie sie auf meinem Bein liegt und schläft. Wie sie kocht. Das macht sie zwar mehr für sich, als für mich, wie sie immer sagt, aber trotzdem. Sie ist ein tolles Kind und ich bin wahnsinnig stolz auf sie. Ich habe als Kind nie Liebe bekommen und glaube, dass es mir deswegen so große Schwierigkeiten bereitet, Liebe zu geben, aber ich glaube, ich kriege das hin. Bei ihr. Die paar Jahre, die sie eh nur noch Zuhause ist. Bevor sie in die Uni geht.

Und ich nach Spanien…

Sie kann mich ja immer besuchen…

Sie hat das nicht verdient. Sie hat zwei Eltern verdient. Wir würden das wieder auf die Reihe kriegen, das weiß ich…aber was soll ich denn tun??





15.11.15

Immer noch denke ich an sie. In jeder freien Minute. Ich liebe sie immer noch, da gibt es nicht viel mehr zu zu sagen. Ich habe das Wertvollste, was ich hatte verloren. Einfach so. Eigene Dummheit. Aber was soll ich dazu sagen. Selber schuld. Mund abwischen und weiter. Das Leben wird auch ohne sie irgendwie weitergehen. Nicht so gut wie vorher, aber irgendwie muss es ja weitergehen. Ich liebe sie, aber wenn ich ihr das jetzt zeige oder sage, habe ich auch nichts davon. Diese Chance ist vorbei. Endgültig.

Oder nicht?

Fast bin ich schon wieder versucht, ihr schon wieder eine SMS zu schicken, auf die ich wie immer keine Antwort bekommen werde. Ich muss stark sein und es mir verkneifen. Obwohl ich sie liebe. Und es für María das Beste wär. Aber ich habe so oft gegen eine Wand angeredet, dass es auf keine Kuhhaut mehr draufgeht. Sie will nichts mehr von mir. Ich habe die Frau meines Lebens, die Mutter meiner Tochter verloren. Für immer. Wenn sie jetzt durch die Tür käme, ich wäre wieder glücklich. Aber sie wird nicht durch die Tür kommen, also schmink es dir ab. Ich muss jetzt hart sein und mich auf den bevor stehenden Kampf so gut es geht vorbereiten. Obwohl ich eigentlich schon seit Wochen bereit bin.

***

Vor der Tür der „Halle“ ruft ein Kind: „Achtung, Papa!“ Das berührt dich. Deine Tochter war auch mal so klein. Achtung, Papa: Vorsicht, da kommt eine Trennung. Achtung! Da kommt der Neue deiner Exe, Achtung! Pass auf, Papa! Da kommt die Einsamkeit. Und da, Papa, noch schlimmer: Das Alter! Papaaa! Und am Ende, Scheiße, noch schlimmer, Papa, pass auf, da kommt der Tod!

Das  war knapp, dem bist du gerade so noch mal von der Schippe gesprungen. Achtung! Achtung, Papa!

***

Ich kann nicht mehr richtig schlafen, kann mir keinen mehr runterholen, nichts. Aber das ist egal heute, denn ich fühle trotzdem nicht ganz so schlecht, hier draußen, auf dem Weg in den Wald. Das ist wichtig, dass du dich jetzt um dich kümmerst. Um deinen Körper, deine Fitness.

Das ist ein richtiger Herbststurm heute, denke ich auf dem Weg durch Ippendorf. Die Welt ist in Aufruhr. Die Attentate von Paris gestern. Die Flüchtlingskrise. Die Eurokrise. Yeats hatte Recht. Der Anruf deines Vaters gestern. Auf niemanden kannst du zählen. Er lässt einmal klingeln, dann legt er auf. Sagt, das war ein Versehen. Ist jeder Anruf beim Sohn ein Versehen. Er sei da drangekommen. Ich komme nie an irgendeine Nummer. Seit Nadine weg ist, haha, keine Nummern mehr. Keine schellen Nummern mehr am Morgen. Am Abend. Am Mittag. Irgendwas hindert mich daran, meinem Vater zu vertrauen. Er hat mich zu oft enttäuscht. Und ich habe nicht daraus gelernt, renne ihm immer noch hinterher wie einem Hündchen. Ich vertraue im Moment nur mir selbst. Und meiner Tochter. Obwohl auch sie mein Vertrauen oft genug enttäuscht hat. Aber sie ist meine Tochter. Und wenn mein Vater sie einfach so nicht mehr sehen will, dann kann ich ihm auch nicht vertrauen. Meine Tochter ist mein Fleisch und Blut. Das ist etwas anderes. Mein Vater interessiert sich ja gar nicht für mich. Ruft mich kaum noch an. Vielleicht wird das anders, wenn er in Rente geht. Wie in diesem Buch dieses italienischen Schriftstellers. Wo der Vater, als er in Rente geht, zu seinem Sohn zurückfindet. Und umgekehrt. Aber ich weiß nicht, ob das bei mir auch der Fall sein wird. Er weiß doch, dass es mir schlecht geht. Dann könnte er sich doch wenigstens mal melden. Das ist doch die Aufgabe eines Vaters. Ich werde das alles anders machen.

Das sehe ich ja, was dabei rauskommt, wenn ich alles anders, alles besser mache: Eine Trennung, Streit, Tränen, Mari ist hin und hergerissen zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter.

Das ist nicht so einfach, alles anders zu machen.

Ich jogge. Nur so weit ich eben komme, bis entweder die Beine anfangen zu brennen oder die Luft wegbleibt. Meistens sind es in letzter Zeit (wieder) die Beine. Das ist ein gutes Zeichen. Immerhin. Ich komme nicht so weit, aber immerhin. Die „immerhins“ nehmen in letzter Zeit aber auch exponentiell zu.

Immerhin.

Ich wünschte, ich wär so jung wie du, hat der alte Mann bei dir auf der Arbeit gestern gesagt. Irgendwie hat er Recht. Ich will auch wieder jung sein. Mich jung fühlen. Ich will meinen Körper wieder. Ich will meine Seele wieder. (Hörst du, Nadine!) Ich will meinen Körper wieder spüren. Mit deinem Körper musst du anfangen, das ist nach der Trennung das Wichtigste. Dass du wieder fit wirst. Dich wieder spürst.

Du gehst heute bis zu den Tannen, obwohl du heute nicht so viel Zeit hast. Noch arbeiten musst. Ich liebe die Tannen, die sind so düster. Dunkel schön. Der milde Winter ist ein Geschenk, nimm es an. Obwohl, eigentlich ist das ja gefährlich im Wald, bei Sturm. Umherfliegende Äste könnten dich treffen und umhauen. Es könnte sogar ein ganzer Baum umstürzen. Wie hoch ist das Risiko von einem Baum getroffen zu werden? Aber das interessiert dich heute nicht. Der Sturm ist da, in ganz Europa. Und irgendjemand muss ihn ja begrüßen. Du kommst dir vor wie eine der Hexen in Macbeth. Der Sturm ist da und die Lügenpresse liegt in den letzten Zügen.

Links von dir schwanken die Kronen der Tannen bedrohlich. Etwas fliegt dir ins Gesicht dich, du duckst dich, aber es ist nur einer dieser Propeller. Der Himmel ist grau, der Wind fegt durch den dunklen Tannenwald und du denkst: Genau hier will ich sein. Im Auge des Sturms. Im Wald. Die Deutschen haben eine besondere Beziehung zum Wald. Keine Ahnung, worin diese genau besteht, aber das stimmt schon. Wenn du den ganzen Tag draußen verbringen müsstest, wo würdest du hingehen? In den Wald! Da wirst du aber nie jemand kennenlernen.

Ach, scheiß doch drauf.

Du biegst um die Ecke in das Tannenwäldchen hinein. Nach ein paar hundert Metern hörst du auf zu laufen und guckst dich um. Du bist hier ganz allein. Unter den Tannen, die selbst am Tag immer ein wenig düster, ein wenig mysteriös sind. Wie Soldaten stehen sie in Reih und Glied da. Wie ein Heer, das dir folgt. Deine Frau begraben. Weg. Ausgelöscht.
haha

Du siehst das rote Kreuz vor dir im Wald auftauchen. Wie aus dem Nichts. Auf einmal ist es da. Zwischen den Tannen. Keine Ahnung, aber so wie heute hast du es noch nie gesehen. Heute hat es irgendetwas Besonderes. Obwohl du schon so oft an ihm vorbeigekommen bist. Das rote Kreuz, mitten im Wald. Rot wie die Liebe. Und das Blut. Ihr Blut. Das Blut, was vergossen wird, zur Vergebung der Sünden. Ihr Blut. Dunkelrot

„Wir werden alle sterben“, hattest du zu ihr gesagt, deiner eigenen Tochter. Da hast du dich mal wieder nicht gerade mit Ruhm bekleckert, du hast immer noch ein schlechtes Gewissen und wirst es auch solange du lebst haben. Aber was nützt das schon. Du kannst nichts rückgängig machen, selbst, wenn du wolltest.

Und wer wird sich schon in 40/50 oder 60 Jahren daran erinnern? Sie vielleicht! Du aber nicht mehr. Und in 100 Jahren auch sie nicht mehr

Trotzdem bleibt das schlechte Gewissen. Dein überlebensgroßes Über-Ich. Das dir immer nurnichts als Ärger eingebracht hat.

Vielleicht um diese düsteren Gedanken zu vertrieben, beginnst du wieder zu joggen. Und sogleich fühlst du dich besser. Du kannst es noch, alter Junge. Klopf dir nur weiter selbst auf die Schulter. Morgen wirst du wieder von den Schülern gefickt (schön wär’s). Aber heute läufst du um dein Leben. Und das Heute zählt. Nur das Hier und Jetzt zählt. Und heute joggst du. Zwar nur 200 Meter, aber immerhin…

Die Luft ist aber auch so rein hier, da kannst du richtig durchatmen. Nicht, wie der Mief bei dir Zuhause. Das ist fast schon wie eine Droge. Wie eine kalte Cola light an einem warmen Sommertag…an dem Nadine mit den Negern und anderen Großschwänzigen Fußball spielt.

Ja, ja, ist ja gut.

Ich halt ja schon die Klappe.

Das hast du in letzter Zeit voll oft, dass du mit dir selbst redest. Ist ja auch sonst keiner da 
mit dem ich reden könnte.

Stimmt auch wieder.

Du kommst an diesem kleinen lauschigen Plätzchen mit den zwei Bänken vorbei. Dort, wo letztens das Efeu, das den Boden bedeckt, einen lila Schimmer annahm, bevor es wieder zu seinem üblichen Grün zurückkehrte. Wenn ich noch mit Nadine zusammen wär…

…würd ich nachts hierhin kommen, um sie auf der Bank zu bumsen.

Würde ihr Höschen fallen sehen…

Würde sie in mir spüren… (Hey, war das nicht andersrum? Nicht unbedingt.)

Aber sie ist nicht hier und es ist nass und kalt, ich bin allein an einem Sonntagmorgen und der Baum zwischen den Bänken und dem Weg, auf dem ich mich bewege, hat bedenklich Schlagseite. Das wär es jetzt: Bei meinem Glück werd ich bestimmt jetzt noch von einem umkippenden Baum erschlagen. Ja, was meinst du denn auch, warum außer dir hier keiner unterwegs ist?!

