Freitag, 9. September 2016

Liebe in Zeiten der Cholera







 



Er denkt: Wenn sie heute Abend zu ihm zurückkommen würde, er würde sie ohne Wenn und Aber zurücknehmen.


(und es würde wieder schiefgehen)


So dumm kann auch nur er sein. Oder so verzweifelt. 

Oder so romantisch? So hoffnunglos romantisch? So hoffnunglos männlich?


Gestern hat er zu seiner Tochter im Bus nach Hause gesagt: In diesem Buch, Liebe in Zeiten der Cholera, wartet dieser Typ, keine Ahnung wie der heißt, auf jeden Fall wartet der 51 Jahre, 9 Monate und 4 Tage auf diese Frau.

Dann hat er fast unter Tränen hinzugefügt: Die mittlerweile mit einem anderen verheiratet war und Kinder hatte und alles. Er kommt drei Tage nach der Beerdigung wieder und sie weist ihn wieder ab.

Aber dann kommen die echt wieder zusammen.

Aber das ist natürlich nur ein Buch. Nur Literatur. Nur Fiktion. Ich hab das auch nie zu Ende gelesen

Und dann hat er gesagt: Zuerst haut der ab…

…reist den Fluss runter…

…aber dann hält er es nicht mehr aus…

…und kommt zurück…

Und auf der Rückfahrt verführt er eine Frau nach der anderen…

…führt darüber peinlich genau Buch…

…bis er tausend Frauen hatte…

…und dann, als der Ehemann seiner Angebeteten, auf die er so lang gewartet hat, stirbt, kommt er wieder zurück…

…klopft an ihre Tür…



Am nächsten Tag, mittags, als seine Tochter von der Schule kommt, sagt er zu ihr: Der wartet 51 Jahre, 9 Monate und 4 Tage…

…und heißt Florentino Ariza…

…und ist Postbeamte…

…oder Telegraph…

„Ja?“

„Du weißt aber direkt wovon ich rede!“


„Was redest du da?“










Alte Wunden
















In Letzte Spur Berlin läuft das Lied Hurt. Von Johnny Cash. Und reißt alles wieder auf. Alles. Die Folge handelt von einem Ehepaar, das nie über den Verlust ihres Sohnes während eines Ägypten-Urlaubs hinweggekommen ist. Das Lied beginnt als beide in ihrem Auto sitzen und mit einem Plastikrohr im Auspuff, das mit der Fahrerkabine verbunden ist, Selbstmord begehen wollen.

Ja, Verlust ist immer schwierig. Und wenn jemand von heute auf morgen nie wieder ein Wort mit einem redet, dann ist das wie der Tod. So als wär man gestorben, obwohl man noch lebt, das Leben tagtäglich an seinem Leiden spürt...vielleicht so stark wie noch nie zuvor

obwohl der andere noch lebt, keine fünf Kilometer von hier und doch so weit weg


Das Lied reißt alles wieder auf. Das hast du damals gehört. Als sie gegangen ist. Das weißt du noch. An dem einen Tag. Dem Montag. Dem Dienstag, wo María gekommen ist. Und bei dir in der alten Wohnung geschlafen hat. Das war das Lied aus dem Film La Colombiana. Wie das wohl auf sie gewirkt haben muss. Ihr Vater jenseits des Flurs im Schlafzimmer ihrer Eltern. Ihres Vaters. Sie in ihrem Kinderzimmer. Ihrem alten Kinderzimmer. Obwohl sie kein richtiges Kind mehr war. Jetzt, nach der Trennung ihrer Eltern. Wie sie sich wohl gefühlt hat. Wie du hat sie an ihrer alten Wohnung festgehalten. Trotz dauerndem Ärger mit ihrem Vater. Dauerndem Streit. Sie hat immer zu ihm gehalten. Danke. Obwohl ich zu schwach bin, dir das zurückzugeben. Wie sie sich wohl gefühlt hat? Ob sie auch geheult hat, heimlich in ihrem Zimmer, das bald nie wieder ihr Zimmer sein würde, abends im Dunkeln, ihr Vater am Schluchzen wie ein Schlosshund. Hinter der Tür. Dazu die Musik von Johnny Cash. Die er am Ende von dem Film Colombiana gehört hatte, schon eine Woche bevor Nadine endgültig weg war. Sie hat immer zu ihm gehalten, war da, als Einzige; und keiner hat es ihr gedankt. Er nicht, ihre Mutter nicht. Niemand. Mit gerade mal 16 musste sie erwachsener sein als sie war.

