Montag, 11. September 2017

Hintergrundbilder











Montag-Vormittag, vor dem Computer, fange ich auf einmal wieder an, auf Google Earth Spanien-Bilder für meinen Bildschirm-Hintergrund zu suchen. Keine Ahnung warum, eigentlich habe ich ja schon eine veritable Sammlung in der Dia-Show, die ich mir so eingerichtet habe, dass das Bild alle fünf Minuten wechselt. Im Zufallsmodus.

Obwohl die Bilder eigentlich alle ziemlich ähnlich sind: Das sind alles große, weite Aufnahmen, entweder von spanischen Stränden, vom Meer selbst oder von Straßen in spanischen Städte. Die nicht immer weit sind, aber doch die Weite irgendwie in sich tragen. Unbewusst. Meistens handelt es sich bei den Städten um Cádiz und Barcelona, die wie zwei Pole meiner Seele sind: die eine Stadt überschaubar, winklig, aber mit Europas bestem Wetter und schönsten Sandstränden gesegnet, die andere groß, wuselig und international. Aber auch Madrid, Valencia und sogar Pamplona kommen in meiner Sammlung vor.
 


Und heute fällt mein Blick aus irgendeinem Grund wieder auf den Puerto de Santa María, die Stadt gegenüber von Cádiz, auf der anderen Seite der Bucht, in der wir schon mal waren (als wir noch „wir“ waren). Und die ich seitdem in guter Erinnerung habe. Wegen ihres leicht verfallenen, leicht altmodischen, aber immer noch prachtvollen „kolonialen“ Charmes. Und so gebe ich „Puerto de Santa María“ auf Google Earth ein und bewege mich mit dem Mauszeiger übers Meer, bis ich ihn gefunden habe, den Strand, den ich heute auf Twitter gesehen habe. Öffne eins nach dem anderen die Fotos, die sich hinter diesen blauen Kästchen bei Google Earth verbergen, wie Überraschungseier, bei denen man nie weiß, was sich hinter ihnen verbirgt…

Ich bin auf der Suche…

Wonach, dass weiß ich nicht, aber es hat was mit der Weite des Meeres zu tun…

Mit der Sonne des Südens…

Mit engen Gassen im Dunkeln…

…in denen sich Menschen treffen, miteinander reden, biein Bier trinken, etwas essen…

Mit Häusern und Kirchen, die fast schon an Südamerika erinnern…

An diese Kolonialbauten in Südamerika…



Und so klicke ich mich in Google Earth immer weiter durch die Bilder auf der Karte, immer auf der Suche nach dem perfekten Meer, dem perfekten Strand, der perfekten spanischen Gasse. Aber so richtig werde ich nicht fündig. So richtig viele „perfekte“ Gassen in El Puerto de Santo María gibt es weder bei Google Earth noch in der Bildsuche bei Google selbst. Und da ich mittlerweile so viele Hintergrundfotos von Spanien habe, muss es dann doch schon die perfekte Gasse sein…

Vieles wird gleich wieder verworfen, aber viele Bilder, viel zu viele Bilder bleiben auch hängen, in meinem extra hierfür auf dem Desktop gespeicherten Ordner mit dem Namen „Hintergrund“. Wie zum Beispiel dieser Blick auf den Strand von einem Boot aus, auf dem man so schön die Tiefe des Wassers erahnen kann. Die unheimlich, aber zugleich wunderschöne Tiefe des Ozeans, des Atlantischen Ozeans. Des blauen, aber auch manchmal beängstigend grünen Wassers (grün macht mir irgendwie mehr Angst als blau). Die Weite des Himmels, an dem die Sonne gerade unter oder aufgeht, vor dem Hintergrund der majestätisch wirkenden spanischen Flagge am Heck des Bootes. Das Nachtleben in El Puerto, voller junger Leute, die essen, trinken, sich unterhalten.



