Montag-Vormittag, vor dem
Computer, fange ich auf einmal wieder an, auf Google Earth Spanien-Bilder für
meinen Bildschirm-Hintergrund zu suchen. Keine Ahnung warum, eigentlich habe ich
ja schon eine veritable Sammlung in der Dia-Show, die ich mir so eingerichtet
habe, dass das Bild alle fünf Minuten wechselt. Im Zufallsmodus.
Obwohl die Bilder eigentlich
alle ziemlich ähnlich sind: Das sind alles große, weite Aufnahmen, entweder von spanischen Stränden, vom Meer selbst oder von Straßen in spanischen Städte. Die
nicht immer weit sind, aber doch die Weite irgendwie in sich tragen. Unbewusst.
Meistens handelt es sich bei den Städten um Cádiz und Barcelona, die wie zwei
Pole meiner Seele sind: die eine Stadt überschaubar, winklig, aber mit Europas
bestem Wetter und schönsten Sandstränden gesegnet, die andere groß, wuselig und
international. Aber auch Madrid, Valencia und sogar Pamplona kommen in meiner
Sammlung vor.
Und heute fällt mein Blick aus
irgendeinem Grund wieder auf den Puerto de Santa María, die Stadt gegenüber von
Cádiz, auf der anderen Seite der Bucht, in der wir schon mal waren (als wir
noch „wir“ waren). Und die ich seitdem in guter Erinnerung habe. Wegen ihres leicht
verfallenen, leicht altmodischen, aber immer noch prachtvollen „kolonialen“ Charmes.
Und so gebe ich „Puerto de Santa María“ auf Google Earth ein und bewege mich
mit dem Mauszeiger übers Meer, bis ich ihn gefunden habe, den Strand, den ich
heute auf Twitter gesehen habe. Öffne eins nach dem anderen die Fotos, die sich
hinter diesen blauen Kästchen bei Google Earth verbergen, wie
Überraschungseier, bei denen man nie weiß, was sich hinter ihnen verbirgt…
Ich bin auf der Suche…
Wonach, dass weiß ich nicht,
aber es hat was mit der Weite des Meeres zu tun…
Mit der Sonne des Südens…
Mit engen Gassen im Dunkeln…
…in denen sich Menschen
treffen, miteinander reden, biein Bier trinken, etwas essen…
Mit Häusern und Kirchen, die
fast schon an Südamerika erinnern…
An diese Kolonialbauten in
Südamerika…
Und so klicke ich mich in Google
Earth immer weiter durch die Bilder auf der Karte, immer auf der Suche nach dem
perfekten Meer, dem perfekten Strand, der perfekten spanischen Gasse. Aber so
richtig werde ich nicht fündig. So richtig viele „perfekte“ Gassen in El Puerto
de Santo María gibt es weder bei Google Earth noch in der Bildsuche bei Google
selbst. Und da ich mittlerweile so viele Hintergrundfotos von Spanien habe,
muss es dann doch schon die perfekte Gasse sein…
Vieles wird gleich wieder
verworfen, aber viele Bilder, viel zu viele Bilder bleiben auch hängen, in
meinem extra hierfür auf dem Desktop gespeicherten Ordner mit dem Namen
„Hintergrund“. Wie zum Beispiel dieser Blick auf den Strand von einem Boot aus,
auf dem man so schön die Tiefe des Wassers erahnen kann. Die unheimlich, aber
zugleich wunderschöne Tiefe des Ozeans, des Atlantischen Ozeans. Des blauen,
aber auch manchmal beängstigend grünen Wassers (grün macht mir irgendwie mehr
Angst als blau). Die Weite des Himmels, an dem die Sonne gerade unter oder
aufgeht, vor dem Hintergrund der majestätisch wirkenden spanischen Flagge am
Heck des Bootes. Das Nachtleben in El Puerto, voller junger Leute, die essen,
trinken, sich unterhalten.