Aber ich werde (leider) nicht erschlagen und schaffe es nach Hause, wo jede Menge Spül und 2 Eier und eine dicke Möhre zum Frühstück auf mich warten. So kann der Tag beginnen.

***

Kann man sich mit Latte-Macchiato-Bonbons von Aldi selbst vergiften? Ich meine, wenn man eine ganze Packung auf einmal ist?

Sie fanden ihn mit einer leeren Packung  Café-Bonbons von Aldi neben sich. Tod. War es Selbstmord? Oder gar Mord…?

Auf jeden Fall kriegt man davon eins: mächtig die Scheißerei. Ab einer bestimmten Menge. Das steht sogar  auf der Packung. Als Warnhinweis: „Kann bei übermäßigem Verzehr abführend wirken. Ohne Ausrufezeichen. Das ist einfach so. Das wirst du dann schon merken. Dafür braucht es kein Ausrufezeichen. Sobald du auf Klo rennst.

Du hast eine Doppelschicht übernommen. Robert hat dir dafür 50 Euro gegeben. Sogar einen Euro weniger, als du eigentlich nach Mindestlohn bekommen hättest. Scheiße! Robert lässt dich unter Mindestlohn arbeiten und verdient sogar noch einen Euro daran. Was für ein Wichser!

Aber du hast eh nichts Besseres zu tun. Und in letzter Zeit kommst du eh nie vor eins oder halb zwei Uhr ins Bett. Nicht, weil du so einen aufregenden Lebenswandel mit wechselnden SexualpartnerInnen hättest, sondern weil du nicht schlafen kannst. Du hattest das für einen Witz gehalten, wie der Typ in Fight Club nicht schlafen kann, aber jetzt weißt du: Das ist bitterer Ernst. Außerdem kannst du ja tun und lassen, was du willst, jetzt, wo Nadine weg ist und María heute nicht kommt. Du bist frei.

Juhheeeee!!

Du bist frei und brauchst das Geld. Für die Scheidungsanwältin, die „scharf“ sein kann, wenn sie nicht gerade gesalzene Rechnungen ausstellt. Finde sie eigentlich eher weniger scharf, aber vielleicht ist sie eine gute Anwältin. Das weiß man ja nie. Nur eine tote Anwältin ist eine gute Anwältin. Aber dann müsste auch Herr Nix (so heißt der wirklich!), der Anwalt von Nadine, vorzeitig ableben und den Gefallen tut er dir, glaub ich, (zumindest noch)nicht. Denn er will dich bluten sehen.

Aber das ist auch Geld, dass ich für Marías Weihnachtsgeschenke ausgeben kann. Sie will neue Schuhe. Sneakers. Die in damals, als du noch jung warst und die Saurier noch die Erde bevölkerten, 240 gekostet hätten. Du hattest nie Air Jordans für 300 Mark. Du nicht. Aber sie Huaraches! Hoffentlich verbringt sie dann auch Heiligabend bei dir. Du hast schon sowas angedeutet: HEILIGABEND IST DIESES JAHR EIN DONNERSTAG, HÖRST DU MARÍA, EIN DONNERSTAG…UND DAS IST MEIN TAG!!!!!! Aber genau hat sie sich noch nicht dazu geäußert. Ist ja auch eine Scheiß-Situation für sie. Sie kann sich ja auch nicht zerreißen. Was soll sie denn machen? Einen wird sie immer  enttäuschen. Allen kann sie es nicht recht machen. Nie wieder. Das ist vielleicht auch gar nicht so schlecht. Und außerdem…

…wenn sie schon jemanden enttäuschen muss, dann…

…sollte das doch wenigstens ihre Mutter sein!

Das ist nur ausgleichende Gerechtigkeit für alle Väter dieser Welt. Außerdem ist ihre Mutter ja gegangen. Nicht ich! Hörst du?! Nicht ich?!


Also bin ich hier, in der „Halle“, wie Gisela unseren Arbeitsort lakonisch nennt. Mit all den anderen Verlierern. Mit all den anderen einsamen und überwiegend männlichen Spielgästen. An Tagen wie heute könnte ich mich fast dazu durchringen, dass zu glauben, was der Syrer letztens zu mir gesagt hat: „Ich komme nicht hier hin, um zu spielen. Ich komme hierhin, weil ich nicht weiß, wo ich sonst hin sollte. Weil ich sonst niemanden hab.“
Vielleicht ist da ja was dran. Vielleicht wollen die – genau wie du – auch alle nur ihre Ruhe haben, ein bisschen entspannen und ganz nebenbei 500 Euro verlieren oder gewinnen.
Moment mal: Das ist mittlerweile dein gefühlter zehnter Latte-Macchiato-Drops und du hast noch immer nicht die Scheißerei.

Noch nicht mal dein Körper gehorcht dir. Also: Noch einen nachwerfen und warten. 
Vielleicht kommt er ja doch noch, der große Durchfall.

Ich hab ja noch 8 ½ Stunden Schicht. Aber auch nur noch 5 Bonbons. Das stellt mich vor sie Entscheidung: Teile ich mir die jetzt gut ein und sorge so für die langsame, aber sichere Scheißerei oder schmeiße ich mir die alle auf einmal ein und hoffe, dass sie endlich ihre Wirkung tun? Das Leben ist voller Entscheidungen. Treffen wir sie nicht. Feigling! Du willst nur nicht alles auf eine Karte setzen!

Aber neben dem Wunsch auf die große Kacke ist das ja schließlich auch noch Genuss. Morgen komme ich wieder zu Aldi! Morgen ist María wieder da. Morgen macht mein Leben wieder Sinn. Heute ist es noch sinnbefreit, aber Morgen…

Morgen ist ein neuer Tag…

Neuer Tag, neues Glück. Oder Unglück, ganz wie man’s nimmt. Das Glas ist entweder halb voll oder halb leer. Oder ganz leer. Oder liegt in Scherben am Boden. Wie die Weihnachtsdeko, die du im Keller genüsslich auf dem harten Boden der Realität zerschmettert hast. Siehst du: Hättest du doch wenigstens ein bisschen Geduld bewiesen, könntest du jetzt mit María euer nicht zusammenhängendes 2-Zimmer-Küche-Bad-Appartment dekorieren. Mit Kugeln, Eiern (ach ne, das ist Ostern) und Schlitten. Wär das nicht schön?!

Boah, gut, dass die Scheiße weg ist.

Aber so ganz allein, nur mit Mari das Fest der Familie begehen, das ist irgendwie voll Scheiße. Obwohl du sie auch nicht kampflos deiner Exe überlassen willst, nicht an Heiligabend. Das hat sie gar nicht verdient, denn...denn…sie ist gegangen!
Schnell einen weiteren Drops nachwerfen. Ein bisschen Schwung in deinen Verdauungstrakt bringen. Das wird bestimmt schön. Ihr sitzt beide allein an Heiligabend vor dem Fernseher, sie gebannt auf ihr Handy starrend und du auf den Bildschirm deines 
Laptops.

Und schon ist der Drops gelutscht.

Der Drops ist gelutscht!

Aber immerhin besser als ganz alleine vor dem Fernseher zu sitzen und an Selbstmord zu denken. An Heiligabend ist das Selbstmordrisiko für einsame Männer mindestens 100mal so hoch wie sonst. Also bei dir 500mal!

Du musst dir halt was einfallen lassen.

Für Vorschläge melden Sie sich bitte unter: lebenundschreiben@gmail.com

Du musst das positiv sehen.

Das ist schließlich auch eine Chance…



Sonntag, 15. November 2015

Im Westen nichts Neues


15.11.15

Immer noch denke ich an sie. In jeder freien Minute. Ich liebe sie immer noch, da gibt es nicht viel mehr zu zu sagen. Ich habe das Wertvollste, was ich hatte verloren. Einfach so. Eigene Dummheit. Aber was soll ich dazu sagen. Selber schuld. Mund abwischen und weiter. Das Leben wird auch ohne sie irgendwie weitergehen. Nicht so gut wie vorher, aber irgendwie muss es ja weitergehen. Ich liebe sie, aber wenn ich ihr das jetzt zeige oder sage, habe ich auch nichts davon. Diese Chance ist vorbei. Endgültig.

Oder nicht?

Fast bin ich schon wieder versucht, ihr schon wieder eine SMS zu schicken, auf die ich wie immer keine Antwort bekommen werde. Ich muss stark sein und es mir verkneifen. Obwohl ich sie liebe. Und es für María das Beste wär. Aber ich habe so oft gegen eine Wand angeredet, dass es auf keine Kuhhaut mehr draufgeht. Sie will nichts mehr von mir. Ich habe die Frau meines Lebens, die Mutter meiner Tochter verloren. Für immer. Wenn sie jetzt durch die Tür käme, ich wäre wieder glücklich. Aber sie wird nicht durch die Tür kommen, also schmink es dir ab. Ich muss jetzt hart sein und mich auf den bevor stehenden Kampf so gut es geht vorbereiten. Obwohl ich eigentlich schon seit Wochen bereit bin.

***

Vor der Tür der „Halle“ ruft ein Kind: „Achtung, Papa!“ Das berührt dich. Deine Tochter war auch mal so klein. Achtung, Papa: Vorsicht, da kommt eine Trennung. Achtung! Da kommt der Neue deiner Exe, Achtung! Pass auf, Papa! Da kommt die Einsamkeit. Und da, Papa, noch schlimmer: Das Alter! Papaaa! Und am Ende, Scheiße, noch schlimmer, Papa, pass auf, da kommt der Tod!

Das  war knapp, dem bist du gerade so noch mal von der Schippe gesprungen. Achtung! Achtung, Papa!

***

Ich kann nicht mehr richtig schlafen, kann mir keinen mehr runterholen, nichts. Aber das ist egal heute, denn ich fühle trotzdem nicht ganz so schlecht, hier draußen, auf dem Weg in den Wald. Das ist wichtig, dass du dich jetzt um dich kümmerst. Um deinen Körper, deine Fitness.

Das ist ein richtiger Herbststurm heute, denke ich auf dem Weg durch Ippendorf. Die Welt ist in Aufruhr. Die Attentate von Paris gestern. Die Flüchtlingskrise. Die Eurokrise. Yeats hatte Recht. Der Anruf deines Vaters gestern. Auf niemanden kannst du zählen. Er lässt einmal klingeln, dann legt er auf. Sagt, das war ein Versehen. Ist jeder Anruf beim Sohn ein Versehen. Er sei da drangekommen. Ich komme nie an irgendeine Nummer. Seit Nadine weg ist, haha, keine Nummern mehr. Keine schellen Nummern mehr am Morgen. Am Abend. Am Mittag. Irgendwas hindert mich daran, meinem Vater zu vertrauen. Er hat mich zu oft enttäuscht. Und ich habe nicht daraus gelernt, renne ihm immer noch hinterher wie einem Hündchen. Ich vertraue im Moment nur mir selbst. Und meiner Tochter. Obwohl auch sie mein Vertrauen oft genug enttäuscht hat. Aber sie ist meine Tochter. Und wenn mein Vater sie einfach so nicht mehr sehen will, dann kann ich ihm auch nicht vertrauen. Meine Tochter ist mein Fleisch und Blut. Das ist etwas anderes. Mein Vater interessiert sich ja gar nicht für mich. Ruft mich kaum noch an. Vielleicht wird das anders, wenn er in Rente geht. Wie in diesem Buch dieses italienischen Schriftstellers. Wo der Vater, als er in Rente geht, zu seinem Sohn zurückfindet. Und umgekehrt. Aber ich weiß nicht, ob das bei mir auch der Fall sein wird. Er weiß doch, dass es mir schlecht geht. Dann könnte er sich doch wenigstens mal melden. Das ist doch die Aufgabe eines Vaters. Ich werde das alles anders machen.

