Donnerstag, 20. Oktober 2016

Fast zwei Jahre danach...












Ich weiß nicht, was schlimmer ist: Ein Vater, der nach fast zwei Jahren Trennung immer noch meiner Mutter hinterhertrauert, immer noch wie ein Geist umherschleicht, genau wie am ersten Tag nach der Trennung...

…oder eine Mutter, die schon zwei Tage nach der Trennung so tut, als wär nichts passiert, als hätte mein Vater nie existiert…

…beides ist irgendwie unheimlich…

…selbst in der Trennung sind meine Eltern zwei entgegengesetzte Pole...

…wie schon während ihrer Ehe…






Krankenwagen









Du stehst an der Haltestelle und wartest auf den Bus. Es ist ein kalter und regnerischer Oktobertag. Hundert Meter weiter steht ein Krankenwagen. Die Lichter blinken. Mitten auf der Straße steht der. Was für eine Frechheit! Eine Unverfrorenheit! Vor einem Haus. Vor einem dieser kleinen Reihenhäuser an der Hauptstraße. Einfamilienhäuser aus einer früheren Epoche. In zweiter Reihe. Und plötzlich machst du dir Sorgen. Deine Tochter ist laufen gegangen… 

Nicht, dass der was passiert ist…

Du guckst genauer hin, versuchst etwas zu erkennen, aber es ist nichts zu sehen. Nur das Blinken der verschiedenen Lampen auf der Rückseite des Krankenwagens. Die verschlossen ist.

Nicht, dass da jemand drinnen ist…

Wenn sie gestürzt ist oder wie an Weihnachten einfach so umgekippt ist oder über die Straße wollte…

 und sich nicht umgeguckt hat… Oder die sind in dem Haus. Oder da ist jemand drinnen. Und die können nicht fahren, nicht losfahren, bevor die ihn stabilisiert haben. Oder sie…

Du guckst dich um, denkst: Wenn sie laufen ist, müsste sie eigentlich an dir vorbeikommen. Das ist nämlich ihre Strecke, hier an der Hauptstraße entlang, in Richtung Stadt. Oder läuft sie woanders lang? Sie hat nichts gesagt

Wenn ihr jetzt was passiert wäre, meinst du, dass Nadine dann mit dir reden würde? Im Krankenhaus. Oder würde sie selbst in dieser Situation nicht mit dir reden? Kein Wort sagen? Noch nicht mal im gleichen Raum wie du sein wollen? Oder wäre das wie in diesen Filmen, diesen Fernsehfilmen im Ersten oder Zweiten, wo die Eltern durch ein Unglück (immer ein nicht-tödliches, denn dann ist es ja zu spät) wieder zueinander finden, wieder aufeinander zugehen, sich wieder langsam aufeinander zu bewegen? Oder würden wir sie beide abwechselnd besuchen, peinlich genau darauf achtend, dem anderen tunlichst nicht über den Weg  zu laufen, auch nicht durch Zufall? Vielleicht wär das ja eine Chance. Eine Chance für die Liebe.


du wärst eh 24 Stunden da, würdest die Wände hochgehen, wenn deine Tochter im Krankenhaus wär. So wie du bist.

So wie du bist…

Der Bus kommt und du setzt dich nicht hin, sondern stellst dich stattdessen links in den Raum, der normalerweise für Kinderwagen und Rollstuhlfahrer reserviert ist. So kannst du besser sehen, was da passiert ist. Der Bus fährt los und genau in diesem Augenblick kommen die Sanitäter (dein Vater nannte die damals immer „Sanitöter“) mit einer Trage aus dem Hauseingang vor dem der Krankenwagen steht. Nachdem  der Bus an dem Krankenwagen vorbeigefahren ist, kannst du sehen, dass auf der Trage ein dick eingepackter Körper liegt. Das wird wohl kaum deine Tochter sein, sonst hätte die ja jemand mit ins Haus genommen. Aus irgendeinem Grund… Zum Beispiel, weil sie auf dem Bürgersteig ohnmächtig geworden ist und es regnet… Du guckst noch mal hin. Es ist nicht zu sehen, ob die Person auf der Trage (früher hab ich die Trage immer mit der Bahre verwechselt) lebt oder nicht. Ob die eingewickelt ist, damit sie transportfähig und - fertig ist oder weil sie gestorben ist. Die könnte genauso gut tot sein.

Scheiße









Seufz









Sie stöhnt leise, als sie den Raum betritt.

Kaum hörbar, aber doch wahrnehmbar. Das ist nicht das erste Mal…

Oder ist das ein Seufzer?

Irgendwas dazwischen.

Schweigend setzt sie sich an den Esstisch, auf dem der große Fernseher steht, und fängt an wie wild auf ihrem Handy rumzutippen




Hast du gewaschen?

Ja, alles in deinem Zimmer. In dem Wäschekorb.




Sie tippt weiter auf ihrem Handy rum. Bis sie sagt: Ich geh jetzt laufen.

Ok.