Damals, in einer anderen, besseren Zeit, haben wir in dieser Pension gelebt, waren dort untergebracht, haben dort gelebt, unter der ein Restaurant war. Und abends, während wir im Bett lagen (Nadine und María waren schon am Schlafen und ich war noch wach, spielte Fifa 09), drangen die Stimmen aus dem Restaurant zu uns hoch. Das hörte sich an wie konstantes Bienengesumme…

Aber jetzt, im Nachhinein, war das richtig cool, so viele Leute, die da aßen, sich unterhielten, während du oben deiner Ersatzbefriedigung nachgingst und Fußball auf dem DS deiner Tochter spieltest. Wie ein kleines Kind. Warum bist du eigentlich nie runtergegangen…nicht unbedingt ins Restaurant vielleicht (dafür hättest du vielleicht kein Geld gehabt), aber vielleicht in die Stadt, an den Strand, an die Uferpromenade, die, wie du ein paar Jahre später feststellen solltest, proppenvoll von Leuten war, Einheimischen und Touristen zugleich? Warum nicht? Weil Nadine neben dir lag? Ja, das wird es wohl gewesen sein… Weil sie es nicht gut gefunden hätte…oder sich gerächt hätte, indem sie selber am nächsten Abend auf Streifzug gegangen wäre…was wiederum du nicht gut gefunden hättest…und da beißt sich die verheiratete Katze in den Schwanz und spielt lieber in der lauen, spanischen Nacht Fifa 09 bis zum Abwinken. Wobei du auch erfolgreich warst, keine Frage…

Du weißt noch, wie du mit dem Reiseführer in der Hand auf dem Klo saßt, im Hotelzimmer, und Nadine, die im Bett lag, all diese Ort zugerufen hast, die du sehen wolltest, die du für die nächsten Tage eingeplant hattest…

Cádiz, Gibraltar, der Affenfelsen, La Línea…



Und heute, an diesem wechselhaften Montag-Morgen, vor dem Computer, erinnerst du dich an all dies und lädst dir ein Foto nach dem anderen runter. Holst dir einen nach dem anderen runter, während das Leben woanders stattfindet. Während die Strände woanders von sonnenhungrigen Menschen, die Gassen woanders von Fisch essenden menschlichen Bienenschwärmen bevölkert werden.

Plötzlich, von der Erinnerung beflügelt, suche ich nach Bildern von El Puerto de Santa María, gebe den Namen der Stadt bei Google ein, dazu das Wort callejón beziehungsweise callejuela, was auf Spanisch soviel heißt wie Gasse. Oder auch einfach nur calle, Straße. Ich suche was ganz Bestimmtes: Ich will diesen besonderen Charme dieser leicht heruntergekommen, leicht bröckelnden, leicht verfallenen Häuser in El Puerto einfangen, die schon bessere Zeiten gesehen haben (von hier ist Columbus einst in die neue Welt aufgebrochen – hätte er es besser mal gelassen…), die aber in der Sonne, in der prallen südspanischen Sonne immer noch schön sind, immer noch diesen „Tod-in-Venedig-Charme“ ausstrahlen. Den Charme einer langsam untergehenden Welt, die aber immer noch so schön ist, dass es fast weh tut... In der Seele




Aber so viel finde ich gar nicht. Ein Foto im Regen. Mit diesen südspanischen Balkonen mit Vorbau, in Deutschland würde man „Wintergarten“ sagen, die es auch in Cádiz überall gibt. Und selbst im Regen hat das mehr Charme als Deutschland, mehr Geschichte, mehr Essenz. Mehr Leben. Ich finde sogar ein Bild, auf dem eine Kneipe oder Bar zu sehen ist, die El patio alemán heißt, der „deutsche Hof“, der in seiner deutschen Übersetzung schon mindestens die Hälfte seines Reizes, seines eigentümlichen encantos einbüßt. Außerdem ist er geschlossen. Und obwohl ich die perfekte andalusische Gasse nicht finde, vielleicht auch nie finden werde, weil es sie einfach nicht gibt, in der Realität, werde ich immer sehnsüchtiger, sehne mich nach dieser Wärme, diesem Licht, der nicht umsonst Costa de la luz heißenden Region. Diesem Leben