Das sehe ich ja, was dabei rauskommt, wenn ich alles anders, alles besser mache: Eine Trennung, Streit, Tränen, Mari ist hin und hergerissen zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter.

Das ist nicht so einfach, alles anders zu machen.

Ich jogge. Nur so weit ich eben komme, bis entweder die Beine anfangen zu brennen oder die Luft wegbleibt. Meistens sind es in letzter Zeit (wieder) die Beine. Das ist ein gutes Zeichen. Immerhin. Ich komme nicht so weit, aber immerhin. Die „immerhins“ nehmen in letzter Zeit aber auch exponentiell zu.

Immerhin.

Ich wünschte, ich wär so jung wie du, hat der alte Mann bei dir auf der Arbeit gestern gesagt. Irgendwie hat er Recht. Ich will auch wieder jung sein. Mich jung fühlen. Ich will meinen Körper wieder. Ich will meine Seele wieder. (Hörst du, Nadine!) Ich will meinen Körper wieder spüren. Mit deinem Körper musst du anfangen, das ist nach der Trennung das Wichtigste. Dass du wieder fit wirst. Dich wieder spürst.

Du gehst heute bis zu den Tannen, obwohl du heute nicht so viel Zeit hast. Noch arbeiten musst. Ich liebe die Tannen, die sind so düster. Dunkel schön. Der milde Winter ist ein Geschenk, nimm es an. Obwohl, eigentlich ist das ja gefährlich im Wald, bei Sturm. Umherfliegende Äste könnten dich treffen und umhauen. Es könnte sogar ein ganzer Baum umstürzen. Wie hoch ist das Risiko von einem Baum getroffen zu werden? Aber das interessiert dich heute nicht. Der Sturm ist da, in ganz Europa. Und irgendjemand muss ihn ja begrüßen. Du kommst dir vor wie eine der Hexen in Macbeth. Der Sturm ist da und die Lügenpresse liegt in den letzten Zügen.

Links von dir schwanken die Kronen der Tannen bedrohlich. Etwas fliegt dir ins Gesicht dich, du duckst dich, aber es ist nur einer dieser Propeller. Der Himmel ist grau, der Wind fegt durch den dunklen Tannenwald und du denkst: Genau hier will ich sein. Im Auge des Sturms. Im Wald. Die Deutschen haben eine besondere Beziehung zum Wald. Keine Ahnung, worin diese genau besteht, aber das stimmt schon. Wenn du den ganzen Tag draußen verbringen müsstest, wo würdest du hingehen? In den Wald! Da wirst du aber nie jemand kennenlernen.

Ach, scheiß doch drauf.

Du biegst um die Ecke in das Tannenwäldchen hinein. Nach ein paar hundert Metern hörst du auf zu laufen und guckst dich um. Du bist hier ganz allein. Unter den Tannen, die selbst am Tag immer ein wenig düster, ein wenig mysteriös sind. Wie Soldaten stehen sie in Reih und Glied da. Wie ein Heer, das dir folgt. Deine Frau begraben. Weg. Ausgelöscht.
haha

Du siehst das rote Kreuz vor dir im Wald auftauchen. Wie aus dem Nichts. Auf einmal ist es da. Zwischen den Tannen. Keine Ahnung, aber so wie heute hast du es noch nie gesehen. Heute hat es irgendetwas Besonderes. Obwohl du schon so oft an ihm vorbeigekommen bist. Das rote Kreuz, mitten im Wald. Rot wie die Liebe. Und das Blut. Ihr Blut. Das Blut, was vergossen wird, zur Vergebung der Sünden. Ihr Blut. Dunkelrot

„Wir werden alle sterben“, hattest du zu ihr gesagt, deiner eigenen Tochter. Da hast du dich mal wieder nicht gerade mit Ruhm bekleckert, du hast immer noch ein schlechtes Gewissen und wirst es auch solange du lebst haben. Aber was nützt das schon. Du kannst nichts rückgängig machen, selbst, wenn du wolltest.

Und wer wird sich schon in 40/50 oder 60 Jahren daran erinnern? Sie vielleicht! Du aber nicht mehr. Und in 100 Jahren auch sie nicht mehr

Trotzdem bleibt das schlechte Gewissen. Dein überlebensgroßes Über-Ich. Das dir immer nurnichts als Ärger eingebracht hat.

Vielleicht um diese düsteren Gedanken zu vertrieben, beginnst du wieder zu joggen. Und sogleich fühlst du dich besser. Du kannst es noch, alter Junge. Klopf dir nur weiter selbst auf die Schulter. Morgen wirst du wieder von den Schülern gefickt (schön wär’s). Aber heute läufst du um dein Leben. Und das Heute zählt. Nur das Hier und Jetzt zählt. Und heute joggst du. Zwar nur 200 Meter, aber immerhin…

Die Luft ist aber auch so rein hier, da kannst du richtig durchatmen. Nicht, wie der Mief bei dir Zuhause. Das ist fast schon wie eine Droge. Wie eine kalte Cola light an einem warmen Sommertag…an dem Nadine mit den Negern und anderen Großschwänzigen Fußball spielt.

Ja, ja, ist ja gut.

Ich halt ja schon die Klappe.

Das hast du in letzter Zeit voll oft, dass du mit dir selbst redest. Ist ja auch sonst keiner da 
mit dem ich reden könnte.

Stimmt auch wieder.

Du kommst an diesem kleinen lauschigen Plätzchen mit den zwei Bänken vorbei. Dort, wo letztens das Efeu, das den Boden bedeckt, einen lila Schimmer annahm, bevor es wieder zu seinem üblichen Grün zurückkehrte. Wenn ich noch mit Nadine zusammen wär…

…würd ich nachts hierhin kommen, um sie auf der Bank zu bumsen.

Würde ihr Höschen fallen sehen…

Würde sie in mir spüren… (Hey, war das nicht andersrum? Nicht unbedingt.)

Aber sie ist nicht hier und es ist nass und kalt, ich bin allein an einem Sonntagmorgen und der Baum zwischen den Bänken und dem Weg, auf dem ich mich bewege, hat bedenklich Schlagseite. Das wär es jetzt: Bei meinem Glück werd ich bestimmt jetzt noch von einem umkippenden Baum erschlagen. Ja, was meinst du denn auch, warum außer dir hier keiner unterwegs ist?!

Aber ich werde (leider) nicht erschlagen und schaffe es nach Hause, wo jede Menge Spül und 2 Eier und eine dicke Möhre zum Frühstück auf mich warten. So kann der Tag beginnen.

***

Kann man sich mit Latte-Macchiato-Bonbons von Aldi selbst vergiften? Ich meine, wenn man eine ganze Packung auf einmal ist?

Sie fanden ihn mit einer leeren Packung  Café-Bonbons von Aldi neben sich. Tod. War es Selbstmord? Oder gar Mord…?

Auf jeden Fall kriegt man davon eins: mächtig die Scheißerei. Ab einer bestimmten Menge. Das steht sogar  auf der Packung. Als Warnhinweis: „Kann bei übermäßigem Verzehr abführend wirken. Ohne Ausrufezeichen. Das ist einfach so. Das wirst du dann schon merken. Dafür braucht es kein Ausrufezeichen. Sobald du auf Klo rennst.

Du hast eine Doppelschicht übernommen. Robert hat dir dafür 50 Euro gegeben. Sogar einen Euro weniger, als du eigentlich nach Mindestlohn bekommen hättest. Scheiße! Robert lässt dich unter Mindestlohn arbeiten und verdient sogar noch einen Euro daran. Was für ein Wichser!

Aber du hast eh nichts Besseres zu tun. Und in letzter Zeit kommst du eh nie vor eins oder halb zwei Uhr ins Bett. Nicht, weil du so einen aufregenden Lebenswandel mit wechselnden SexualpartnerInnen hättest, sondern weil du nicht schlafen kannst. Du hattest das für einen Witz gehalten, wie der Typ in Fight Club nicht schlafen kann, aber jetzt weißt du: Das ist bitterer Ernst. Außerdem kannst du ja tun und lassen, was du willst, jetzt, wo Nadine weg ist und María heute nicht kommt. Du bist frei.

Juhheeeee!!

Du bist frei und brauchst das Geld. Für die Scheidungsanwältin, die „scharf“ sein kann, wenn sie nicht gerade gesalzene Rechnungen ausstellt. Finde sie eigentlich eher weniger scharf, aber vielleicht ist sie eine gute Anwältin. Das weiß man ja nie. Nur eine tote Anwältin ist eine gute Anwältin. Aber dann müsste auch Herr Nix (so heißt der wirklich!), der Anwalt von Nadine, vorzeitig ableben und den Gefallen tut er dir, glaub ich, (zumindest noch)nicht. Denn er will dich bluten sehen.

Aber das ist auch Geld, dass ich für Marías Weihnachtsgeschenke ausgeben kann. Sie will neue Schuhe. Sneakers. Die in damals, als du noch jung warst und die Saurier noch die Erde bevölkerten, 240 gekostet hätten. Du hattest nie Air Jordans für 300 Mark. Du nicht. Aber sie Huaraches! Hoffentlich verbringt sie dann auch Heiligabend bei dir. Du hast schon sowas angedeutet: HEILIGABEND IST DIESES JAHR EIN DONNERSTAG, HÖRST DU MARÍA, EIN DONNERSTAG…UND DAS IST MEIN TAG!!!!!! Aber genau hat sie sich noch nicht dazu geäußert. Ist ja auch eine Scheiß-Situation für sie. Sie kann sich ja auch nicht zerreißen. Was soll sie denn machen? Einen wird sie immer  enttäuschen. Allen kann sie es nicht recht machen. Nie wieder. Das ist vielleicht auch gar nicht so schlecht. Und außerdem…

…wenn sie schon jemanden enttäuschen muss, dann…

…sollte das doch wenigstens ihre Mutter sein!

Das ist nur ausgleichende Gerechtigkeit für alle Väter dieser Welt. Außerdem ist ihre Mutter ja gegangen. Nicht ich! Hörst du?! Nicht ich?!


