Freitag, 30. Dezember 2016

Der dunkle Wald deiner Seele










Abends komme ich um ungefähr Viertel vor zehn nach Hause. Ich komme aus dem Wald, wo ich Laufen war. In Dunkeln. „Im Dunkeln“ ist eigentlich noch untertrieben. In kompletter Dunkelheit wäre wohl passender. Der kompletten Dunkelheit meiner Seele, haha. Voller Angst, aber immer weitergehend. Immer tiefer hinein in den stockdunklen Wald. Was für ein Hobby. Letztes Jahr hat mich eine Frau gesehen, wie ich gerade dabei war in diese dunkle Röhre, die in den Wald hineinführt, einzutauchen  und hat zu ihrer Kollegin gesagt: "Also, ich würd da nicht reingehen. Freiwillig." Würdest du schon, habe ich nur gedacht: Wenn du keine Hobbys, keine Freunde und heute 2 Eier, 2 Hähnchenschnitzel, 2 Hühnergockelchen von Aldi, jede Menge Salat und 1 Tüte Frit-Sticks gegessen hättest. Dann würdest du da reingehen. Um den Kopf und den Bauch freizukriegen. Obwohl das am Ende, hinter dem Tannenwald, in den ich mich heute Abend nicht begeben habe (weil man da am Tag schon wenig seht und ich Angst hatte, Angst habe vor den dichten Tannen), obwohl das am Ende schon irgendwie komisch war. Denn da waren irgendwelche Tiere oder irgendwas in den Büschen neben dem Weg, das sich bewegt hat und das mich dann doch zum Zurückgehen bewegt hat. Einem Wolf oder Fuchs oder Wildschwein wollt ich dann doch nicht begegnen. Das ist dann doch zu viel des Abenteuers. Also machte ich kehrt und watschelte langsam in Richtung Zuhause, in Richtung I. zurück.

Wobei ich, wie immer, über alles nachdachte. Dass ich ein komisches Gefühl habe. Dass da irgendwas nicht stimmen konnte. Mit María, mit Nadine.

Irgendwas stimmt da nicht, ich spüre das. Im Moment sogar besonders stark.

Aber willst du wirklich dein ganzes restliches Leben darüber nachdenken, darüber rätseln, was da nicht stimmt? Irgendwann muss es auch mal gut sein. Du kannst nicht alles kontrollieren. Es ist normal, dass María dir nichts erzählt. Sie ist eben ein typischer Teenager. Du hättest dir damals auch lieber die Zunge rausgeschnitten als deinen Eltern irgendwas zu erzählen. Obwohl, das mit Nadine hast du ihnen direkt erzählt. In der gleichen Nacht noch, in der du sie Silvester 1995 kennengelernt hast.

Warum eigentlich?

Weil du stolz warst, dass du auch mal Glück gehabt hattest, dass du auch mal eine Frau kennengelernt hattest. Ein Mädchen.

Wahrscheinlich.

Aber jetzt musst du auch abschließen können. Noch nicht einmal mehr in einem Monat bist du geschieden (auf einmal geht das so schnell) und dann siehst du sie – außer durch Zufall – nie wieder.

All das denkst du immer noch vage, als du in die Straße einbiegst, die nach einer Kurve zu deiner Straße führt. Komisch. Da steht ein Wagen mit Blaulicht oder einem gelben Licht. Ne, das ist keine Polizei, das ist der ADAC, wie du dem Schrift an der Seite des Wagens entnehmen kannst. Komisch. Hier oben. Du gehst an dem Wagen vorbei, hinter dem ein Mechaniker sich um einen roten Golf kümmert. Einen roten Golf?

Einen roten Golf…

Dann guckst du hoch, siehst die Person, die Frau, die an der anderen Seite des Motors steht, an der der Mechaniker am Arbeiten ist. Eine kleine Frau, eine sehr kleine Frau. Ausländisch…

Scheiße

Scheiße

Schon bist du vorbei, siehst im Vorbeigehen noch den Aufkleber, der hinten an dem roten Golf klebt. Einer dieser typischen Aufkleber. Du guckst zurück, siehst sie nicht mehr richtig, im Dunkeln. Die kleine Frau, die da an der Seite des Motors steht, dich mitleidig anguckt. Oder bildest du dir das nur ein?

Sie? Sie! Sie?

Quatsch, du wirst langsam bekloppt. Du wirst langsam echt bekloppt. Was sollte sie schon hier machen? Außer ihre Tochter mit dem Auto zurückbringen. Nach Hause zurück. In der einen Hälfte ihres neuen Zuhauses. In ihrem Zuhause 2.0, sozusagen. Und dann ist ihr das Auto hier auf der Ecke liegen geblieben. Genau hier, wo du jetzt langkommst. Haha

Du willst zurückgehen, gehst aber weiter.

Kann das Zufall sein? Zweimal, so kurz hintereinander. Wenn sie das überhaupt war

Wenn du jetzt deinem Gefühl folgen solltest, deinem Bauchgefühl, wie die das immer sagen, dann…

…ist die Sache eindeutig…

Und als du bei dir Zuhause vor dem Tor stehst, fällt dir noch was auf. Denn das Licht ist an. Das Licht draußen und im Flur. Ohne dass du den Knopf über den Klingeln gedrückt hast. Und da du im Moment alleine hier wohnst, kann das nur María gewese…

…oder sie?

Oder bildest du dir das nur ein, hast selber den Knopf gedrückt…

…ohne es zu merken…

Oder ist sie gerade gegangen?

Nein, das hieße ja…

…das sie hier ist, wenn du nicht da bist.

(das glaube ich nicht)

Ja, klar…, hörst du María abfällig sagen. Aber was verbirgt sich hinter dieser Verachtung…?

Warum hat sie dich auch heute gefragt, ob du arbeiten gehst?! Zweimal sogar.

Und wenn sie nicht mit ihrer Freundin Jacqueline ausgegangen ist – die eh einen „strengen“ Vater hat –, sondern…

…mit ihrer Mutter

Skandalös!


Sie ist schon in ihrem Zimmer, als du die Haustür aufschließt, hat schon abgeschlossen. Du klopfst trotzdem, unter dem Vorwand, noch eine Cola zu wollen. Nachdem du noch ein paarmal geklopft hast, tut sich endlich was und sie macht auf. Sie hat sich einen Morgenmantel über ihre Straßenkleidung gezogen.

„Hi. Ich brauche noch eine Cola…“


„Und sonst? Alles klar?“

„Ja.“

„Das ist komisch…“, sagst du am Ende.


„Bist du gerade erst gekommen?“

„Ne, ich bin schon länger hier. Ich war im Bett…“

„Ach so. I could have sworn that the woman whose car broke down just around the corner looked vaguely familiar…Keine Ahnung, warum du das auf Englisch sagst. Etwa damit sie es nicht versteht?

Aber sie versteht – glaub ich – alles, sagt nichts, guckt nur komisch.

Sagt aber auch nicht: „Was redest du da?!“ Wie sie es sonst immer tut.

„Ok, gute Nacht.“

Du gehst in dein Schlafzimmer und plötzlich geht dir ein Licht auf: Wenn sie das war, dann geht es ihr auch nicht gut. Genau wie dir.