Sie wusste ganz genau, dass ihre Mutter nicht zurückkommen würde, egal wie viel ihr Vater heulte oder schrie oder schwieg.

Alles hatte sich für sie geändert. Und dabei war sie selbst gerade erst 16 geworden.

…als sie ihren Vater jenseits des Flurs heulen hörte. Das war überhaupt nicht zu überhören. Und richtig trösten konnte sie ihn auch nicht

Das konnte niemand.

Das kann niemand

Oder doch: Es gibt jemand, der das kann, aber der will nicht. Will nicht mehr

Du warst es nicht Tochter, tut mir leid, aber dafür kannst du ja nichts, wie du da lagst, in deinem alten Zimmer und nicht einschlafen konntest, weil dein Vater jenseits des Flurs schluchzte wie ein Schlosshund. Dich traf keine Schuld. Eher das Gegenteil


du hast uns vielleicht sogar all die Jahre zusammengehalten. Danke











SMS-Daddy














Am Abend wird er plötzlich sentimental und schreibt seiner Tochter eine SMS:


Danke. Ich bin schwierig, aber ich hab dich immer lieb gehabt. Es wird auch wieder besser als jetzt.


Irgendwann

Doch dann überlegt er es sich anders und schickt die SMS doch nicht ab. Speichert sie lediglich in den Entwürfen. Hat fast Tränen in den Augen





 

Donnerstag, 8. September 2016

Schwänze, Knöpfe und Bäuche










Herr Müller befindet sich auf dem Weg zur Arbeit. Er sitzt in der U-Bahn, als sich plötzlich ein dicker Mann schräg gegenüber von ihm hinsetzt. Der Mann ist so dick, dass sich bei ihm nicht nur der Bauch wölbt, sondern auch der Unterleib. Das heißt, der obere Teil der Hose, da wo der Unterleib sitzt, dieser Teil über dem Gehänge, oberhalb des Hosenstalls, Sie wissen schon. Die sieht so gewölbt, so aufgebläht aus, die Hose, dass Herr Müller denkt: Wer weiß, was der für einen Schwanz hat. Nicht, dass der einen richtig dicken Schwanz hat. Ich meine, einen dicken auf jeden Fall, aber hat er auch einen großen? Einen langen?

Diese Obsession was dicke, große und lange Schwänze angeht, hat Herr Müller von seinem Schwager, der (wahrscheinlich) einen ebensolchen Schwanz hat. Zumindest hat er das immer zum Besten gegeben, damals.

Er schaut sich den mittlerweile sitzenden Mann näher an. Er trägt ein weißes Hemd mit dünnen rosa Streifen, hat eine Glatze. Sieht eigentlich ganz gepflegt aus. Seine Hose ist aus diesem beigefarbenen Cordmaterial, das in gewissen Kreisen sehr beliebt ist. Sie wissen schon. An den Füßen trägt er Sandalen mit Socken, Weiß oder beige.

Auf einmal wandert sein Blick wieder nach oben, in dem Schoß des Mannes. Im Sitzen sieht man die Wölbung nicht mehr so stark. Dafür aber den untersten Hemdsknopf, der auf ist.

Der ist auf! Scheiße! Da ist sogar der weiße, unbehaarte Bauch zu sehen! Scheiße!

Herr Müllers Hand gleitet unauffällig an seinem eigenen, ebenfalls rosafarbenen Hemd herab. Nein, sein Knopf ist nicht auf, aber fast. Zum Glück. Ihm passiert das nämlich auch immer. Obwohl er nicht so dick ist wie der Typ; der jetzt bemerkt hat, dass sein Hemdsknopf auf ist und ihn so unauffällig wie möglich schließt.


In der Unterführung in die Innenstadt denkt Herr Müller über den Mann in der Bahn nach, Dabei bemerkt er nicht, oder erst zu spät, dass sein eigener Knopf (da wo sein Bauch am dicksten ist, nun doch aufgegangen ist, obwohl er ihn in der Bahn noch sicher verschlossen hatte. Scheiße! Und er selber ist nicht so unbehaart am Bauch wie der Mann aus der U-Bahn. Scheiße! Unauffällig oder zumindest so unauffällig wie möglich versucht er ihn schnell wieder zu schließen, was ihm auch gelingt.