Also bin ich hier, in der „Halle“, wie Gisela unseren Arbeitsort lakonisch nennt. Mit all den anderen Verlierern. Mit all den anderen einsamen und überwiegend männlichen Spielgästen. An Tagen wie heute könnte ich mich fast dazu durchringen, dass zu glauben, was der Syrer letztens zu mir gesagt hat: „Ich komme nicht hier hin, um zu spielen. Ich komme hierhin, weil ich nicht weiß, wo ich sonst hin sollte. Weil ich sonst niemanden hab.“
Vielleicht ist da ja was dran. Vielleicht wollen die – genau wie du – auch alle nur ihre Ruhe haben, ein bisschen entspannen und ganz nebenbei 500 Euro verlieren oder gewinnen.
Moment mal: Das ist mittlerweile dein gefühlter zehnter Latte-Macchiato-Drops und du hast noch immer nicht die Scheißerei.

Noch nicht mal dein Körper gehorcht dir. Also: Noch einen nachwerfen und warten. 
Vielleicht kommt er ja doch noch, der große Durchfall.

Ich hab ja noch 8 ½ Stunden Schicht. Aber auch nur noch 5 Bonbons. Das stellt mich vor sie Entscheidung: Teile ich mir die jetzt gut ein und sorge so für die langsame, aber sichere Scheißerei oder schmeiße ich mir die alle auf einmal ein und hoffe, dass sie endlich ihre Wirkung tun? Das Leben ist voller Entscheidungen. Treffen wir sie nicht. Feigling! Du willst nur nicht alles auf eine Karte setzen!

Aber neben dem Wunsch auf die große Kacke ist das ja schließlich auch noch Genuss. Morgen komme ich wieder zu Aldi! Morgen ist María wieder da. Morgen macht mein Leben wieder Sinn. Heute ist es noch sinnbefreit, aber Morgen…

Morgen ist ein neuer Tag…

Neuer Tag, neues Glück. Oder Unglück, ganz wie man’s nimmt. Das Glas ist entweder halb voll oder halb leer. Oder ganz leer. Oder liegt in Scherben am Boden. Wie die Weihnachtsdeko, die du im Keller genüsslich auf dem harten Boden der Realität zerschmettert hast. Siehst du: Hättest du doch wenigstens ein bisschen Geduld bewiesen, könntest du jetzt mit María euer nicht zusammenhängendes 2-Zimmer-Küche-Bad-Appartment dekorieren. Mit Kugeln, Eiern (ach ne, das ist Ostern) und Schlitten. Wär das nicht schön?!

Boah, gut, dass die Scheiße weg ist.

Aber so ganz allein, nur mit Mari das Fest der Familie begehen, das ist irgendwie voll Scheiße. Obwohl du sie auch nicht kampflos deiner Exe überlassen willst, nicht an Heiligabend. Das hat sie gar nicht verdient, denn...denn…sie ist gegangen!
Schnell einen weiteren Drops nachwerfen. Ein bisschen Schwung in deinen Verdauungstrakt bringen. Das wird bestimmt schön. Ihr sitzt beide allein an Heiligabend vor dem Fernseher, sie gebannt auf ihr Handy starrend und du auf den Bildschirm deines 
Laptops.

Und schon ist der Drops gelutscht.

Der Drops ist gelutscht!

Aber immerhin besser als ganz alleine vor dem Fernseher zu sitzen und an Selbstmord zu denken. An Heiligabend ist das Selbstmordrisiko für einsame Männer mindestens 100mal so hoch wie sonst. Also bei dir 500mal!

Du musst dir halt was einfallen lassen.

Für Vorschläge melden Sie sich bitte unter: lebenundschreiben@gmail.com

Du musst das positiv sehen.

Das ist schließlich auch eine Chance…

Samstag, 7. November 2015

No pasarán! No surrender!

07.11.15


Morgens wachst du wieder traurig auf. Ich hab von ihr geträumt. Wie ich mit ihr schlafe. Dass ich auf ihr liege. Aber mehr weiß ich nicht mehr.

Mein erster Gedanke ist: Ich muss in den Wald. Den Frust weglaufen. Oder vor dem Frust davonlaufen? Ich weiß es nicht. Ist doch auch egal, im Endeffekt. Hauptsache, ich habe keinen Frust mehr.

Also: Entweder ich werde so fitter oder ich bringe mich so um. Fitter oder toter! Toter als ich mich im Moment fühle, ist wahrscheinlich eh schwer.

Ich kann den Traum nicht vergessen, kann mich aber auch an keine Details erinnern. Ich will mich an ihn erinner, aber er ist weg. Obwohl er doch so prägnant war. Komisch. Das Einzige, das ich weiß ist, dass sie auf mir lag. Ich hab mit ihr geschlafen, aber mehr weiß ich nicht mehr. Hey, das ist ja fast wie in unserer früheren Beziehung. Ich hab mit ihr geschlafen, aber viel mehr ist nicht geblieben.
Nachts, wo ich aufgewacht bin, wusste ich es auch. Was heißt hier nachts, wenn du erst um 5 ins Bett gegangen bist. Nach diesem Film. Der Duft der Frauen. Ich liebe diesen Film, aber sein Idealismus ist angesichts der Realität dieser Welt völlig unangebracht. Hollywood eben. Die kippen auch um, wenn sie einmal im Leben ein wahres Wort in einen Film einbauen.

Aber jetzt gibt es nur eins: Einfach nur raus! Nicht nachdenken! Bloß nicht nachdenken! Nicht, dass sich dein Gehirn nachher noch warmläuft. Über nichts nachdenken!

***

Was soll ich denn machen?! Meine Tochter gar nicht mehr sehen?! Mich einfach aus der Affäre zu ziehen, obwohl ich ihr Vater bin?! Alles so zu akzeptieren, nur damit sie Unterhalt kriegt und alleinerziehend ist und ich aus der Welt bin?! Den Gefallen werd ich dir nicht tun. Wenn ich schon hier in Deutschland bleibe, will ich natürlich Kontakt zu meiner Tochter. Was für ein Vater wär ich denn, wenn ich das nicht wollte?! Ich hab so die Schnauze voll von allem, aber wenn ich jetzt aufgebe, spiele ich ihr doch nur in die Karten. Dann existiere ich erst recht nicht mehr. Dann hat sie erreicht, was sie will. Also müssen wir eine Einigung finden. Aber wie denn, wenn alle Versuche, über María zu reden, konsequent und mit voller Absicht abgeblockt werden. Und selbst wenn nicht: Dann kommen auch nur Spielchen. Wie in der SMS von letztens.

„Was bietest du mir denn?“

Was, ist das hier? Ein Bieterwettbewerb?!

Um unsere Tochter?! Du hast sie doch nicht mehr alle! Aber ich hatte ja vergessen: Du brauchst sie ja noch, um dich auf deinen Single-Seiten interessanter zu machen. Wie verzweifelt muss man eigentlich sein…?! Das ist zum Kotzen, aber du musst durchhalten, darfst diesmal nicht klein beigeben, musst dich einmal im Leben durchsetzen. Wenn nicht jetzt, wann dann???!!!! Soll ich mich etwa einfach nach Spanien verpissen und meine Tochter ihrem Schicksal überlassen. In einer WG mit Gott weiß wem. Dir ist auch nichts peinlich, Nadine?! Oder?!

Nein!

Diesmal werde ich kämpfen!

Keinen Schritt nachgeben!

¡No pasarán! ¡Nunca!

Einmal im Leben muss ich mich auch mal durchsetzen, gegen die Leute, die denken, ich würde ihnen alles durchgehen lassen. Dass sie mich nach Strich und Faden verarschen könnten und noch ungestraft davonkommen würden. Weil ich dumm bin. Weil ich weich bin. Schwach. Diesmal nicht. Wenn ich diesmal nachgebe, habe ich endgültig verloren. Dann bricht es mir das Genick. Dann habe ich keine Selbstachtung mehr. Aber wenn ich kämpfe gewinne ich mit einem Schlag alles zurück, was ich über die Jahre verloren habe. Was ich für andere aufgegeben habe, die mich schlecht behandelt haben, wie Dreck und dann noch dachten, sie kommen damit davon. Und wenn ich untergehe, Dann gehe ich wenigstens kämpfend unter. Das sind wir Deutschen ja gewöhnt. Aber wenn ich nicht kämpfe, verliere ich alles. Also habe ich gar keine Alternative. Also, in die Schlacht, Kameraden. Fight to the death.

No surrender!

Dieses Mal gilt es. Dieses Mal kannst du dich nicht wegducken, wie sonst immer. Dieses Mal musst du kämpfen.

…und wer neu ist im Fight Club, der muss kämpfen!

Kämpfen, auf geht’s, kämpfen!

Ich freue mich fast schon auf die Auseinandersetzung, als ich im Internet The Art of War von Sun Tzu lese.





Freitag, 6. November 2015

Common People

06.11.15


Es ist 00:12 an einem Freitagabend. Oder Samstagmorgen - ganz wie man es sehen will. Das Glas ist entweder halb leer oder halb leer. Ich bin 38. Im Fernsehen läuft die millionste Folge von Wallander. Auf dem PC läuft Disco 2000. Nicht, dass ich Schweden-Krimis einmal mochte, aber dieser Wallander wird selbst durch den Tod des Autors keinen Deut besser. Oder doch: Denn irgendwann gibt es keine neuen Wallander-Folgen mehr und dann muss ich mir das nicht mehr antun. Und was mache ich dann? Let's all meet up in the year 2000... Da war die Welt noch in Ordnung, im Jahr 2000. Zumindest halbwegs. Ich war noch jung, hatte eine Frau und vielleicht sogar noch eine Freundin (zuindest für die ersten fünf Monate!), hatte Action, war noch Student und noch kein Sklave der Service-Industrie.

Was hab ich nur falsch gemacht? Warum ist aus meinem Leben nichts geworden? Alles, möchte ich antworten, aber das stimmt nicht ganz. Ich habe eine hübsche Tochter, die gut in der Schule ist und die ich 3,5 Tage die Woche sehe. Wenn meine Ex mir nicht dazwischenfunkt. Ich habe eine gute Anwältin, die viel Geld kostet und auch nichts gegen die Machenschaften meiner EXE ausrichten kann. Ich habe kein Leben, keine Freunde, keine Freude, keinen Bock mehr auf Deutschland, keine gute Arbeit und ich bin noch nicht mal ein richtiger Mensch. Ich bin nur eine Fiktion, ein Konstrukt eines Autors, der noch nicht mal die Kreativität besitzt, mich in einen anderen Menschen zu verwandeln. Einen Menschen, der Samstagmorgen um 00:21 nicht Wallander oder noch schlimmer Magnum guckt, sondern etwas macht, etwas unternimmt, die Welt in den Arsch poppt. Aber ich bin nur ein unkreatives Produkt, eine fade literarische Figur eines Mannes, der genauso am Ende seines Lateins ist wie ich.

...you wanna sleep with common people like me.

Wann ist mir und meinem Erschaffer eigentlich das Leben entgleitet. Als ich diese Frau geheiratet hab? Als ich mich für diese Frau anstatt für die vermeintlich größere Liebe meines Lebens entschieden hab? Ach, ist ja auch egal. Es ist müßig, mir darüber Gedanken zu machen. Die restlichen 30 Jahre - mehr können es bei meinem derzeitigen Lebenswandel auch nicht mehr sein - krieg ich auch noch rum. Und danach ist eh alles zu Ende.

