María und ich sitzen
gemeinsam vor dem Fernseher. Sie will heute Dirty
Dancing gucken. Horror. Titanic hab
ich schon erfolgreich abgewürgt. Abwürgen ist hier fast wörtlich zu nehmen.
„Keine Liebesfilme, bitte.“
„Doch, der ist voll schön!“
„Neiiiinnnnn!“
Horror.
„Dann höre ich spanischen
Fußball. Hast du eins von diesen Schlafteilen…die man über die Augen zieht.
Dann muss ich nicht hingucken.“
„Nein.“
Sie lacht.
„Scheiße.“
Dann muss ich den ja gucken.
Zwar ohne Ton, aber trotzdem…
Scheiß.
„Ich hasse Liebesfilme. Du
hast auch nicht den Scheidungsfilm mit mir geguckt. Letztens den. Den ich
ausgeliehen hatte.“
Sie sagt nichts. Ist auch
besser so.
„Ok. Dann gucken wir den.
Weißt du eigentlich, dass ich den in deinem Alter auch geguckt hab.“
Und an Sara gedacht. Die
Peruanerin mit den dicken…Titten. Die hätte ich mal heiraten. Anstatt deine
Mutter. Aber dann gäb es dich nicht. Das wär also auch nicht so toll. Siehst
du: Egal, wie ich es drehe und wende, deine Mutter gewinnt immer.
„Vielleicht guck ich den
auch nicht.“
„Ja, hoffentlich.
Hoffentlich nicht.“
Aber direkt meldet sich mein
schlechtes Gewissen wieder. Lass sie doch den Film gucken. Sie tanzt doch auch.
„Ok. Der ist bestimmt voll
schön für jemanden, der tanzt.“
„Ja.“
Heute ist Karfreitag. Und
auf einmal bin ich voll traurig. So total traurig. Weil Nadine nicht hier ist.
Weil ich nicht mit ihr zusammen bin. Nicht mehr mit ihr zusammen bin. Nie mehr.
Ich zocke Solitär, höre spanisches Radio und muss echt fast heulen, vor dem
Bildschirm. So schlimm ist es. Wie hat das diese Amerikanerin auf Twitter noch
mal gesagt? Die, die mich geblockt hat. Die Trauer hat kein Verfallsdatum.
Meine sowieso nicht.
„Die hatte auch dickere
Titten als deine Mutter.“
„Das wollte ich jetzt auch
wissen. Wieso sagst du mir so einen Scheiß?“
Ok, Tschuldigung.
Einen Moment lang halte ich
die Klappe. Dann sagt sie:
„Hamme noch Knäckebrot?“
„Ja, aber ich hatte ja
darauf spekuliert, dass du mir ein paar Scheiben übrig lässt.“
Sonst muss ich hungern. Ich
bin arm, María. Das musst du bedenken. Deine Mutter hat Häuser und Ländereien
in Ecuador. Die ihr meine Anwältin noch nicht mal abnehmen kann…so eine
Scheiße.
„Machst du mir auch ein
Knäckebrot?“
„Nein! Lass es da! Für
morgen.“
„Ham wir noch Milch? Boah,
Scheiße, ich muss mir eine Kondensmilch auf der Arbeit klauen.“
„Letztens war ich versucht,
mir einen Putzlappen auf der Arbeit zu klauen. Meinst du, die hat die
abgezählt, die Putzlappen. Die Gisela, die Putzfrau bei mir auf der Arbeit.“
Im Fernsehen läuft auf RTL
ein Bericht über Blogger und Twitterer, die berühmt geworden sind. Sylvie van
der Vaart zum Beispiel.
„Häh? War die nicht schon
vorher berühmt?“
„Ich find die voll schön“,
sagt María.
„Boah, die ist so
schrecklich. Die sieht voll nicht gut aus. Wenn die nicht diesen Akzent hätte,
wär die hundertpro nicht berühmt.“
„Ich find die voll schön.“
„Wenn Rudi Carrell nicht
gestorben wär, wär die nie berühmt geworden.“
Die reden über Hashtags.
Ich spreche das Wort Hash
extra deutsch aus, sage: „Haha, der Haschtag.“
„Haschtag?“ Sie guckt mich
fragend an.
„Wann ist dein Haschtag?“
…
„Musst du mal die in deiner
Klasse fragen.“
„Oh Gott!“
„Was?“
„Da ist Sami Slimani, der
Schwule.“
„Ist der schwul?“
„Nein, aber der kommt so
rüber. Der ist voll lustig. Die ganze Familie ist so…“
wie, schwul?
…
„Da ist Bibis Beauty Palace.
