Dienstag, 4. Oktober 2016

Versorgungsausgleich eines Lebens









Wie du so die Formulare für die Scheidung, für den Versorgungsausgleich ausfüllst – wie das so schön im Juristendeutsch heißt –, für Zeiten, die schon ewig lang vorbei sind, siehst du dein ganzes Leben an die vorbeifliegen: Dein Abitur, dein Studium in Bonn und dann in Schottland, deine Zeit danach in Bonn, mit Nadine und María, all die Jahre, die vergangen sind seit du so unschuldig-naiv warst, nach Ecuador zu fliegen und sie zu heiraten.

not a care in the world

oh darling don’t you never grow up


Und unweigerlich denkst du: Ist das jetzt schon alles? War das wirklich alles? War es das jetzt schon? Wirst du jemals wieder unbeschwert lieben können? Unbeschwert leben können? Das Leben genießen? Wirst du jemals wieder der kleine schüchterne Junge sein, der trotz seiner Angst die Welt noch positiv gesehen, noch Träume hatte, große Träume, noch an Liebe glaubte

Das erinnert dich an Taylor Swift. Nach der Trennung hast du die rauf und runter gehört. Alleine im Wald. Die und Adele, direkt danach, direkt nach Ground Zero. Dieses eine Lied…wie heißt das noch mal…ich hab’s: Never grow up. Das ist so schön. So unschuldig. So traurig. Diese Stimme. Und dann fällt dir ein: Du hast es sogar auf dem Computer.

stay this little

stay this simple

won’t let nobody hurt you

won’t let anybody break your heart


Leider ist es schon passiert, Taylor, du warst zu spät


Du und Taylor, ihr hättet euch viel zu sagen.

Wenn sie mal nach Bonn kommen würde…



Du möchtest es in den Wind schreien, so dass es jeder hören kann:

WAR DAS ALLES? WAR DAS MEIN LEBEN? WAR DAS WIRKLICH ALLES, IHR ARSCHLÖCHER? IST DAS WIRKLICH ALLES, IHR WICHSER?

Wie in diesem Film mit Brad Pitt. Troya. Wo Brad so enttäuscht von allem ist, so tot. Nur seine Ruhe haben will. Wie jetzt

 wo er auch den Versorgungsausgleich machen muss








Montag, 3. Oktober 2016

Breakfast Club auf Deutsch










Der Typ setzt sich neben mich auf die Holzbank in der U-Bahn-Haltestelle. Obwohl er einiges getankt hat, fragt er sogar noch höflich, ob das okay sei. Natürlich, denke ich. Aber hoffentlich gehst du mir jetzt nicht auf die Eier. Hoffentlich…

Er fängt an zu reden, sagt: „Ich hätt ihm die gegeben, die 300 Euro Trinkgeld. Wenn ich 600 gewonnen hätte. Aber ich hab ja nicht gewonnen.“

Auch in der U-Bahn nach Bonn setzt er sich neben mich. Das heißt, genau genommen, setzt er sich gegenüber von mir hin.

„Ich geh ja nicht in die Spielhalle, um was zu gewinnen. Nur einfach um sozialen Kontakt zu haben…ich komm ursprünglich aus Bonn.“

„Sind Sie hier geboren?“

„Ja. Du auch, ne?!“

„Ja.“

„In Berlin war ich Dozent. Ich bin hierhin zurückgekommen, um meine Mutter zu pflegen. Geld ist kein Problem, aber ich mache nichts hier.“

Du Glücklicher, denke ich einen Moment lang. Dass für dich Geld kein Problem. Ich wünschte, ich hätte deine Probleme.

„Aber ich kenn hier keinen. Mit den Leuten von damals hab ich nicht mehr viel zu tun. Ich war 19 Jahre in Berlin. Da kennt man keinen mehr. Ich will einfach nur nette Leute kennen- lernen.“ Er strauchelt einen Moment lang, dann sagt er: „Den sozialen Kontakt. Der fehlt mir hier. In Berlin ist das anders. Deswegen gehe ich in die Spielhalle.“

Scheiße. So gerne hätte ich deine Probleme doch nicht…wenn ich genau darüber nachdenke, dann habe ich mehr von deinen Problemen als mir lieb ist. Aber das sage ich dir doch hier nicht, nachts in der Bahn, umgeben von fremden Leuten. Aber lass dir eins gesagt sein: Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich verstehe.