Vielleicht sollte ich noch mal rüber in die Küche schlüpfen und mir noch ein Eis aus dem Gefrierfach holen. Ersatzbefriedigungen. Das wäre dann mein viertes Eis an diesem Abend. Ob mein Schöpfer auch so viel Eis frisst. Aber vielleicht lebt er auch das Leben, das ich nicht lebe. Aber egal: 3 Eis und 500 Gramm Minifrikadellen. Sehen Sie, es werden ganz sicher keine 30 Jahre mehr und im Moment kann ich dazu nur eins sagen: zum Glück. Wo meine noch neben mir in diesem, unseren gemeinsamen Bett lag, war das okay, nachts vor dem Coputer zu liegen und diesen Schwedenscheiß zu gucken. Auch nur gerade so, aber es war okay. Jetzt ist es nur noch traurig. Scheiße, ich hatte die Flasche Cola vergessen. Aber bestimmt sind die Frikadellen schlimmer gewesen. Man weiß ja heutzutage gar nicht mehr, was krebserregender ist: verarbeitetes Fleisch oder Cola light. Oder das Leben selbst. Oder die vielen Kohlenhydrate in dem Eis, der ganze Zucker. Begehen wir nicht alle jeden Tag ein bisschen mehr Selbstmord, indem wir einfach nur leben? Plötzlich meldet sich mein Handy mit zwei kurz aufeinanderfolgenden Tönen zu Wort. Nein, es versucht keiner, mich zu so später Stunde noch zu erreichen. Nein, das ist es nicht. That's not it at all. Es ist nur der Scheiß-Akku, dieses Scheiß-Billighandy, das wir unserer Tochter vor vielen Jahren gekauft haben. Er ist leer, wie immer nach ein paar Stunden. Genau wie mein Akku. Der ist auch leer. Nur anders als den Handy-Akku bekomme ich ihn nicht aufgeladen. Vielleicht sollte ich mal meine Hand in die Steckdose stecken, vielleicht würde das helfen. Aber sicher bin ich mir da nicht. Vielleicht würde das auch meiner Frisur ein bisschen Leben einhauchen. In letzterZeit fühle mich nicht nur immer mehr wie Anton Chigurh, ich sehe auch so aus. Schön wär's. Wenn ich Anton Chigurh wär, hätte ich diese Probleme nicht. Dann würde ich meine EXE mit dem Bolzenschussgerät besuchen. Einmal. Aber ich glaube, dazu wär noch nicht mal Anton Chigurh fähig. Warum zeigen die den eigentlich nie mit einer Frau in dem Film.

Weil er dann nicht mehr als eiskalter Killer rüberkommen würde, deshalb. Wenn er eine Frau hätte...

***
Scheiße, Mann. Jetzt ist es schon 00:58. Immer noch Samstagmorgen oder Freitagnacht. Egal, wie man es sieht ist das Glas auf jeden Fall halb leer. Auf dem Computer läuft Adele mit Hello und im Fernsehen ist sogar Wallander zu Ende. Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. Jetzt kann ich mich entscheiden. Endlich! Ich kann Magnum gucken und langsam einschlafen (oder auch nicht). Oder ich kann das Nachtmagazin gucken und was auch immer danach auf dem Ersten läuft. Oder ich kann einen langweiligen Softporno auf YouTube gucken und versuchen, mich in den Schlaf zu wichsen. Für YouPorn oder PornHub habe ich schon lange nicht mehr die cojones. Boah, ist mein Leben aufregend.


***

Weißt du, wie das ist? Weißt du das? Du kümmerst dich so lange um deine Tochter. Hilfst ihr mit den Schulsachen, mit allem. Nur um sie dann nur noch 3 ½ Tage in der Woche sehen zu dürfen. Ich frage mich echt, ob du weißt, wie das ist? Wie sich das anfühlt? Weißt du das? Oder besser gesagt: Weißt du es vielleicht doch, aber interessiert es dich auch? Ich würde dich gerne persönlich fragen, aber du beantwortest meine SMS und würdest eh nur wieder mit mir spielen. Mit meinen Gefühlen. Mit Menschen spielt man nicht. Das Leben ist kein Spiel, auch wenn du das denkst.

Oder weißt du ganz genau, wie das ist und machst es extra? Um mich von meiner Tochter zu entfremden? Um mir das einzige zu nehmen, was mir in Deutschland noch was bedeutet? Meine Tochter, die ich aufwachsen gesehen habe. Die ich liebe. Ist sie auch nur ein Spielball für dich, den du wegwirfst sobald du erreicht hast, was du willst?

Oder habe ich selbst meine Tochter verloren, durch meine aufbrausende Art, durch meine Art, mit der Trennung umzugehen? Ich weiß es nicht, aber ich wollte diese Trennung nicht. Ich wäre bis zum Ende geblieben. Weil für mich die Familie, meine kleine Familie eine Bedeutung hat. Oder weil ich zu feige war? Nein. Ich wollte das alles nicht.



Sonntag, 1. November 2015

Tag nach Halloween

01.11.15


Heute ist der Tag nach Halloween. Und so fühlt er sich auch an. Der Tag nach Halloween eben. Sollte an Halloween nicht alles enden? 
Nein, offensichtlich nicht. Denn er ist immer noch da, als er um 9:54 aufwacht, obwohl er erst um 5:54 ins Bett gekommen ist. Nachdem er wieder einmal gesündigt hat. Gott verzeihe es ihm. Aber darüber werde ich heute nicht reden. Das muss erst von meiner Anwältin genehmigt werden - und das kann dauern. Das hat sie selbst gesagt. So eine Scheidung dauert fast so lang wie eine Ehe. Und kostet doppelt so viel Kraft. Aber es ist ja auch nicht so viel Schlimmes passiert. Was soll schon passiert sein?! Er hat niemanden ermordet (zumindest noch nicht), es ist auch keiner vergewaltigt worden (leider?!) und noch nicht mal eine auch nur allzu kleine Körperverletzung hat sich zugetragen (er wollte zwar, aber das passende Opfer hat sich leider nicht ergeben). Aber trotzdem könnte das Geschehene den mittlerweile gefühlte zwei Jahrhundert dauernden Scheidungsprozess negativ beeinflussen und sie wissen ja: Anwälte sind da Spaßbremsen, wenn es dazu kommt, öffentlich über seine kleinen und vielleicht doch etwa größeren Verfehlungen zu reden. Und bis die das genehmigt, das kann dauern. Nach der Scheidung vielleicht. Nach der Scheidung wird alles besser! Das hat er sich fest vorgenommen. Wenn die Scheidung erst mal durch ist, werde ich ein ganz neuer Mensch! Ich werde mein verkkorkstes Leben komplett umdrehen. Ich werde meine Traumfrau finden - und sie natürlich nicht ehelichen (ich bin doch nicht blöd, zweimal den gleichen Fehler zu machen) -, ich werde in meinem Traumjob arbeiten (obwohl ich noch immer keine Ahnung habe, welcher das denn sein könnte) und ich werde endlich glücklich sein (you bet!). Kurzum: Nach der Scheidung wird alles schlagartig besser. Oder auch nicht. Da werde ich Ihnen von allen Schandtaten erzählen, die ich während der Trennungszeit begangen habe, von allen Gesetzen, die ich gebrochen habe. Dann bin ich frei. Vogelfrei. Aber im Moment eben noch nicht. Deswegen muss das warten und wir bewahren Stillschweigen. Offiziell ist nichts passiert. Ich kam um zwei Uhr nachts brav von der Arbeit nach Hause und bin dann nicht wieder bis fünf rausgegangen. Nein, das bin ich nicht. Pssst! Um um 5 Uhr, nachdem ich brav meine Mails gecheckt habe und natürlich nichts anderes Unanständiges oder moralisch Verwerfliches getan habe,bin ich natürlich auch nicht erst um 5:54 ins Bett gegangen. Schwamm drüber! Wir bauen alle Scheiße. Wir dürfen uns nur nicht dabei erwischen lassen. Und erst recht nicht, es der Welt in einem Blog mitteilen. Ich hoffe, man (oder besser gesagt: Ex-Frau) hat mich nicht dabei erwischt und anosnsten schweige ich wie ein Grab.

Was mich zu diesem komischen stillen Feiertag bringt, der heute ist. Nein, nicht Tag der Toten, obwohl ich mich so fühle als wär ich gestorben und nicht wieder aufgestanden. Kein Wunder, bei den paar Stunden schlaf, die ich nach gestern Nacht hatte. Meine Beine tun immer noch weh. Vom vielen Umherlaufen, nicht von irgendwas anderem - was denken Sie denn wieder? Aber dazu sage ich ohne meine Anwältin nichts - und die liegt hier glaub ich nicht neben mir im Bett.
Mal nachgucken...

Ne, keine Spur von Frau ******. Puh, da bin ich aber beruigt. Dann dürfte die mich nachher gar nicht mehr vertreten, wär befangen. Nach einer Nacht mit mir wär sie das bestimmt. Auch meine Finger tun weh und sind blutig. Nein, das ist kein Halloween-Kunstblut. Das ist echtes. Meins. Keine Ahnung von wem sonst noch. Nein, nur Spaß. Ich schwöre! Bei Gott! Und den sieben Geißlein. Das ist nur meins. Das ist so eine üble Angwohnheit von mir. Wenn ich nervös bin oder Scheiße gebaut habe, knabbere ich mir die Finger wund. die Nagelbetten, wie meine Mutter zu sagen pflegte. Ja, meine Betten sind heute morgen weiß Gott (ich schwöre) nicht ganz in bester Ordnung. Aber das passt doch zum Tag nach Halloween. Mit dem Blut anderer an deinen Händen aufzuwachen (nein, immer noch nur Spaß!). Nicht zu wissen, was gestern passiert ist. Mit einem trockenen Kater. Nein: Es ist eigentlich ganz harmlos - und ganz anders. Das mache ich schon ewig lange. Immer nur solange bis Blut kommt. Dann höre ich natürlich direkt auf. Das können Sie mir glauben! Wirklich! Das ist so eine Art Ritzen für Arme. Für arme Depressive. Die reichen können sich natürlich saubere Rasierklingen leisten, während die Armen immer noch an ihren Fingern rumknabbern, bis das Blut nur so spritzt. Ich lecke kurz an dem am übelsten aussehenden Finger (der rechte Daumen) und mache dann den Fernseher an.