Die guck ich.“
„Guckst du die regelmäßig.“
„Ja.“
„Sag mal der Oma, wenn du
mit dir einkaufen gehst, die sollen mir das Fahrrad vorbeibringen.“
…
„Gehst du mit denen
einkaufen? Gehst du wirklich mit denen einkaufen.“
„Mal gucken…“
„Würd ich nicht machen. Die
entführen dich dann. Und sperren dich in den Atombunker-Keller ein.“
Dann bist du…
„Bestimmt!“
„Du musst die erpressen. Du
musst sagen: Ich komme nur mit, wenn ihr meinem Papa das Fahrrad vorbeibringt.“
„Richtig erpressen kannst du
ja nur mich.“
Sie lächelt.
„Sobald die Schließanlage
unten ist, hast du keine Chance mehr. Im Auto.“
„Hast du gefurzt?“
„Nein.“
„Ja, wem ist der denn dann
aus dem Arsch gekrochen. Wir sind die Einzigen hier.“
Sie guckt zu mir rüber,
guckt mich an.
„Ja, weiß ich nicht. Aber
nicht mir.“
Eigentlich kann es ja nur
sie sein. Denn außer mir ist hier niemand. Und mir ist der nicht aus dem Arsch
gekrochen. Das wüsste ich nämlich… Aber egal.
Auf dem Bildschirm ist eine Frau
mit rosafarbenen Haaren zu sehen. Sieht eigentlich gar nicht mal schlecht aus.
Ein bisschen so wie eine Latina… Ein schönes Gesicht, leicht braun…
„Die sieht Scheiße aus mit
diesen Haaren“, sagt María.
„Nein, die sieht voll sexy
aus, mit rosa Haaren.“
Die würde ich
auch…äh…bumsen. Vögeln. Schnackseln. In die Büsche ziehen.
„Die hat schon drei
Millionen Abonnenten.“
„Ich auch. Fast.“
Haha. Keinen hast du. Aber
das sagst du ihr doch nicht.
„Boah, ich freu mich schon
auf den Kuchen morgen. Und die Würstchen. Kuchen und Würstchen zum Frühstück.“
„Boah!“
Ja, ich weiß, ich bin
depressiv. Ich weiß. Wie Schokolade zum Frühstück. Hey, kriegt die den in dem
Film, oder dem Buch, nicht am Ende zurück. Oder kriegt die den zum ersten Mal?
Keine Ahnung.
„Boah, ich esse gleich
Haferflocken so. So verzweifelt bin ich!“
„Bah!“
„Hol mir mal die
Haferflocken.“
„Was willst du denn?! Steh
doch selber auf…das ist so Hammer, das Video.“
„Welches Video?“
„Ein Tanzvideo.“
Boah, geil, Tanzen…
Du tanzt so wie du fickst.
Ich ficke gar nicht. Natürlich tanze ich auch nicht. Oder ne: Das war
andersrum. Du fickst so wie du tanzst. Ach, scheiß doch drauf.
„Warum rede ich dauernd von
Essen. Ich hab auch ne Essstörung. Ich bin das Gegenteil von magersüchtig.“
Dann kommen auch noch die
Geißens.
„Boah, die nerven so“, sagt
Mari.
„Robääärt“, mache ich die
alte Geiß nach.
„Gleich kommt Dirty Dancing, freust du dich schon.“
Boah, ey.
„Ich denk, du wolltest nix
mehr sagen.“
„Boah, leck mich am Arsch.“
„Dirty Dancing…“
„Karsamstag…“
„Jeder Sender sagt was
anderes, wie das Wetter wird…“
„Hoffentlich wird’s
schlecht. Sobald du hier raus bist. Morgen Nachmittag. Hoffentlich gibt’s dann
Hagel, und Regen, und Schnee. Und am schlechtesten soll das Wetter am Dienstag
werden. Da wünsch ich mir ein Erdbeben. Genau, das ist es! Ein Erdbeben! Aber
nicht in Deutschland. In Ecuador. In Ambato.“ Ich richte mich auf, im Bett,
falte die Hände, so als würde ich beten. „Bitte ein Erdbeben. Ein
Riesenerdbeben am Dienstag…“
Das verhagelt ihr bestimmt
den Geburtstag.
„Ich muss auf Klo.“
…
„Jetzt fängt’s an.“
Und schon erklingt die Dirty-Dancing-Musik. Scheiße…
„Oh, nein. Scheiße!“
„Den hab ich mit der Mama
auch mal geguckt.“
…
„Boah, ich hasse diesen
Film!“
Es
war im Sommer 63. Alte nannten mich Baby.
Leck mich am Arsch. Baby,
leck mich am Arsch. An meinem fetten, pickeligen, mittelaltrigen Arsch.
„Boah, ich hasse Tanzfilme.“
„Wieso hast du Tanzfilme?“
„Tanzfilme und Liebesfilme.“
…
„Weil Tanzfilme immer
Liebesfilm sind.“
…
„Gibt’s keine
Hardcore-Tanzfilme? Keine Horrortanzfilme…“
…
„Wo die sich gegenseitig
tanzend umbringen…“
„Boah, ich liebe Tanzfilme.