Mittwoch, 19. Oktober 2016

Flüchtlinge









Ich sitze in der Kneipe, gucke Bayern – PSV und trinke ein Weizen. Ich hab jetzt seit Neujahr nichts mehr getrunken (seit ich aus dem Bus raus musste, weil ich die Fahrt nie geschafft hätte…und dann den ganzen Weg den Berg hochgelaufen bin, den ganzen Weg den Brechreiz und den Verdauungstrakt deines Körpers unter Kontrolle gehalten habe, nur um keine zwei Minuten zu kotzen und zu kacken, bis du nicht mehr konntest). Also lasse ich es heute langsam angehen, nippe nur leicht a meinem Bier, genieße das Spiel (nur ein fickiges 2:1 zur Halbzeit) und gucke mir die Nachrichten in der Halbzeitpause an (die haben noch nicht mal Sky hier und gucken das Spiel auf dem Zweiten!). Als dieser Typ, der neben mir sitzt und den einen oder anderen Bayern-Kommentar meinerseits gutgeheißen hat und mit mir angestoßen hat, plötzlich sagt:

„Was ich nicht verstehe…
...warum die alle flüchten. Ich mein, das sind alles junge Männer…warum kämpfen die nicht, warum verteidigen die nicht ihr Land, ihre Heimat, ihre Familie? Stattdessen kommen die hier hin…“

Er guckt mich an. Soll ich jetzt auch noch was dazu sagen, oder was?! Ich bin hier um Fußball zu gucken, ein Bier zu trinken und hab jetzt echt keinen Bock auf den Scheiß…

Aber wie immer lasse ich mich zu einer Antwort hinreißen:

„Da sind aber auch Frauen und Kinder dabei…“

Das hat er nicht erwartet, das sieht man an seinem Gesichtsausdruck. Aber wie immer bei mir hält das ihn doch nicht davon ab, weiter zu reden:

„Ja, ok, du hast recht“, sagt er und nimmt noch einen Schluck von seinem Bier. „Aber hier gab es ja auch Kriege. Wir hatten zwei Weltkriege hier! Ist da irgendjemand abgehauen?! Nein, die Deutschen haben gekämpft. Für ihr Land, ihre Freiheit, ihre Familie.“

Ja, aber das waren auch andere Zeiten…

„Ja, aber das waren auch andere Zeiten. Heute leben wir in einer globalisierten Welt...“

„Ja, ok, das waren damals echt andere Zeiten. Damals sind wahrscheinlich eher die Reichen, die Intelektuellen geflüchtet. Heidegger ist geflüchtet. Und Einstein. Und Freud. Die sind alle nach Amerika gegangen…

…aber trotzdem. Die Deutschen sind ja auch nicht weggelaufen. Die sind 1914 in den Schützengräben gestorben, die sind in Russland gestorben, im Atlantik versenkt worden…“

„Siehste mal“, sage ich mit einem genervten Lächeln, „wie doof wir sind. Wir hätten ja auch einfach weglaufen können.“

Er lacht, trinkt einen Schluck und sagt dann:

„Aber echt, ey: Wenn alle Deutschen abgehauen wären, dann wär der Hitler hier alleine gewesen. Aber die ham gekämpft. Die sind nicht in ein anderes Land gegangen und haben da die Leute noch belästigt, die Frauen…“

Der Gedanke an Hitler, der alleine versucht, die Rote Armee aufzuhalten, lässt mich innerlich lächeln. Aber trotzdem: Der Typ geht mir auf die Eier. Ich dachte, der wär nett. Das passiert immer. Du gibst denen den kleinen Finger und die wollen die ganze Hand. Außerdem kriegt der so nur Ärger. Die gucken schon, die von da drüben. Ich hab heute keinen Bock auf Ärger. Ich will nur Fußball gucken. Ich bin ja auch selber schuld. Warum gucke ich das nicht Zuhause. Das läuft doch bei den Öffentlich-Rechtlichen. Bei der Lügenpresse, wie der Typ sagen würde…

Aber ich habe einfach keine Ruhe verdient. Nach meinem halbwegs langen Arbeitstag.

„Aber eins hab ich gelernt: Ich kann echt keinen Respekt vor Typen haben, die hier auf dicke Hose machen, aber keine Eier haben, um ihr eigenes Land zu verteidigen, um für ihr eigenes Land, ihre Familie zu kämpfen… Warum geben die denen nicht für das Geld, was die hier kosten, jedem ein Gewehr und Ausrüstung und schicken die wieder zurück. Kämpfen! Die Männer zumindest. Die Frauen tauen dann bestimmt auch auf hier, wenn die erst mal alleine sind. Aber nein: Wer kämpft für die an der Front? Für die Kurden? Frauen! Und die Männer tun hier so, als wären sie Gottes Geschenk an Deutschland und besonders an die deutschen Frauen. Echt.“

Was soll ich jetzt dazu sagen, denke ich, was willst du hören. Aber zum Glück für mich und für ihn hat die zweite Halbzeit schon angefangen und ich muss nur mein halbleeres (oder halbvolles?) Glas in Richtung der Leinwand tippen und schon sind wir wieder im Spiel.

„Komm, Mann, das Spiel hat schon wieder angefangen. Das ist jetzt wichtiger!“


„Los, Bayern!“ Come on, motherfuckers.