Wie immer gucke ich Fußball. Erst die Zusammenfassungen der Samstagsspiele bei Bundesliga Pur, dann den Doppelpass. Nicht, weil mich die Spiele oder der Fußball-Talk im Doppelpass oder gar die illustren Gäste so interessieren, sondern weil das eine der wenigen Routinen ist, die ich aus meiner gescheiterten Ehe in mein mindestens genauso gescheitertes Single-Dasein hinüberretten konnte. Wenn ich erst mal richtig geschieden bin, wird das alles natürlich besser. Heute laufen sogar direkt die Bayern. Bestimmt, weil die das Freitagsspiel hatten. Oder weil sie ausnahmsweise mal 0:0 gespielt haben. Aber das kann ich heute nicht. Das geht heute nicht. Ich muss raus. Sonst sterbe ich. Sonst geh ich kaputt. Sonst werd ich bekloppt. Hier vor dem Fernseher zu liegen und Fußball zu gucken, während überall um mich herum die Welt zusammenbricht und sich letzte Nacht für einen Moment lang, nur einen Moment lang, die Tür zur Hölle einen Spaltbreit geöffnet hat. Aber davon kann und darf ich ja nichts erzählen. Nur so viel: There's a fine line between legal and illegal, love and hate, life and death.Das geht gar nicht. Und obwohl ich mit viel Glück gute vier Stunden unruhig geschlafen habe und mir die Beine immer noch vom vielen nächtlichen Laufen wehtun, verschwende ich keine Zeit. Werfe mich in meine Sport-Kluft. Ziehe meine schwarze No-Name-Trainingshose an, ein altes England-Trikot, das noch keine oder nur wenige Stockflecken hat und zur Krönung meine Tarnjacke. Nein, kein hippes Flecktarn oder gar diese russischen Tarnjacken für das ewige Eis. Nein, nur schnödes Graubraun. Braun, das mal grau war odergrau, das mal braun war. Die Jacke natürlich nicht zugeknöfpt, damit das England-Trikot halb zu sehen ist - ich bin ja kein kompletter Assi. Es ist ja schließlich stiller Feiertag. Totensonntag oder irgendsowas. Wenigstens ist das Trikot gewaschen. Trotzdem schäme ich mich ein bisschen für meine "Sportkluft" und versuche, so schnell wie möglich in den Wald zu kommen. Dort bin ich sicher vor allem. Keine aufdringlichen Blicke, keine Gedankan an Nadine und María. Dort kann ich vergessen.

Vergessen, dass meine Finger, die ich noch tiefer in die Seitentaschen der Tarnjacke grabe, immer noch zu bluten scheinen. Wie bei Jesus. Ein Wunder. Oder diesen Marienstatuen, die leiden und leiden. Das ganze Leben unter der lange vollzogenen Trennung zu leiden scheinen. Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Wunder gibt es immer wieder... Zum Beispiel jetzt, hier neben diesem unscheinbaren Gartenzaun in Bonn-Ippendorf (das genau so ist, wie es klingt: Einfamilienhäuser, Luxus-Blocks mit Eisentor und mittendrin meine Bleibe). Nein, es ist nicht Nadine, die voller Reue splitterfasernackt aus den Büchen gesprungen kommt, um mich mit ihrem kleinen südamerikanischen, dichten, schwarzen Büschlein zu vergewaltigen. Schön wär's! Wovon träumst du nachts?!

Genau davon...

...eigentlich.

Ok.

Nein, sie ist weder gekommen, um mich zu vergewaltigen noch um mich zu ermorden. Sie ist gar nicht da. Aber da liegt trotzdem was auf dem Boden, das meine Aufmerksamkeit erregt. Ein Twix! Zuerst denke ich, es ist nur die Verpackung, aber als ich es dann mit dem Fuß anstupse, merke ich, dass die Packung noch intakt ist, dass da noch was drin ist. Zuerst bin ich skeptisch (nicht, dass das vergiftet ist...oder angeknabbert...oder beides), doch dann hebe ich die silbrig-goldene Packung auf
und sehe, dass sie noch intakt ist. Nicht, dass das kleine Löcher drin sind...durch die jemand etwas hineingespritzt hat um fetten, gierigen, liebeshungrigen Depressiven wie mir ins Jenseits zu helfen. Aber das ist nichts und auch das Verfallsdatum stimmt. 02.10.12, hier steht's ganz klar. Nein, nur ein Witz. 2016. Also stecke ich das Twix als kleine Wegzehrung ein, obwohl mir noch immer nicht ganz geheuer ist, dass es in der Tasche meinen blutenden Fingern gefährlich nahe kommt. Einmal gucke ich mich noch kurz um, aber mich hat keiner gesehen. Die haben alle Besseres zu tun, als Sonntagsmorgens hier rumzugammeln. Die haben Familie und Frauen, oder eben Besseres zu tun.
Vielleicht ist das ja auch ein Zeichen. Eine Aufmunterung von Gott, wenn ich schon durch die Hölle gehen muss. Oh, Gott, lassen Sie mich doch damit in Ruhe. Keine Zeichen mehr. Nicht noch eins dieser Zeichen, denke ich und esse die beiden Twix keine 20 Schritte weiter zur Sicherheit auf. Es schmeckt gut - hey, dann musst du heute wenigstens nicht verhungern, selbst wenn du verblutest. Du bist jetzt fast am Waldrand. Du bist fast am Ziel, dort, wo du alle Sorgen vergessen wirst, wenn du nur weit und lange genug läufst.

So weit kannst du gar nicht laufen...

Doch! Kannst du! Du machst das heute wie Eminem. Der hat das damals auch so gemacht, um sich von seiner Drogen- bzw. Frauenabhängigkeit zu befreien. Da ist der glaub ich ganze Marathone (heißt das so?) gelaufen, nur um zu vergessen.Seine Mutter und seine Frau zu vergessen. Hey, wie bei dir! Wenn das bei dem geklappt hat...geht das bei dir bestimmt auch 100% schief. Sieht man ja. Es ist ja nicht so, dass Eminem in jedem ernst gemeinten Lied immer noch unter einen Mutterkomplex leidet, den er nahtlos auf seine spätere Frau übertragen hat, während er seine Tochter vergöttert. Kommt dir das nicht irgendwoher bekannt vor? Es ist ja nicht so, dass Eminem in schöner Regelmäßigkeit von Mutter und Frau in Prozesse verwickelt wird, die er dann mit viel Geld aus der Welt schafft.

Aber du gibst nicht auf! Du hast noch eine Idee, die dich bestimmt wieder aus dem Loch ziehen wird, in dem sich dein Leben befindet. Das ist die Idee. Die Lösung all deiner Sorgen. Ich werde mich selber konditionieren! Wie der pawlowsche Hund. Das ist es! Jedes Mal, wenn ich heute an Nadine denken muss, werde ich zehn Liegestützen machen. Perfekt! Es gibt nur einen kleinen Haken: Entweder siehst du dann heute Abend aus wie Popeye oder du liegst spätestens nach einer halben Stunde halbtot unterm Tisch, deine Arme dein gebrochenes Herz umklammernd, dass nach der gestrigen Nacht der Toten endgültig den Geist aufgegeben hat. Aber der Trick bei diesen Ideen ist ja. Du fängst erst heute Abend damit an. Und bis dahin hast du sie eh entweder vergessen oder verdrängt. Aber vielleicht würde das wirklich funktionieren. Jedes Mal, wenn du an sie denken musst, 10 Liegestützen. Irgendwann bist du sie dann so satt, dass dein Gehirn automatisch die Gedanken an sie ausschaltet. Später. Erstmal ist der Waldlauf dran.
Du gehst unter den ersten auf beiden Seiten der Straße durch, schließt die Augen. Das ist wie Hypnose, wenn man nur lang genug läuft. Als wär man high. Ja, high von Nadine. Du machst die Augen wieder auf. Wir wollen ja nicht, dass zu der Hypnose irgendeine andere "-ose" dazukommt, so tollpatschig wie du bist.

Und wenn Sie jetzt denken: Das klingt doch alles ganz lustig. Dem sein Leben ist doch gar nicht so schlimm, wie er immer tut, der irrt ein bisschen durch den Wald mit blutigen Fingern, aber eigentlich geht es dem gar nicht so schlecht, dann lassen Sie sich das Folgende gesagt sein: Das sind alles nur psychische Abwehrmechanismen. Damit ich mir meiner Realität nicht bewusst werde. Damit mache ich Ihnen und mir etwas vor. Eigentlich fühlte ich mich kein bisschen belustigt, sondern trage schon seit Monaten dieses stumpfe, dumpfe Gefühl der Enttäuschung mit mir rum, das mich nicht zur Ruhe kommen lässt. Das ist doch nicht die ganze Wahrheit, was ich Ihnen hier erzähle. Die ganze Wahrheit würde meine Scheidungsanwältin doch nie erlauben. Und nie verstehen. Und nicht nur sie. Wer kann die Wahrheit schon vertragen?! Die Wahrheit über unser alltägliches Leben und Sterben. Wer kann die Scheiß-Wahrheit schon vertragen?! Wer will sie schon hören?!

Ich will sie ja selbst vergessen, die momentane Wahrheit meiner Existenz in diesem Land. Dass ich kaum noch Kontrolle über irgendwelche Erziehungsfragen habe, da meine Frau absichtlich jegliche Kommunikation mit mir blockiert. Vielleicht sogar aus ihrer Sicht berechtigterweise, aber ob das fair gegenüber meiner 16-jährigen Tochter ist, steht auf einem anderen Blatt. Dass ich nicht weiß, was sie bei ihr am Wochenende macht, was ihr von ihr erlaubt wird, weil es - wie schon erwähnt keinen Austausch zwischen uns gibt. Noch nicht mal über unsere Tochter. Dass alles nur gemacht wird, egal was die Konsequenzen sind. Alles wird von ihr verfügt. Sie treibt sich auf gleich mehreren dubiosen Single-Seiten rum, auf denen sie das Facebook-Foto postet, auf dem sie direkt neben ihrer Tochter zu sehen ist. Wie verzweifelt kann man eigentlich sein? Oder steckt da etwas anderes dahinter. Ich stehe nur daneben und muss zusehen, wie das alles passiert. Mit mir und mit meiner Tochter. Die Anwältin hilft auch nicht, da die Mühlen der Justiz so langsam mahlen, dass da gar nichts zu machen ist. Das sind unhaltbare Zustände. Klar, dass ich da manchmal einfach die Augen verschließen will und wie in Trance durch den Wald laufen will, nur um die Wahrheit nicht zu sehen: Dass ich nach Strich und Faden belogen, betrogen und verarscht werde. Vielleicht schon seit Jahren. Ungestraft. Ohne Konsequenzen. Und was kann ich Legales dagegen machen? Nichts! Und Illegales. Genau das will ja Nadine. Dass bei mir der Geduldsfaden reißt. Darauf spekuliert sie ja. Wie früher bei unseren zahlreichen Streits. Und wer ist/war immer der Dumme? Ich! Sie nie. Das macht mich so wütend, aber was soll ich denn machen? Außer mich mit meiner Ohnmacht, meiner Wut zu arrangieren? Und totmüde wie Falschgeld durch den Wald zu laufen. Einsam und alleine. Ohne große Unterstützung meiner Familie, meines Vaters (der genauso einsilbig ist wie Nadine) und meiner Schwester, die nicht nur in Florida wohnt, sondern auch meine E-Mails nur sporadisch beantwortet. Aber trotzdem stelle ich mich dem schwersten Kampf meines Lebens. So ist das eben. Ich stehe meinem Leben schon viel zu lange ohnmächig gegenüber. Laufe durch den Wald meines Lebens und sehe ihn noch nicht mal richtig vor lauter Bäumen. Ich weiß, dass man im Leben nicht alles und jeden kontrollieren kann, aber das Leben kann auch nicht nur aus totaler Ohnmacht bestehen.
Also läufst du, um wenigstens die Kontrolle über deinen eigenen Körper zurückzugewinnen. Das, was du kontrollieren kannst, musst du auch kontrollieren. Außerdem ist es gar nicht so schlecht, sonntags immer weiter geradeaus durch den Wald zu laufen. Immerhin scheint eine kalte Sonne, die mich sogar blendet.

