Donnerstag, 6. Oktober 2016

Paranoia










Der Reis schmeckt so verdammt nach dem, was Nadine früher immer gekocht hat, dass er einen Moment lang denkt, sie könnte vielleicht sogar hier gewesen sein und gekocht haben. Für seine Tochter, ihre  gemeinsame Tochter. Aber vielleicht auch für ihn – obwohl das nicht so wahrscheinlich ist. Vielleicht ist sie ja hier, wenn er nicht da ist, wenn er abends arbeiten muss. Und deswegen ist María immer so gut gelaunt, wenn er sie schuldbewusst von der Arbeit aus anruft. So fröhlich. Was er gar nicht erwartet. Vielleicht macht es ihm ja deswegen nichts aus, dass er so oft nicht da ist. Das Gefühl hatte er, ehrlich gesagt, schon öfters; aber kann er wirklich seinem Gefühl vertrauen? Seinem Bauchgefühl? Er weiß es nicht, eigentlich weiß er gar nichts mehr, seit der Trennung. Titscht nur noch irgendwie so halb betäubt durch das Leben. Aber wenn er auf seinen Bauch hören würde, wenn er seinem Bauchgefühl vertrauen würde, dann ist sie nicht ganz so allein wie er sich das mit seinem schlechten Gewissen vorstellt. Vielleicht hat sie ja auch einen Freund? Wär ihm egal. Aber ehrlich gesagt wäre ihm ihre Mutter lieber, auch wenn er weiß, dass er sich das wahrscheinlich nur wieder einbildet. So wie der verrückte Herd, den sie versucht hat, aus der gemeinsamen Wohnung zu klauen, als er auf der Arbeit war. Oder der Fernseher, bei dem sie erfolgreicher war. Wieder als er Samstagabend arbeiten war. Also warum sollte sie nicht hierhin kommen, wenn er nicht da ist

Aber dann würde er das bestimmt riechen. Und das tut er nicht. Seiner Nase macht keiner so schnell etwas vor. Wenn María aus dem Haus ist, dann geht er nach Grasse, das hat er ihr schon gesagt, und stellt Parfüm her. Wird zum Massenmörder an ortsansässigen Latinas, die er häutet, um aus ihnen Parfüm zu machen…Er würde sie doch riechen? Oder doch nicht? Manchmal stellt er sich auch vor, sie liegt in seinem Bett wenn er nicht da ist und schnüffelt an seiner Decke, um seinen Geruch zu riechen (viel Spaß, denn die wurde seit gut 3 Wochen nicht mehr gewechselt!). Heute hat er sogar kurzzeitig gedacht, sie würde in seinem Bett liegen und auf ihn warten, wenn er nach Hause kommt. Er würde sie zuerst gar nicht bemerken und sie würde ihn erschrecken. Zuerst würde er sie rauswerfen wollen, aber dann würde er ihr doch erlauben – in seinem unendlichen Großmut und seiner noch größeren Naivität – die Nacht bei ihm zu verbringen. Wie edel

Aber als er um zwei Uhr nachts nach Hause kommt, wartet da nur der mysteriöse Reis und eine Packung Gebäckstangen (mit Zwiebelgeschmack) auf ihn, die die Leere in ihm nur temporär zu füllen vermögen.











Mittwoch, 5. Oktober 2016

Wechselmodell









„Ich wusste nicht, ob du kommst…“

„Heute ist doch Montag…“

Stimmt. Heute ist Montag. Definitiv.

„Ne, weil heute Feiertag ist. Ich dachte, da bleibst du bei Mama…“

Jetzt redest du dich wieder um Kopf und Kragen.

Sie sagt erst nichts, dann:

„Ich komme heute Abend, ok?!“

„Ok.“

Schön. Gut. Perfekt. Wunderbar. Eine Oase in der Wüste. Licht am Ende des Tunnels. Hey, das Wechselmodell funktioniert wirklich wie ein Uhrwerk. Das Wechselmodell funktioniert




(Montagabend)


Sie sitzt auf dem Stuhl vor dir, an eurem alten Esstisch, und lernt für Mathe, während der Fernseher läuft.



Du willst ihr sagen, dass du ihre Mutter noch liebst, trotz allem, was sie dir angetan hat, was ihr euch angetan habt. Dass du sie noch immer liebst, sie immer lieben wirst, bis an dein Lebensende. Aber was würde das ändern, wenn du ihr das sagen würdest?! Nichts.

Nadita, murmelst du immer wieder, so leise, dass sie es nicht hören kann. Aber laut genug, dass es für dich hörbar ist.

Es würde nichts bringen, ihr das zu sagen. Es würde nichts ändern. Gar nichts. Also schwiegst du.

Wie ihre Mutter, die ebenfalls schweigt. Wie sie selbst, die genauso gut schweigen kann wie du. Viel besser als du, wenn du ehrlich bist.

Und so sagt niemand, was er denkt und alle leben so weiter, nebeneinander her, schweigend, nichts sagend.

„Du musst nur was sagen, wenn du das wirklich nicht kannst. Dann organisiere ich eine Nachhilfe für dich.“

„Mmh.“

„Aber du kannst das ein bisschen, ne?!“

„Mmh.“

Wie gerne wärst du jetzt mit ihrer Mutter zusammen. In eurem alten Bett. Aber wer will schon alte Ehebetten?!











