Donnerstag, 22. Oktober 2015

Ein bisschen Hoffnung und unendlich viel Wut


22.10.15





 



An der Haltestelle packt er in seine Hosentasche und spürt den Rosenkranz, den Nadine ihm aus Ecuador mitgebracht hat. Heute Morgen hat er ihn wieder eingesteckt. Wie früher, als er noch dauernd gesagt hat: "Wenn es dich gibt, Gott, dann mach, dass wir wieder zusammenkommen." Heute tut er das nicht mehr, obwohl er die Hoffnung immer noch nicht ganz aufgegeben hat.

...früher, als er noch Kerzen angezündet hat und in der Kathedrale von Barcelona dafür gebetet hat, dass sie wieder zusammenkommen. Bei der Schutzheiligen aller Eheleute in der Krise, aller Getrennten, aller Idioten, die immer noch an den Weihnachtsmann und das Christkind glauben (ja, die gibt's wirklich, nicht den Weihnachtsmann und das Christkind, sondern die Schutzheilige, aber er hat ihren Namen vergessen). Ihren Namen hat er natürlich noch nicht vergessen, Gott und die Schutzheilige bewahre! Wie sollte er denn auch?! Denn es fehlt immer was. Wenn er vor dem Computer sitzt und María neben ihm (auf Nadines Seite des Bettes) ans Kopfende gelehnt Fernsehen guckt. Sie fehlt. Marías kleines Gesichtchen, wie sie friedlich schläft. Du willst sie nicht wecken, willst sie nicht so abrupt wecken, rausschmeißen, in ihr neues Zimmer schicken. Sie ist immer noch sein kleines, süßes Kindchen. Das wird sie auch immer bleiben. Sein goldenes Kind. Aber der Platz an ihrer Seite ist leer. Es ist niemand da, der sie abends wärmt und die beschissene Heizung in seiner neuen Wohnung, in ihrem neuen alten Zimmer fällt auch immer wieder aus. Er beobachtet seine friedlich schlafende Tochter einen Augenblick lang und denkt daran, wie unfair das ist, dass ihre Mutter fehlt. "Du machst das Beste in deiner momentanen Situation", hörst du deine Schwester sagen, aber trotzdem bleibt da dieses Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt, dass das alles nicht gerecht ist. Das ist die Welt auch nicht und du bist ja kein Kind mehr, aber trotzdem.
   Warum vermisst sie Ihre Tochter nicht, wenn sie die ganze Woche über bei mir ist? Jede Woche. Eigentlich ist sie bei uns beiden der Wochenend-Daddy.


***

Er verliert sich im langsam dunkel werdenden Wald und in der fast vollkommenen Dunkelheit seiner Seele. Seine Gedanken kreisen immer wieder um das Gleiche. Er muss sich jetzt erst einmal abreagieren. Das ist jetzt genau das Richtige. Wenn er jetzt nach Hause geht, dann gibt es Tote.
   "Das ist gut, wenn wir uns abends treffen. Wenn ich davor schon gelaufen bin. Dann bin ich auch ruhiger."
   "Ok?"
   Es sind immer wieder die gleichen Fragen.
   Wie konnte sie nur zum Anwalt gehen, wenn sie es ist, die die ganzen Jahre schwarz gearbeitet hat und er derjenige, der sie all die Jahre gedeckt hat - finanziell und sexuell.
   Zählt das denn gar nicht?!
   Wie konnte sie nur zu denen gehen? Ausgerechnet zu ihrer Schwester und diesem Wichser. Kaum ist der wieder hier, ist sie weg. Siehst du. Dann war meine Angst all die Jahre also doch berechtigt? Aber die kriegen es. Die denken er macht nichts, er hat nur ein großes Maul, nur weil er bisher noch nicht zugeschlagen hat, weil er noch auf den richtigen Moment wartet, immer auf die Wut in seinem Bauch hörend. Der Rafael, dem gibt er es irgendwann. Dem und seiner Familie. Der hat seine Familie und seine eigenen kleine Familie ist zerstört. Das hast du deiner Schwester gar nicht gesagt. Wie wütend du darauf bist, dass dem seine Familie gar nichts davon mitbekommen hat, damals, dass der noch eine vernünftige Beziehung zu seiner Frau und seinen Kindern hat, obwohl deine Tochter all die Jahre den ganzen Ärger, den ganzen Streit mitbekommen musste. Nur weil die blöde Kuh von seiner Frau in ständig belogen oder angeschwiegen hat. Und er musste das alles mit anhören. Dem seine Familie hat nie darunter gelitten.