Damals,
in einer anderen, besseren Zeit, haben wir in dieser Pension gelebt, waren dort
untergebracht, haben dort gelebt, unter der ein Restaurant war. Und abends,
während wir im Bett lagen (Nadine und María waren schon am Schlafen und ich war
noch wach, spielte Fifa 09), drangen die Stimmen aus dem Restaurant zu uns
hoch. Das hörte sich an wie konstantes Bienengesumme…
Aber jetzt, im Nachhinein,
war das richtig cool, so viele Leute, die da aßen, sich unterhielten, während
du oben deiner Ersatzbefriedigung nachgingst und Fußball auf dem DS deiner
Tochter spieltest. Wie ein kleines Kind. Warum bist du eigentlich nie
runtergegangen…nicht unbedingt ins Restaurant vielleicht (dafür hättest du
vielleicht kein Geld gehabt), aber vielleicht in die Stadt, an den Strand, an
die Uferpromenade, die, wie du ein paar Jahre später feststellen solltest,
proppenvoll von Leuten war, Einheimischen und Touristen zugleich? Warum nicht? Weil
Nadine neben dir lag? Ja, das wird es wohl gewesen sein… Weil sie es nicht gut
gefunden hätte…oder sich gerächt hätte, indem sie selber am nächsten Abend auf
Streifzug gegangen wäre…was wiederum du nicht gut gefunden hättest…und da beißt
sich die verheiratete Katze in den Schwanz und spielt lieber in der lauen,
spanischen Nacht Fifa 09 bis zum Abwinken. Wobei du auch erfolgreich warst,
keine Frage…
Du
weißt noch, wie du mit dem Reiseführer in der Hand auf dem Klo saßt, im
Hotelzimmer, und Nadine, die im Bett lag, all diese Ort zugerufen hast, die du
sehen wolltest, die du für die nächsten Tage eingeplant hattest…
Cádiz,
Gibraltar, der Affenfelsen, La Línea…
Und heute, an diesem
wechselhaften Montag-Morgen, vor dem Computer, erinnerst du dich an all dies
und lädst dir ein Foto nach dem anderen runter. Holst dir einen nach dem
anderen runter, während das Leben woanders stattfindet. Während die Strände
woanders von sonnenhungrigen Menschen, die Gassen woanders von Fisch essenden
menschlichen Bienenschwärmen bevölkert werden.
Plötzlich,
von der Erinnerung beflügelt, suche ich nach Bildern von El Puerto de Santa
María, gebe den Namen der Stadt bei Google ein, dazu das Wort callejón beziehungsweise callejuela, was auf Spanisch soviel
heißt wie Gasse. Oder auch einfach nur calle,
Straße. Ich suche was ganz
Bestimmtes: Ich will diesen besonderen Charme dieser leicht heruntergekommen,
leicht bröckelnden, leicht verfallenen Häuser in El Puerto einfangen, die schon
bessere Zeiten gesehen haben (von hier ist Columbus einst in die neue Welt aufgebrochen
– hätte er es besser mal gelassen…), die aber in der Sonne, in der prallen südspanischen
Sonne immer noch schön sind, immer noch diesen „Tod-in-Venedig-Charme“
ausstrahlen. Den Charme einer langsam untergehenden Welt, die aber immer noch so
schön ist, dass es fast weh tut... In der Seele
Aber
so viel finde ich gar nicht. Ein Foto im Regen. Mit diesen südspanischen
Balkonen mit Vorbau, in Deutschland würde man „Wintergarten“ sagen, die es auch
in Cádiz überall gibt. Und selbst im Regen hat das mehr Charme als Deutschland,
mehr Geschichte, mehr Essenz. Mehr Leben. Ich finde sogar ein Bild, auf dem
eine Kneipe oder Bar zu sehen ist, die El
patio alemán heißt, der „deutsche Hof“, der in seiner deutschen Übersetzung
schon mindestens die Hälfte seines Reizes, seines eigentümlichen encantos einbüßt. Außerdem ist er
geschlossen. Und obwohl ich die perfekte andalusische Gasse nicht finde,
vielleicht auch nie finden werde, weil es sie einfach nicht gibt, in der
Realität, werde ich immer sehnsüchtiger, sehne mich nach dieser Wärme, diesem
Licht, der nicht umsonst Costa de la luz heißenden
Region. Diesem Leben
Und
dann, auf einmal, wie ein Geschenk des Himmels an diesem grauen, hässlichen
Montag, finde ich ein Bild einer Kirche direkt am Meer, das einfach der
Wahnsinn ist. Die Kirche ist so sandfarben, so weiß, so sonnengebleicht, dass
sie fast wie eine Erscheinung wirkt, wie eine Fata Morgana in der Wüste, eine Mirage. Sie steht direkt hinter dem wirklich
fast genau gleichfarbenen Sandstrand, ist nur durch eine Mauer von ihm getrennt
und von Palmen umgeben. Fast irreal. So als hätte sie sich wie ein
Geisterschiff direkt aus dem Sand erhoben. Heller, fast weißer, makellos
wirkender Stein, klare Formen, grüne Palmen. Und dahinter die Weite des Meeres,
des Ozeans und des so unendlich blauen, südspanischen Horizonts. Ein Ort wie
aus einem Traum. Als hätte Gott sich ein Denkmal gesetzt, inmitten der Strandbesucher.