Kennst du Honey?“
„Honey klingt auch so nach Liebe.“
Nur so ein bisschen. Doch,
ich glaub schon…“
Ob ihre Mutter den auch
guckt. Mit ihrem neuen Stecher. Der steckt ihr dann in der Mitte des Films
einen rein. Eine Latte Macchiato. So wie ich damals. Als wir die Mafia-Filme
geguckt haben. Aus Südamerika. Vorne und hinten. Ganz schnell fällt der Slip…
…und er flutscht in sie
rein.
Bei dem ist sie auch feucht.
Nicht, wie bei dir.
Mehr, mehr
Mehr Scheiß
…das
die immer so widerlich angeben müssen…
„Recht hast du! Tänzer sind
voll die Angeber!“
Bestimmt, weil die’s im Bett
nicht bringen. Deswegen tanzen die die Frau vorher tot. Dann müssen die die
nicht mehr fucken, hinterher. Dann ham die eine gute Ausrede. Weil die alle
impotent sind. Impotente Wichser…Moment mal…wie können Wichser denn impotent
sein? Ist das nicht ein Widerspruch an sich? Ach, scheiß doch drauf.
„…jetzt geht die zur Party.“
„Ich hol mir gleich ein
Gyros.“
Schon wieder Essen. Leck
mich am Arsch!
„Meinst du, der hat heute
auf?“
„Was?“
„Der Gyros-Fritze.“
„Nö, ich glaub nicht.“
„Boah, am Montag hol ich mir
so ein Gyros.
…
„Wenn ich Trinkgeld kriege…“]
„Die ham versucht, den zu
verklagen, den Knausgard. Der Onkel. Und die Frau hatte einen
Nervenzusammenbruch…“
…
„…ich will auch mal einen
Nervenzusammenbruch haben…“
…
„…ist mir nicht vergönnt.“
„Ich brauch ein Kissen.“
„Hol ich dir. Gleich, wenn
ich zu Ende gezockt hab…“
Das kann noch dauern…
„Ich muss jetzt eh
aufstehen…“
„Bring mir die Haferflocken
mit. Und einen Löffel.“
„Die kannst du nicht so
essen.“
„Doch. Egal.“
Sie holt sie mir wirklich
und sagt: „Haferflocken ham viele Kohlenhydrate.“
„Egal.“
Sie ist so ein gutes Kind.
Nur leider geschieden…äh…getrennt.
Auf dem Weg zurück fällt ihr
das Glas runter, das sie auf die Bettkante gestellt hat. Das ich auf die
Bettkante gestellt habe. Ich bleibe cool. Eiskalt. Das ist mein neues Ich.
Eiskalt. Cool. Was soll ich auch sonst machen. Mit ihr schimpfen. Sie hat
schließlich die Macht im Scheidungskrimi. Als Zünglein an der Waage. Als
Kindlein an der Waage. Da kann ich mich wohl kaum mit ihr anlegen. Bin ja nicht
verrückt.
Ich putze sogar den Boden
für sie. Spiel den fürsorglichen Vater. Der ich ja auch bin. Und das hab ich
davon. Ich wurde entsorgt. No More Mr.
Nice Guy!
…für
jedes Problem gibt es eine Lösung…
Dein Wort in Gottes Ohr!
Im Film redet Baby mit ihrem
Vater über das Geld für die Abtreibung. Er gibt es ihr.
Die hatten noch Werte
damals, in der Zeit, in der Dirty Dancing
spielt. Da hat die Familie noch was gezählt. Heute ist das doch alles…
Boah, ich hör mich schon an
wie…
Ist aber doch auch wahr…
Boah, dieser Film fuckt mich
sowas von ab.
Wie Nadine mir damals
versucht hat, Tanzen beizubringen. Am Anfang unserer Beziehung. Beziehung kommt
von beziehen…Stellung beziehen, im Scheidungskrieg…eine neue Wohnung
beziehen…ach, leckt mich doch…beziehen.
„Ich fand die voll sexy
früher.“
„Ja?“
„Ja.“
„Die Blonde?“
„Die andere. Nicht die
Blonde. Sehe ich so aus, als würde ich auf Blonde stehen?!“
Dann kommt die Werbung. Und
die Vorschau für den Gladiator. Geil.
„Geil! Ich liebe diesen
Film…“
Der verletzte Ehemann und
Vater, dessen Frau ihn zwar nicht verlassen, sondern getötet wurde, aber…
Wie der alleine in die Arena
geht und diesem Typen den Kopf abschlägt. Diese Wut. Wie der tötet…
Du willst so töten können.
Haha.