Ich will seinen Kopf, denkst du, als du am Ende des Feldes um die Kurve biegst. Auf einem Silbertablett. Der Himmel ist jetzt ganz genau und das leichte Tröpfeln ist zu einem ausgewachsenen Regenschauer geworden. Es ist fast so, als würde die Natur sein Inneres spiegeln. Es ist kaum noch jemand unterwegs. Nur du und deine Wut. Du ballst die Fäuste. Du bist so wütend; wenn der jetzt um die Ecke biegen würde, der würde das Tageslich nie wieder sehen. Es würde eh nicht funktionieren, weil sie genau weiß, dass du Rache willst, dass du Köpfe rollen sehen willst. Du siehst sie noch vor dir, in Ecuador. Du bist extra aus Deutschland gekommen, um sie zu heiraten und sie lächelt breit Rafaels Bruder an, diesen Ettore, diesen hässlichen Wichser. Bei dem baile, der Dorfdisko im Stadion. Tanzt ausgelassen mit ihm. Vor deiner Nase. Bestimmt wusste der da schon, dass sie heimlich was mit seinem Bruder hatte. Dieses Arschloch. Dein Knie tut mittlerweile weh, aber du musst sowieso nach Hause. Du kannst ja nicht hier im Wald einfach stehenbleiben und darauf warten, dass dich die Dunkelheit vollends verschlingt. Schön wär's. Du hast so die Schnauze voll.
   Du hast...
   Du hasst...
   Es ist auch so schon dunkel genug. Du guckst dich um. Du meinst noch etwas anderes zu hören, etwas anderes als die Tropfen, die der Wind von den Ästen haut. Aber du siehst nichts. Nur die ständig wachsende Dunkelheit hinter dir, fast schon wie ein Tunnel, der sich langsam aber stetig auf dich zubewegt. Die dunklen Tannen wie ein Schrein. Das ist nichts und vielleicht ist ja genau das, das was dich so zusammenzucken lässt.
   Und selbst wenn. Du würdest es eh nicht sehen, selbst wenn da jemand, etwas wär. Mit deinen schlechten Augen. Du meinst immer noch etwas zu hören,Geräusche, die nicht der üppigen , feucht-kühlen Natur entspringen, sondern menschlicher Natur sind. Schritte in deinem Rücken. Aber das würdest du doch sehen, wenn da jemand wär. Oder nicht? Bei deinen Augen. Und dem Dämmerlicht. Du wirfst einen Blick in den dichten Wald links des Weges. Die Baumreihen wirken undurchdringlich. Direkt jenseits des Weges fängt die Dunkelheit an.
   Wieder guckst du dich um. Nicht, dass Nadine jemand auf dich angesetzt hat. Oder das ist Raúl oder einer seiner Brüder persönlich. Oder noch schlimmer: Sie selbst. Würde sie selbst in der Dämmerung mitten im Wald hinter dir herlaufen? Hätte sie keine Angst, dass ihr selber etwas zustößt, bevor sie...
...dass sie vergewaltigt wird, zwischen den Bäumen, von einem Perversen, den ihre Schwester nicht kommt. Kaum wahrscheinlich.
   Du traust dich noch nicht mal stehenzubleiben. Die Dunkelheit oder was auch immer dach sonst nochso hinter dir herkreucht und fleucht könnte dich ja einholen. Insgeheim willst du auch gar nicht wissen, ob danoch was ist, irgendwo versteckt an der Seite des Weges, die immer stärker vor deinen Augen verschwimmt. Dein Knie tut weh. So weit kann die Weggabelung doch gar nicht sein. So lang kann das Feld doch gar nicht sein. Du bist doch jetzt hier schon eine gefühlte Ewigkeit unterwegs. Aber du siehst nichts. Kein Ende in Sicht. Du bist jetzt auch gar nicht mehr wütend, du willst nur noch nach Hause. Raus aus diesem nasskalten unheimlichen, deutschen Dschungel, diesem steinigen Weg, dieser vermeintlichen Menschenleere. Und am Ende kommst du tatsächlich wohlbehalten an der Kreuzung an, siehst zwei Lichter im Wald. Ein Auto. Scheiße. Wer fährt den hier mit dem Auto entlang. Um diese Uhrzeit. Ein Killer! Nadine in ihrem roten Polo, die es auf dich abgesehen hat! Mit Schaum vor dem Mund am Steuer sitzt.