Das ist Wahnsinn…!, denke ich. So viel Schönheit… Es ist fast als wollte Gott
mir ein Zeichen geben. Mit dieser Kirche am Meer
Und plötzlich denke ich:
Warum tue ich mir das überhaupt noch an…das hier…dieses Leben hier? Wenn es
doch so schöne Orte gibt, so viel Schönheit auf dieser Welt? Warum? Ok, das
wäre nicht leicht, aber…
…aber alles ist machbar,
wenn man nur will. Wenn man nur will. Ich bin jetzt vierzig. Wie lange habe ich
denn noch? Wie viele guten Jahre habe ich denn noch? Noch weniger. Bis ich zu
alt bin, um noch nach Spanien zu gehen. Dort einen guten Job zu finden. Egal
welchen, Hautsache einen Job. Es gibt so schöne Orte auf dieser Welt, an denen
du leben könntest, aber du bleibst hier, in dieser Hölle. Arbeitetest dich an
Deutschland ab… Aber wofür? Du hast doch hier nichts mehr. Immer wenn du so denkst, kriegst du dieses
Gefühl unglaublicher Enttäuschung, unglaublicher Ernüchterung…
Das hier ist doch nicht das,
was du willst. Alle leben das Leben, was sie wollen, nur du nicht…
Alle sind glücklich, nur du
nicht…
Nur du musst immer
zurückstecken, damit die anderen alle glücklich sind…
Es gibt so schöne Orte und
du verschwendest dein Leben hier…
Das Einzige, was du hast…
Und wenn du tot bist, kannst
du nicht mehr nach Spanien…
Du hast so keinen Bock mehr…
Du willst auch mal das
machen, was DU willst…
Du willst auch mal leben…
Und leben kann man hier
nicht…
Andere vielleicht, du aber
nicht…
Du bist so durch mit
Deutschland, hast hier so viele Enttäuschungen erlebt, nur Enttäuschungen…
Dieser Strand, diese Sonne,
diese Sprache, dieses Leben (ich weiß, dass in Spanien nicht alles Gold ist,
was glänzt, dass die auch eine Krise haben, aber…
…aber schlimmer als hier
kann es ja nicht mehr werden…)
Du willst auch nicht mehr.
Das wäre die Todesstrafe für dich. Hier bis zu deinem Lebensende bleiben zu
müssen…
Und später an der Bahn denke
ich:
Hier will mich niemand mehr.
Meine Frau nicht, meine Tochter nicht, meine Eltern nicht…
…mein Chef in der
Musikschule nicht, meine Nachbarn nicht, meine Schüler nicht und meine Kunden
erst recht nicht…
Allen, wirklich allen,
wirklich restlos allen, bin ich scheißegal. Ob ich lebe oder sterbe ist denen
scheißegal
Also, was mache ich dann
noch hier, in dieser Hölle, dieser Hölle auf Erden?!
ALSO, WAS MACHE ICH DANN
NOCH HIER, IN DIESER HÖLLE, DIESER HÖLLE AUF ERDEN?!
(die sich Deutschland
nennt…)
Und das Wichtigste ist: ich
will auch nicht mehr!
UND DAS WICHTIGSTE IST: ICH
WILL AUCH NICHT MEHR!
ICH WILL AUCH NICHT MEHR!
Vielleicht gibt es ja
irgendwo einen Ort, irgendwo auf dieser großen, weiten Welt, wo jemand dich
will…
(es ist nicht sehr
wahrscheinlich, aber trotzdem…)
Hier ist er auf jeden Fall
nicht, das zeigen die letzten nunmehr…fünfzehn Jahre (ja, 2002-2017, sage und
schreibe schon FÜNFZEHN Jahre!)…
…scheiße, schon fünfzehn
Jahre deines Lebens!
Irgendwo auf der Welt wird
es doch jemanden geben, der dich will…
Bestimmt…
Der dich so nimmt, wie du
bist…
Unverstellt und
ungeschminkt…