Aber sagen tue ich nichts. Das wär dann doch zu viel des Guten. Aber noch lange nachdem er vier oder fünf Haltstellen weiter aussteigt, denke ich über das nach, was er gesagt hat. Recht hat er. Mir fehlt auch der soziale Kontakt in Bonn. Seit meine Frau gegangen ist (das hört sich an wie im Film). Eigentlich schon immer. Vielleicht kann man den hier auch gar nicht finden. Vielleicht muss ich echt nach Spanien.

Ich möchte ihn wiedersehen. Mich überkommt der Wunsch, ihn in die Arme zu nehmen, mich mit ihm auszuheulen. Deswegen war der immer so komisch, als der zu uns gekommen ist. Weil das Spiel den echt nicht interessiert. Nicht, weil er besoffen war. Wenn ich dir aus meinem Leben erzählen würde... Dann würdest du mich bedauern. Oder auch nicht. Insgeheim hoffe ich sogar darauf, dass er morgen – wenn ich Frühdienst habe – kommt. Als ich in mein müffelndes Zimmer komme, fantasiere ich sogar darüber, dass ich mit ihm einen Klub gründe. Den Klub der Einsamen, der Außenseiter.






 

Sonntag, 2. Oktober 2016

Weltverbesserer, Wutbürger und das arme Deutschland










Es ist kurz vor neun. An einem Sonntag-Morgen. Draußen scheint die immer noch erstaunlich starke September-Sonne, obwohl die Unberechenbarkeit des Herbsts und die Kälte des Winters schon deutlich zu spüren sind. Besonders nachts. Wenn es dunkel wird…

Im Radio reden sie über Syrien. Wieder einmal. Die Medien sind förmlich besessen von Syrien und dem Nahen Osten (woran das wohl liegt?).

Irgendeinen Scheiß reden die. Wie immer. Ist ja auch egal, was die sagen, es ist ja eh immer das Gleiche. Und er denkt, wie er so in seinem 8,50€-Job sitzt (der streng genommen noch nicht mal begonnen hat – denn es ist ja noch nicht neun!); das heißt, er denkt es nicht nur, er sagt es sogar zu sich selbst (nicht laut, das darf man ja nicht), aber deutlich: Diese ganze Kacke von diesen Weltverbesserer-Arschfickern. Die Gutmenschen. Diesen verfickten Gutmenschen. Immer die gleiche Scheiße. Diese Wichser! Du kannst es nicht mehr hören. Das. Das kannst du nicht mehr hören, echt nicht mehr. Wahrscheinlich glauben die echt noch daran, dass man die Welt verbessern kann, während sie ihren Kaffee trinken, der von kolumbianischen Drogen-Rebellen gefördert wird, ihre Autos fahren, deren Benzin den Krieg in Syrien befeuert, ihren Fisch (wir essen fast nur noch Fisch, kein Fleisch!), wegen dem die Weltmeere überfischt sind… Diese ganze Scheiße, die die labern. Diese Leute. Die Gabriel García Marquez kurz vor dem Original lesen (100 Jahre Einsamkeit natürlich nur bis zum Ende des ersten Kapitels), die im Che Guevara am Samstagabend gepflegt ihren Mojito oder irgendeinen anderen viel zu teuren Cocktail schlürfen, die in ihrem WG-Zimmer ein Poster mit einem fallenden Soldaten und der ebenso simplen und effektiven wie naiven Aufschrift Why? hängen haben (Why? Because we fucking die, that’s why?) und in ihrer Freizeit Haschisch rauchen, das natürlich ganz ohne Ausbeutung, Gewalt und Terror in Pakistan von Biobauern nach europäischen Standards angebaut wurde. Wie dieser Tilo von damals, der bei ihm in der WG in der Altstadt (dem SZENEviertel in Bonn, leckt mich am Arsch!) gewohnt hat. Was für ein Arschloch! Der wollte auch die Welt verbessern, mit seinen langen, filzigen Haaren und seinen Drogen und seinem Scheiß.

Obwohl, angesichts der Leute, die hier rumlaufen, die man tagtäglich in Bus und Bahn sieht, muss man sich natürlich fragen: Gibt es solche Leute überhaupt noch, in Deutschland, oder sind sie eine Erfindung der Medien, der Lügenpresse und existieren gar nicht mehr??

Doch, es gibt sie noch! Spontan fällt ihm Herr Baden ein, von damals. Der war auch einer von denen, obwohl er es noch nicht wusste: „Dir geht es zu gut. Das ist das Problem.“ Sagt der Mann, der ein komplett neues, riesiges Smartphone auf dem Tisch dieser langweiligen, schwulen Weinbar in der teuren, noblen Bonner Südstadt liegen hat, in der er mit mir sitzt, um sich meine Probleme anzuhören. Der finanziell abgesichert ist. Der ein Haus in Oberdollendorf, einen Porsche, eine nette (treue) Ehefrau und nette Töchter hat, die allesamt gute Jobs haben… Der das hier nur als Hobby macht – nicht weil er muss.