So schließt er die Augen. Er will einfach nur weg, am besten in die Sonne, die Sonne des Südens. Aber er kann nicht. María muss zuerst ihre Schule fertig machen. Was denkt eigentlich Nadine, wie lange ich noch hier wäre, wenn María nicht wär. Aber er ist eben ein guter Vater, versucht das Beste aus einer Scheiß-Situation zu machen, ohne dass es ihm jemand dankt. Ganz allein. Allein gegen die Mafia. Aber selbst diese Sonne ist gut. Das erhöht das Glücksgefühl, setzt Glückshormone im Körper frei. Angeblich. Und die kann er weiß Gott gebrauchen.

Einfach nur laufen. Immer weiter. Vielleicht sogar ein bisschen joggen. Ein paar Meter. An nichts denken. Und kaum denkt er das, ist sie wieder da, in seinem Kopf, er wird sie einfach nicht los, seine Ex. Sie ist wie ein Parasit, der sich auf Dauer in seinem Hirn eingerichtet hat. Aber wenigstens ist er nicht zu Hause. Eingesperrt in seinen vier Wänden, die sich noch immer nicht wie seine vier Wäde anfühlen und dies wahrscheinlich auch nie tun werden. Einfach vergessen können, das wär's. Aber dafür ist sein Kopf nicht gemacht, denn der rattert selbst hier draußen pausenlos weiter, wie eine Maschine, die sich pausenlos im Kreis dreht, obwohl er geradeaus geht. Immer weiter, solange dies eben nötig ist. Nur um am Ende den gleichen Weg wieder zurückzugehen, ein bisschen kaputter, aber nicht befreiter. Vielleicht kann er ja so seinem Kopf wenigstens für ein paar Augenblicke entkommen.

Keine Ahnung, wo dieser Weg hinführt. Keine Ahnung, wo diese Scheiße hinführt, aber der Wald und die Bäume haben schon was Beruhigendes. All diese Bäume, monoton und doch undruchdringbar. Wie es wohl wäre, einfach im Wald zu verschwinden. Aber du hast ja Angst vor Zecken. Sogar ein Pferd kommt dir rechts auf dem Pferdeweg entgegen. Mit einem Mädchen. Es sind fast immer Mädchen. Wie deine Tochter, die du heute nicht sehen wirst. Weil es nicht dein Tag ist. Dieser Spalier aus dunklen Tannen auf beiden Seiten, der Himmel schon wieder grau, die Sonnenstrahlen fast ganz verschwunden. Zwei weitere Pferde links, die schwer atmen und schon schneller sind. Man hört genau das Tier in ihnen. Du spürst es auch, das Tier in dir. Du gehst immer weiter, aber dein Gehirn hört nicht auf zu rattern.

Für sie muss es auch frustrierend sein. Genau: Das ist es!Auch für sie ist die momentane Situation frustrierend. Unbefriedigend. Vielleicht sogar sexuell undbefriedigend. Wenn sie sich bei all diesen Single-Börsen anmelden. Aber vielleicht macht sie das auch um rumzuficken. Was weißt du denn schon? Nichts. Du kannst nur Punkte sammeln, die für sie frustrierend sind.Oder es zumindest sein müssten.So genau weißt du es denn auch nicht. Wer weiß schon, was sie denkt?! Also, was ist für sie frustrierend:

1) Sie sieht María nicht so oft, wie sie es gerne wollte.

2) Dadurch verliert sie in gewisser Weise ihr Gesicht vor ihrer Familie. Aber da sie gar nicht mit ihrer Familie zusammenwohnt - wie du gestern rausgefunden hast (fragen Sie mich bitte nicht wie) - ist das doch nicht so schlimm, wie du gedacht hast.

3) Sie weiß, dass du sie in gewisser Weise in der Hand hast. Weil sie schwarz arbeitet, was sie immer schon getan hat.

4) Sie weiß nicht, was du willst oder vorhast.

Eigentlich sind das doch schon ein paar Punkte, die für dich sprechen.

Und so läufst du ein bisschen leichter weiter.

Joggst sogar ein paar Meter.

Aber das Problem ist: Du liebst sie immer noch. Und das weiß sie und nutzt es gnadenlos aus.
Egal: Heute laufe ich so lange, bis ich tot umfalle oder nicht mehr an sie denken muss. Viel Spaß! Und auf einmal kommen mir diese komischen Gedanken.

Donnerstag, 29. Oktober 2015

Abkacken, aber wenigstens glücklich

 
29.10.15





Es ist Donnerstag-Morgen 10:24 und er, unser natürlich rein fiktiver Mensch, der natürlich überhaupt nichts mit unserer alltäglichen Realität zu tun hat (der sowieso nicht!), der natürlich nicht auf einer wahren Begebenheit basiert, sitzt auf dem Klo und kackt. Er hat kein Klopapier (sehen Sie, die Realität ist ihm viel zu profan), aber was soll’s. Er hätte es ohnehin nicht mehr bis zum Rossmann ausgehalten. Und was soll er auch, die Arschbacken zusammenkneifend, sich bis zum Rossmann vorkämpfen, nur um dann so vor der Kassiererin zu stehen, die Beine verdreht, den Körper windend, mit einem 8ter-Pack Klopapier in der Hand (Was hat das schon mit der Realität zu tun?). 
Also bleibt er einfach sitzen. Das dickste Ergebnis ist es eh nicht, denkt er, das war wohl eher sowas wie die Nachhut seines großen Geschäfts von vorhin, wo er den letzten Rest Klopapier, den ihm seine Tochter übriggelassen hat (seit wann verbraucht sie so viel?), den Klo runtergespült hat. Da hilft nichts. Aber plötzlich denkt er: Was soll’s?! Scheiß doch drauf! Es ist doch egal. Kack in die Disko.

Und er wird ganz ruhig. Sein Blutdruck geht von üblichen 160/1000 auf null runter und er denkt: Ich bin glücklich. Keine Ahnung, warum. Gleich muss ich mir eine Arschdusche verpassen, aber im Moment, hier auf der Schüssel sitzend, bin ich tatsächlich glücklich. Können Sie sich das vorstellen?! Wahrscheinlich nicht, aber das wäre ihm im Moment auch egal. Er muss noch soviel machen, aber was soll’s. Scheiß doch drauf. Dünne, rötlich-braune Kacke.

Er muss noch bügeln, er muss zur Arbeit gehen, er muss dummen Schülern dumme Sachen beibringen, er muss noch gucken, ob seine Exe angerufen hat, er muss mit ihr noch über ihre gemeinsame Tochter reden, er muss noch spülen (seine/ihre Tochter war nämlich zu faul dafür), er muss noch seinen Unterricht vorbereiten, er muss noch einkaufen er muss bügeln er muss spülen er muss sich anziehen er muss sich nicht mehr die Zähne putzen er muss sich um so viel kümmern, aber…

…im Moment muss er gar nichts.

Er muss nur sein Glück genießen.

Monday morning a job that you despise a boss that you despise a life that you despise…

Und trotzdem ist er glücklich. Nicht zufrieden, aber glücklich. Ausgeglichen. Mit sich und der Welt im Reinen.

Ach, sterben muss er auch noch, aber selbst das kann warten. Auf der mobilen Box läuft Pulp…

…und er muss absolut gar nichts.

Ach, leckt mich doch alle am Arsch!

Er hat die Ruhe weg.

Dabei müsste er so viel Scheiße...

(in 50 Jahren interessiert das eh keinen mehr, was er heute machen musste)


Donnerstag, 22. Oktober 2015

Ein bisschen Hoffnung und unendlich viel Wut


22.10.15





 



An der Haltestelle packt er in seine Hosentasche und spürt den Rosenkranz, den Nadine ihm aus Ecuador mitgebracht hat. Heute Morgen hat er ihn wieder eingesteckt. Wie früher, als er noch dauernd gesagt hat: "Wenn es dich gibt, Gott, dann mach, dass wir wieder zusammenkommen." Heute tut er das nicht mehr, obwohl er die Hoffnung immer noch nicht ganz aufgegeben hat.

...früher, als er noch Kerzen angezündet hat und in der Kathedrale von Barcelona dafür gebetet hat, dass sie wieder zusammenkommen. Bei der Schutzheiligen aller Eheleute in der Krise, aller Getrennten, aller Idioten, die immer noch an den Weihnachtsmann und das Christkind glauben (ja, die gibt's wirklich, nicht den Weihnachtsmann und das Christkind, sondern die Schutzheilige, aber er hat ihren Namen vergessen). Ihren Namen hat er natürlich noch nicht vergessen, Gott und die Schutzheilige bewahre! Wie sollte er denn auch?! Denn es fehlt immer was. Wenn er vor dem Computer sitzt und María neben ihm (auf Nadines Seite des Bettes) ans Kopfende gelehnt Fernsehen guckt. Sie fehlt. Marías kleines Gesichtchen, wie sie friedlich schläft. Du willst sie nicht wecken, willst sie nicht so abrupt wecken, rausschmeißen, in ihr neues Zimmer schicken. Sie ist immer noch sein kleines, süßes Kindchen. Das wird sie auch immer bleiben. Sein goldenes Kind. Aber der Platz an ihrer Seite ist leer. Es ist niemand da, der sie abends wärmt und die beschissene Heizung in seiner neuen Wohnung, in ihrem neuen alten Zimmer fällt auch immer wieder aus. Er beobachtet seine friedlich schlafende Tochter einen Augenblick lang und denkt daran, wie unfair das ist, dass ihre Mutter fehlt. "Du machst das Beste in deiner momentanen Situation", hörst du deine Schwester sagen, aber trotzdem bleibt da dieses Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt, dass das alles nicht gerecht ist. Das ist die Welt auch nicht und du bist ja kein Kind mehr, aber trotzdem.
   Warum vermisst sie Ihre Tochter nicht, wenn sie die ganze Woche über bei mir ist? Jede Woche. Eigentlich ist sie bei uns beiden der Wochenend-Daddy.