Und dann, auf einmal, wie ein Geschenk des Himmels an diesem grauen, hässlichen Montag, finde ich ein Bild einer Kirche direkt am Meer, das einfach der Wahnsinn ist. Die Kirche ist so sandfarben, so weiß, so sonnengebleicht, dass sie fast wie eine Erscheinung wirkt, wie eine Fata Morgana in der Wüste, eine Mirage. Sie steht direkt hinter dem wirklich fast genau gleichfarbenen Sandstrand, ist nur durch eine Mauer von ihm getrennt und von Palmen umgeben. Fast irreal. So als hätte sie sich wie ein Geisterschiff direkt aus dem Sand erhoben. Heller, fast weißer, makellos wirkender Stein, klare Formen, grüne Palmen. Und dahinter die Weite des Meeres, des Ozeans und des so unendlich blauen, südspanischen Horizonts. Ein Ort wie aus einem Traum. Als hätte Gott sich ein Denkmal gesetzt, inmitten der Strandbesucher. Das ist Wahnsinn…!, denke ich. So viel Schönheit… Es ist fast als wollte Gott mir ein Zeichen geben. Mit dieser Kirche am Meer

Und plötzlich denke ich: Warum tue ich mir das überhaupt noch an…das hier…dieses Leben hier? Wenn es doch so schöne Orte gibt, so viel Schönheit auf dieser Welt? Warum? Ok, das wäre nicht leicht, aber…
…aber alles ist machbar, wenn man nur will. Wenn man nur will. Ich bin jetzt vierzig. Wie lange habe ich denn noch? Wie viele guten Jahre habe ich denn noch? Noch weniger. Bis ich zu alt bin, um noch nach Spanien zu gehen. Dort einen guten Job zu finden. Egal welchen, Hautsache einen Job. Es gibt so schöne Orte auf dieser Welt, an denen du leben könntest, aber du bleibst hier, in dieser Hölle. Arbeitetest dich an Deutschland ab… Aber wofür? Du hast doch hier nichts mehr.  Immer wenn du so denkst, kriegst du dieses Gefühl unglaublicher Enttäuschung, unglaublicher Ernüchterung…

Das hier ist doch nicht das, was du willst. Alle leben das Leben, was sie wollen, nur du nicht…

Alle sind glücklich, nur du nicht…

Nur du musst immer zurückstecken, damit die anderen alle glücklich sind…

Es gibt so schöne Orte und du verschwendest dein Leben hier…

Das Einzige, was du hast…

Und wenn du tot bist, kannst du nicht mehr nach Spanien…

Du hast so keinen Bock mehr…

Du willst auch mal das machen, was DU willst…

Du willst auch mal leben…

Und leben kann man hier nicht…

Andere vielleicht, du aber nicht…

Du bist so durch mit Deutschland, hast hier so viele Enttäuschungen erlebt, nur Enttäuschungen…

Dieser Strand, diese Sonne, diese Sprache, dieses Leben (ich weiß, dass in Spanien nicht alles Gold ist, was glänzt, dass die auch eine Krise haben, aber…
…aber schlimmer als hier kann es ja nicht mehr werden…)

Du willst auch nicht mehr. Das wäre die Todesstrafe für dich. Hier bis zu deinem Lebensende bleiben zu müssen…



Und später an der Bahn denke ich:

Hier will mich niemand mehr. Meine Frau nicht, meine Tochter nicht, meine Eltern nicht…

…mein Chef in der Musikschule nicht, meine Nachbarn nicht, meine Schüler nicht und meine Kunden erst recht nicht…

Allen, wirklich allen, wirklich restlos allen, bin ich scheißegal. Ob ich lebe oder sterbe ist denen scheißegal

Also, was mache ich dann noch hier, in dieser Hölle, dieser Hölle auf Erden?!

ALSO, WAS MACHE ICH DANN NOCH HIER, IN DIESER HÖLLE, DIESER HÖLLE AUF ERDEN?!

(die sich Deutschland nennt…)


Und das Wichtigste ist: ich will auch nicht mehr!

UND DAS WICHTIGSTE IST: ICH WILL AUCH NICHT MEHR!

ICH WILL AUCH NICHT MEHR!


Vielleicht gibt es ja irgendwo einen Ort, irgendwo auf dieser großen, weiten Welt, wo jemand dich will…

(es ist nicht sehr wahrscheinlich, aber trotzdem…)


Hier ist er auf jeden Fall nicht, das zeigen die letzten nunmehr…fünfzehn Jahre (ja, 2002-2017, sage und schreibe schon FÜNFZEHN Jahre!)…

…scheiße, schon fünfzehn Jahre deines Lebens!


Irgendwo auf der Welt wird es doch jemanden geben, der dich will…

Bestimmt…

Der dich so nimmt, wie du bist…

Unverstellt und ungeschminkt…