Wie peinlich! denkt er.



Kleine Sünden…



Und in der Bahn geht der Knopf gleich noch mal auf (wieder unbemerkt, wie soll es auch anders sein?!).



Kleine Sünden bestraft Gott gleich doppelt…








Traumdeutung: Orcas und Pützchens Markt








Ich träume davon, dass ich in Barcelona bin. Der Stadt meiner Träume. Nadine ist zu mir zurückgekommen, sitzt mit mir in meinem Hotelzimmer. Trotzdem fahre ich alleine zu einer Delfinshow. Mit einer Gruppe Deutscher, wie ich später feststelle. Wir fahren durch die ganze Stadt. Im Hintergrund sind die Vorstädte mit ihren riesigen Wohnblocks zu sehen. Da will ich hin, das hat mich schon immer fasziniert. Das wahre Barcelona, abseits von Touristenmassen und Meer. die Grafittis, die Blocks, die Gefahr. Ich weiß nicht, ob Nadine mitkommt. Ob sie mitkommen will. Wahrscheinlich nicht, denke ich. Das mochte sie noch nie, meinen Ghetto-Tourismus.
Am Ende fahren wir einen steilen Abhang herunter und mir wird ganz flau im Bauch. Wir kommen zu einem Becken, das nicht größer ist als ein normales Schwimmbecken im Freibad. Da sind voll viele Orcas drin, keine Delfine. Die dicken, eleganten Tiere sind schön, aber ich habe Angst. Ich scheine der Einzige zu sein, der Angst hat. Die sind gefährlich. Man kann sogar ihre Zähne sehen. Ein Kleinkind springt ins Becken und taucht unter den Orcas her. Das hat glaub ich sogar noch eine Windel an. Krass. Es taucht das ganze Becken entlang unter den Orcas her und taucht dann unversehrt am anderen Beckenrand wieder auf, obwohl keiner – oder? – das nicht erwartet hätte. Um nichts in der Welt würde ich einen Fuß in dieses Becken setzen. Stattdessen sitze ich am Beckenrand und bin traurig. Tieftraurig. Ich weiß nicht, warum ich alleine hierhin gefahren bin. Warum ich Nadine nicht mitgenommen habe. Das hätte ihr gefallen. Sie hat nicht so viel Angst wie ich. Oder doch? Ich sitze am Beckenrand und sehe den Kindern zu, wie sie ausgelassen spielen. Ich würde am liebsten heulen. Irgendjemand, ein Typ, setzt sich neben mich und sagt irgendwas. Ich weiß nicht mehr was. Warum habe ich Nadine eigentlich nicht mitgenommen, das habe ich doch sonst immer im Urlaub? Obwohl sie doch zu mir zurückgekommen ist? Obwohl wir doch Zeit miteinander verbringen sollten? Kostbare Zeit, die nie wieder zurückkommt. Ich will sie bei mir haben, so macht das keinen Sinn. Fast bin ich am Heulen, will mit keinem reden, nichts machen, nichts, bin traurig, total am Arsch


Dann wache ich auf, noch total aufgewühlt von dem Traum und sie ist natürlich nicht mehr da. Diese Woche ist Pützchens Markt geht laut Aussage ihrer, meiner Tochter „glaub ich nicht dahin“. Wie gerne würde ich mit ihr auf Pützchens Markt gehen, obwohl ich Pützchen hasse. Früher haben wir da in der Nähe gewohnt, keine zehn Minuten zu Fuß von Pützchen, von der drittgrößten Kirmes Deutschlands entfernt. Früher war alles besser. Sagt auch María, mit der ich gestern den ganzen Abend alte Lieder gehört habe, die sie – wie sie sagt – immer als Kind gehört hat, geliebt hat und an die sie sich noch erinnert. Im Laufe des kamen immer mehr alte Lieder aus der Versenkung hervor. Das war schön, aber warum habe ich Nadine nicht zu den Orcas mitgenommen, wenn sie wieder mit mir zusammen war? Oder bin bei ihr, mit ihr im Hotel geblieben?