Dienstag, 4. Oktober 2016

Versorgungsausgleich eines Lebens









Wie du so die Formulare für die Scheidung, für den Versorgungsausgleich ausfüllst – wie das so schön im Juristendeutsch heißt –, für Zeiten, die schon ewig lang vorbei sind, siehst du dein ganzes Leben an die vorbeifliegen: Dein Abitur, dein Studium in Bonn und dann in Schottland, deine Zeit danach in Bonn, mit Nadine und María, all die Jahre, die vergangen sind seit du so unschuldig-naiv warst, nach Ecuador zu fliegen und sie zu heiraten.

not a care in the world

oh darling don’t you never grow up


Und unweigerlich denkst du: Ist das jetzt schon alles? War das wirklich alles? War es das jetzt schon? Wirst du jemals wieder unbeschwert lieben können? Unbeschwert leben können? Das Leben genießen? Wirst du jemals wieder der kleine schüchterne Junge sein, der trotz seiner Angst die Welt noch positiv gesehen, noch Träume hatte, große Träume, noch an Liebe glaubte

Das erinnert dich an Taylor Swift. Nach der Trennung hast du die rauf und runter gehört. Alleine im Wald. Die und Adele, direkt danach, direkt nach Ground Zero. Dieses eine Lied…wie heißt das noch mal…ich hab’s: Never grow up. Das ist so schön. So unschuldig. So traurig. Diese Stimme. Und dann fällt dir ein: Du hast es sogar auf dem Computer.

stay this little

stay this simple

won’t let nobody hurt you

won’t let anybody break your heart


Leider ist es schon passiert, Taylor, du warst zu spät


Du und Taylor, ihr hättet euch viel zu sagen.

Wenn sie mal nach Bonn kommen würde…



Du möchtest es in den Wind schreien, so dass es jeder hören kann:

WAR DAS ALLES? WAR DAS MEIN LEBEN? WAR DAS WIRKLICH ALLES, IHR ARSCHLÖCHER? IST DAS WIRKLICH ALLES, IHR WICHSER?

Wie in diesem Film mit Brad Pitt. Troya. Wo Brad so enttäuscht von allem ist, so tot. Nur seine Ruhe haben will. Wie jetzt

 wo er auch den Versorgungsausgleich machen muss








Montag, 3. Oktober 2016

Breakfast Club auf Deutsch










Der Typ setzt sich neben mich auf die Holzbank in der U-Bahn-Haltestelle. Obwohl er einiges getankt hat, fragt er sogar noch höflich, ob das okay sei. Natürlich, denke ich. Aber hoffentlich gehst du mir jetzt nicht auf die Eier. Hoffentlich…

Er fängt an zu reden, sagt: „Ich hätt ihm die gegeben, die 300 Euro Trinkgeld. Wenn ich 600 gewonnen hätte. Aber ich hab ja nicht gewonnen.“

Auch in der U-Bahn nach Bonn setzt er sich neben mich. Das heißt, genau genommen, setzt er sich gegenüber von mir hin.

„Ich geh ja nicht in die Spielhalle, um was zu gewinnen. Nur einfach um sozialen Kontakt zu haben…ich komm ursprünglich aus Bonn.“

„Sind Sie hier geboren?“

„Ja. Du auch, ne?!“

„Ja.“

„In Berlin war ich Dozent. Ich bin hierhin zurückgekommen, um meine Mutter zu pflegen. Geld ist kein Problem, aber ich mache nichts hier.“

Du Glücklicher, denke ich einen Moment lang. Dass für dich Geld kein Problem. Ich wünschte, ich hätte deine Probleme.

„Aber ich kenn hier keinen. Mit den Leuten von damals hab ich nicht mehr viel zu tun. Ich war 19 Jahre in Berlin. Da kennt man keinen mehr. Ich will einfach nur nette Leute kennen- lernen.“ Er strauchelt einen Moment lang, dann sagt er: „Den sozialen Kontakt. Der fehlt mir hier. In Berlin ist das anders. Deswegen gehe ich in die Spielhalle.“

Scheiße. So gerne hätte ich deine Probleme doch nicht…wenn ich genau darüber nachdenke, dann habe ich mehr von deinen Problemen als mir lieb ist. Aber das sage ich dir doch hier nicht, nachts in der Bahn, umgeben von fremden Leuten. Aber lass dir eins gesagt sein: Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich verstehe.

Aber sagen tue ich nichts. Das wär dann doch zu viel des Guten. Aber noch lange nachdem er vier oder fünf Haltstellen weiter aussteigt, denke ich über das nach, was er gesagt hat. Recht hat er. Mir fehlt auch der soziale Kontakt in Bonn. Seit meine Frau gegangen ist (das hört sich an wie im Film). Eigentlich schon immer. Vielleicht kann man den hier auch gar nicht finden. Vielleicht muss ich echt nach Spanien.

Ich möchte ihn wiedersehen. Mich überkommt der Wunsch, ihn in die Arme zu nehmen, mich mit ihm auszuheulen. Deswegen war der immer so komisch, als der zu uns gekommen ist. Weil das Spiel den echt nicht interessiert. Nicht, weil er besoffen war. Wenn ich dir aus meinem Leben erzählen würde... Dann würdest du mich bedauern. Oder auch nicht. Insgeheim hoffe ich sogar darauf, dass er morgen – wenn ich Frühdienst habe – kommt. Als ich in mein müffelndes Zimmer komme, fantasiere ich sogar darüber, dass ich mit ihm einen Klub gründe. Den Klub der Einsamen, der Außenseiter.