***

Er verliert sich im langsam dunkel werdenden Wald und in der fast vollkommenen Dunkelheit seiner Seele. Seine Gedanken kreisen immer wieder um das Gleiche. Er muss sich jetzt erst einmal abreagieren. Das ist jetzt genau das Richtige. Wenn er jetzt nach Hause geht, dann gibt es Tote.
   "Das ist gut, wenn wir uns abends treffen. Wenn ich davor schon gelaufen bin. Dann bin ich auch ruhiger."
   "Ok?"
   Es sind immer wieder die gleichen Fragen.
   Wie konnte sie nur zum Anwalt gehen, wenn sie es ist, die die ganzen Jahre schwarz gearbeitet hat und er derjenige, der sie all die Jahre gedeckt hat - finanziell und sexuell.
   Zählt das denn gar nicht?!
   Wie konnte sie nur zu denen gehen? Ausgerechnet zu ihrer Schwester und diesem Wichser. Kaum ist der wieder hier, ist sie weg. Siehst du. Dann war meine Angst all die Jahre also doch berechtigt? Aber die kriegen es. Die denken er macht nichts, er hat nur ein großes Maul, nur weil er bisher noch nicht zugeschlagen hat, weil er noch auf den richtigen Moment wartet, immer auf die Wut in seinem Bauch hörend. Der Rafael, dem gibt er es irgendwann. Dem und seiner Familie. Der hat seine Familie und seine eigenen kleine Familie ist zerstört. Das hast du deiner Schwester gar nicht gesagt. Wie wütend du darauf bist, dass dem seine Familie gar nichts davon mitbekommen hat, damals, dass der noch eine vernünftige Beziehung zu seiner Frau und seinen Kindern hat, obwohl deine Tochter all die Jahre den ganzen Ärger, den ganzen Streit mitbekommen musste. Nur weil die blöde Kuh von seiner Frau in ständig belogen oder angeschwiegen hat. Und er musste das alles mit anhören. Dem seine Familie hat nie darunter gelitten.

Ich will seinen Kopf, denkst du, als du am Ende des Feldes um die Kurve biegst. Auf einem Silbertablett. Der Himmel ist jetzt ganz genau und das leichte Tröpfeln ist zu einem ausgewachsenen Regenschauer geworden. Es ist fast so, als würde die Natur sein Inneres spiegeln. Es ist kaum noch jemand unterwegs. Nur du und deine Wut. Du ballst die Fäuste. Du bist so wütend; wenn der jetzt um die Ecke biegen würde, der würde das Tageslich nie wieder sehen. Es würde eh nicht funktionieren, weil sie genau weiß, dass du Rache willst, dass du Köpfe rollen sehen willst. Du siehst sie noch vor dir, in Ecuador. Du bist extra aus Deutschland gekommen, um sie zu heiraten und sie lächelt breit Rafaels Bruder an, diesen Ettore, diesen hässlichen Wichser. Bei dem baile, der Dorfdisko im Stadion. Tanzt ausgelassen mit ihm. Vor deiner Nase. Bestimmt wusste der da schon, dass sie heimlich was mit seinem Bruder hatte. Dieses Arschloch. Dein Knie tut mittlerweile weh, aber du musst sowieso nach Hause. Du kannst ja nicht hier im Wald einfach stehenbleiben und darauf warten, dass dich die Dunkelheit vollends verschlingt. Schön wär's. Du hast so die Schnauze voll.
   Du hast...
   Du hasst...
   Es ist auch so schon dunkel genug. Du guckst dich um. Du meinst noch etwas anderes zu hören, etwas anderes als die Tropfen, die der Wind von den Ästen haut. Aber du siehst nichts. Nur die ständig wachsende Dunkelheit hinter dir, fast schon wie ein Tunnel, der sich langsam aber stetig auf dich zubewegt. Die dunklen Tannen wie ein Schrein. Das ist nichts und vielleicht ist ja genau das, das was dich so zusammenzucken lässt.
   Und selbst wenn. Du würdest es eh nicht sehen, selbst wenn da jemand, etwas wär. Mit deinen schlechten Augen. Du meinst immer noch etwas zu hören,Geräusche, die nicht der üppigen , feucht-kühlen Natur entspringen, sondern menschlicher Natur sind. Schritte in deinem Rücken. Aber das würdest du doch sehen, wenn da jemand wär. Oder nicht? Bei deinen Augen. Und dem Dämmerlicht. Du wirfst einen Blick in den dichten Wald links des Weges. Die Baumreihen wirken undurchdringlich. Direkt jenseits des Weges fängt die Dunkelheit an.
   Wieder guckst du dich um. Nicht, dass Nadine jemand auf dich angesetzt hat. Oder das ist Raúl oder einer seiner Brüder persönlich. Oder noch schlimmer: Sie selbst. Würde sie selbst in der Dämmerung mitten im Wald hinter dir herlaufen? Hätte sie keine Angst, dass ihr selber etwas zustößt, bevor sie...
...dass sie vergewaltigt wird, zwischen den Bäumen, von einem Perversen, den ihre Schwester nicht kommt. Kaum wahrscheinlich.
   Du traust dich noch nicht mal stehenzubleiben. Die Dunkelheit oder was auch immer dach sonst nochso hinter dir herkreucht und fleucht könnte dich ja einholen. Insgeheim willst du auch gar nicht wissen, ob danoch was ist, irgendwo versteckt an der Seite des Weges, die immer stärker vor deinen Augen verschwimmt. Dein Knie tut weh. So weit kann die Weggabelung doch gar nicht sein. So lang kann das Feld doch gar nicht sein. Du bist doch jetzt hier schon eine gefühlte Ewigkeit unterwegs. Aber du siehst nichts. Kein Ende in Sicht. Du bist jetzt auch gar nicht mehr wütend, du willst nur noch nach Hause. Raus aus diesem nasskalten unheimlichen, deutschen Dschungel, diesem steinigen Weg, dieser vermeintlichen Menschenleere. Und am Ende kommst du tatsächlich wohlbehalten an der Kreuzung an, siehst zwei Lichter im Wald. Ein Auto. Scheiße. Wer fährt den hier mit dem Auto entlang. Um diese Uhrzeit. Ein Killer! Nadine in ihrem roten Polo, die es auf dich abgesehen hat! Mit Schaum vor dem Mund am Steuer sitzt.

Samstag, 17. Oktober 2015

Stuck in a moment that you can't get out of

 
17.10.15





Aber warum an Karneval denken? Das kann sie doch jetzt auch schon machen. Das macht sie doch jetzt auch schon.

Ok, ich weiß: Ich kann zocken, wichsen, essen so viel ich will. Aber es fehlt immer was. Es fehlt immer diese eigentümliche menschliche Wärme, diese Präsenz eines geliebten Menschen, die María nicht 100% ersetzen kann. Wie sollte sie auch?!

Aber was will man machen. Man kann die Liebe nicht erzwingen.
Ich stelle mir vor, wie sie zu mir auf die Arbeit kommt und was ich dann sagen würde („Was machst du denn hier?“

„Waren wir nicht getrennt?!“ (und sie geht wieder, ohne etwas zu sagen, gesagt zu haben)

„Ich komm ja auch nicht zu dir auf die Arbeit!“ (man muss doch nett sein, wenn man sich wieder trifft, wenn man wieder zusammenkommen will, wenn man das wirklich will“) aber im Grunde meines Herzens weiß ich, dass das nicht passieren wird, dass das nur Wunschdenken ist.

Und das bringt mich nicht weiter.

Nichts bringt mich im Moment weiter. Außer vielleicht mein oder ihr Tod. Am nächsten Tag wäre ich mit María in Spanien. Am nächsten Tag wäre ich weg, ob sie will oder nicht.
Aber das bringt mich auch nicht weiter.

Weil mich nichts weiterbringt.

Und schon wieder läuft Supergirl im Radio.

She’s a Supergirl.

She’s a Supergirl.

She’s a Supergirl.

…and Supergirls don’t cry.

And you know why.

Because their (not so super men are crying
All the time)

Because they’re not quite such 
Supermen

And Supermen always cry

Cause they know they have to die.

Die Trauer dauert eben so lang wie die Trauer nun mal dauert.

Und wenn sie ein ganzes Leben lang dauert, dann dauert sie eben so lang.

Years are not minutes.

***




„Nadi, ich liebe dich“, sage ich zu mir selbst, als ich durch die Kälte zurück zur Spielhalle laufe, nur mit einem Hemd bekleidet.

Es ist kalt und der Himmel ist herbstlich trüb, so als wäre die ganze Welt in einen Nebelschleier gehüllt. Und ich gehe durch diese fast schon dunkle Gasse zur Spielhalle zurück, blicke auf die Mauer aus roten Backsteinen und bin traurig.

Wie war das heute in dem mexikanischen Buch? Pedro Páramo befindet sich in einer Welt zwischen Leben und Tod, an der Schwelle zum Totenreich.

Ich komme mit leeren Händen zurück, der eigentlich verbotene Ausflug von der Spielhalle zum Rewe war umsonst. Die Seife war einfach zu teuer, trotz der 10 Euro Trinkgeld. Die hatten nur die von CD und von Nivea und nicht die billige für 29 Cent. Das Shampoo war mit 1.99 sogar schon weit jenseits von Gut und Böse, sozusagen im Niemandsland zwischen Tod und Leben. Im Lidl bezahle ich niemals  1.99 dafür. Für 2 Packungen vielleicht, aber doch nicht für eine.

In der Passage kurz vor dem Park denke ich, dass ich María einfach liebe und dass es auch im Ausland nicht besser würde, da ich sie vermissen würde wie bekloppt. Außerdem kann ich sie wohl kaum ganz Nadine und ihrer verkorksten Familie überlassen. Also bringt das nichts. Also muss ich hier bleiben, im Niemandsland zwischen…Sie wissen schon.

„Ich liebe dich“, sage ich zu niemandem, in die kalte Abendluft hinein.

Als ich wieder sicher verstaut in der warmen Spielhalle sitze, kommt plötzlich eine kleine Ausländerin rein und sagt irgendetwas, dass ich nicht verstehe.

„Gut?“

„Häh…“

„Gut? Twenty-two.“

„Äh.“

Die sieht gut aus und lächelt und hat lockige Haare und will was sagen, das ich nicht verstehe.

Am Ende gibt sie auf:

„Forget it.“

Ok.

Sieht nicht schlecht aus. Ist aber eine Ausländerin. Die dich bestimmt nur ausnutzen würde wie 

Nadine.

Vielleicht ist es ja sogar gut, dass ich nichts verstanden habe.

Das kannst du sowieso vergessen, das mit der Liebe.

Dann kommt der Trinkgeldgeber wieder, will wieder spielen, obwohl er schon eben genug gewonnen hat. Diese Spieler sind genauso einsam wie du. Aber die ham wenigstens Spaß. Oder auch nicht? Wer weiß. Auf jeden Fall läuft im Radio Supergirl.

…cause she’s a Supergirl…

…and Supergirls don’t cry

…they just let their husbands…

…die.



***

Um elf Uhr, kurz vor meiner Putzphase, überkommt es mich dann doch wieder, dieses Gefühl der Traurigkeit, des Verlustes. Keine Ahnung warum.

…weil ich an Karneval denke. Und daran, was Nadine an Karneval so alles ohne mich anstellen wird. Alleine. Wenn sie alles bumsen wird, während ich – immer noch trauernd – alleine Zuhause sitze.
Muss diese Trennung wirklich sein? Ich liebe sie doch immer noch. Beim Schreiben dieser Zeilen zucke ich fast zusammen, fange fast an zu heulen. Das ist so eine Scheiße. Wir passten so gut zusammen

Haha

wenn wir wirklich gut zusammengepasst hätten, wären wir dies noch.

…nämlich zusammen.

Sind wir aber nicht.

…ist es aber nicht.

Nein: Wir sind für immer getrennt, entzweit.

…und das macht mich bekloppt.