„Geil. Den guck ich am
Sonntag.“
Alleine. Wenn ich allein
bin. Und ich bin wieder allein, allein…
„Zum Glück kommt der nicht
heute, haha.“
„Den würdest du auch mögen.“
Sonntag…Scheiße, da bin ich
alleine, den ganzen Tag. An einem Feiertag. Ohne Arbeit. Horror. The horror, the horror. Das Grauen, das
Grauen.
„Da muss irgendjemand krank
werden auf der Arbeit. Sonst sterbe ich, wenn ich Sonntag nicht arbeite…und
alleine zu Hause bin…“
Am Ende setze ich mir die
Kopfhörer auf und höre spanischen Fußball. Und sie guckt alleine. Neben mir
zwar, aber alleine. Das ist nicht gut, das sollte ich nicht tun. Sie braucht
auch Anerkennung, genau wie ich. Genau wie alle. In diesem Alter. Besonders in
diesem Alter. Ich spiele Cossacks,
mein Spiel, das ich schon seit Jahren spiele. Vielleicht ist daran meine Ehe
kaputtgegangen. Ich höre nur ein Geräusch wie Nägelkauen. Immer wieder. Oder
bilde ich mir das nur ein. Keine Ahnung. Warum sollte sie nervös sein.
Nachdem schon fast der
gesamte Film gelaufen ist, nehme ich endlich die Kopfhörer ab und höre auf zu
spielen.
Sie sagt: „Jetzt kommt das
Finale.“
„Ok, ok.“
Wenn’s sein muss…Das muss
ich gucken. Sie will auch, dass ich das gut finde, was sie gut findet. Sie will
auch Anerkennung. Genau wie ich. Hoffentlich kriegt wenigstens sie sie. Wenn
ich schon keine bekommen habe.
Und das Finale ist wirklich
schön. Wie oft habe ich diesen Film gesehen. Tausendmal. Ich habe damals auch
auf so ein Ende gehofft. Jetzt bin ich 39, fast geschieden, einsam und mit
Billigjob. Ich wollte auch immer die Frauen haben, denen ich unentwegt in die
Augen geguckt habe. Und bekam Nadine. Nach 19 Jahren. Meine erste und letzte
Frau (wenn man mal von Concha absieht). Ich wollte auch wie Johnny sein. Der
ist jetzt tot. Ich wollte auch dazugehören. Tat ich aber nicht. Genau wie
Johnny.
„Boah, ich hab den so oft
gesehen. Genau wie den Frühstücksclub.
Den hab ich noch öfter geguckt. Das ist der Film aller Außenseiter. Also nicht
deiner, María, den du bist ja keine Außenseiterin…“, lache ich. „Aber meiner.
Mein Film. Ich war ein Außenseiter.“
Der gehofft hat, dass er wie
Johnny die große Liebe findet. Oder irgendeine Liebe. Dabei ist dann mit 19
deine Mutter herausgekommen. Jetzt weiß ich, dass sie die große Liebe war.
Jetzt, wo es zu spät ist.
Alle sind im Saal
versammelt. Den Saal, den Johnny bald mit seinen Freunden stürmen wird. Um sein
Recht einzufordern, den letzten Tanz zu haben.
Am Ende wird alles gut. Wie
im wahren Leben. Johnny darf tanzen. Mit Baby. Ihr Vater sieht ein, dass er
nicht für die Schwangerschaft der Blondine verantwortlich ist, entschuldigt
sich bei ihm.
„Und alle sehen ein, dass
sie einen Fehler gemacht haben… Wie schön. Wie im wahren Leben.“
María sagt nichts. Sie ist
eh müde.
Im Film tanzt der schwarze
Kellner mit, die Mutter von Baby sagt: „Das hat sie von mir.“
„Das ist gut…wo die Mutter
das sagt. Von wem auch sonst“, sage ich. Wie ein Idiot. Ein imbécil.
Du kannst gar nicht
hingucken, denkst nur an Taylor Swift, wie sie Never grow up singt. Aber
du bist auch nicht so schnell erwachsen geworden. Das war nicht das Problem. Am
Ende werden wir alle erwachsen, ob es mit 25 oder mit 39 passiert, es passiert.
Es passiert sowieso. Da kann man nichts machen. Da kann man nichts dran ändern.
Egal, wie sehr man sich dagegen wehrt. Am Ende werden wir alle erwachsen.
„Und, freust du dich schon
auf deinen Geburtstag morgen? Dann bist du 17“ Schon 17. Fast erwachsen. „In 1
½ Stunden bist du 17…eigentlich bist du ja um zwölf geboren. Ich weiß das noch.
Ich hatte dich als Erster…ich hab dich als Erster auf den Arm genommen, haha.“
…
„…nachdem die dich gewaschen
hatten…ich war voll geschockt… Ich, Vater? Aber es war schön. Du warst schön
bist schön