Fangt doch erst mal an, die Probleme vor eurer Haustür zu lösen, ihr Arschlöcher! Oder ist das zu nah an euch?! Too close to the bone?! Zu real?! Nicht exotisch genug?!

Hier gibt es Leute, die nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen, jeden Monat wieder aufs Neue. Leute, die sich nicht nur abgehängt fühlen, sondern es auch sind, die zu alt, zu unqualifiziert, zu wenig verdienen, zu viele Abgaben zahlen müssen, zu arm sind, die zu viele (arme) Kinder haben (obwohl eins ja manchmal schon reicht…), zu alleinerziehend sind, die keine „bezahlbare“ Wohnung finden, obwohl sie doch so viele verschiedene Jobs haben (also  quasi multi-employed sind), die zu wenig Rente bekommen (obwohl sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet oder Kinder erzogen haben), die kein Auto haben, kein Boot, kein Ferienhaus am Meer (noch nicht mal am beschissenen See!), die jeden Cent dreimal umdrehen, wenn mal wieder der Strom, die Heizkosten, die Krankenversicherung oder gleich alle drei zusammen ansteigen, die sich überlegen müssen, ob sie heute nicht mal auf den Latte verzichten sollten, weil ihr Konto schon wieder überzogen ist, weil sie Angst vor der Zukunft haben, die Schulden haben, die depressiv sind, einsam, verbittert, verknöchert, die keinen Spaß haben…und die vor allem keinen Bock mehr haben, sonntags morgens im Radio zu hören wie schlecht es der Welt geht. Und wie gut uns hier in Deutschland.

Und dann morgens unser Weltverbesserungs-Frühstücksfernsehen gucken und denken: Leck mich am Arsch, die reden mal wieder nur über…

Und sprechen es noch nicht mal laut aus, das was sie viel zu laut denken…obwohl sie alleine sind, ganz alleine, obwohl niemand sie hört, ihnen zuhört an diesem Sonntagmorgen. Weil man so etwas ja nicht sagen darf, in diesem Land. Nur hinter vorgehaltener Hand und in letzter Zeit gefühlt noch nicht mal das mehr. Seit die Öffentlich-Rechtlichen uns täglich sagen, was wir zu denken haben. Aber das russische Staatsfernsehen kritisieren... Donald Trump kritisieren… Die Bedingungen der Wanderarbeiter in China oder Minenarbeiter in Kolumbien kritisieren… Die bösen Ungarn kritisieren… Die Rechtspopulisten kritisieren… Ungesunde, fettige und süße Lebensmittel kritisieren… Dabei haben viele noch nicht mal eine Essstörung. Sie sind einfach nur arm und der Scheiß ist billig und füllt zumindest vorübergehend die Löcher in ihrer Seele.


Wie lange noch?!

Die kriegen ja auch davon nichts mit, die in Berlin, hat er letztens zu seinem Kollegen David aus dem Senegal gesagt. Der Christ ist und sagt, dass Deutschland ein Problem mit den Moslems hat. Dass Deutschland, ja sogar ganz Europa untergeht beziehungsweise sowieso schon so gut wie tot ist. Weil er das darf. Er ist ja schwarz. Da darf man das. Als Deutscher nicht. Also sind wir weiter arm. Weiter wütend. Und tun so als wären sie es nicht. Weil arm darf man nicht sein in diesem Deutschland. Unglücklich auch nicht. Wütend sowieso nicht. Rassistisch. Nein, denn…

Man darf noch nicht mal deutsch sein in diesem Deutschland. Muss sich für seine Nationalität immer noch schämen. Mehr als 70 Jahre nach dem Krieg. Man darf eigentlich gar nichts in Deutschland. Gar nichts sein. Am besten gar nicht erst (da)sein. Sonst kommt einen die Schwesig holen.


Armes Deutschland


Und wie auf Kommando läuft im Radio: Hör auf die Stimme! Hör, was sie sagt! Sie war immer da!

Und wenn du dann auf die Stimme hörst…







Samstag, 1. Oktober 2016

Mein Herzliches Beileid und Alles Gute










Im Bus sagt ein junger Typ mit Brille in sein Handy:

„Hat der geheiratet?“

„Dann schreib ich dem mal Alles Gute zur Hochzeit oder Herzliches Beileid oder…“

„Ich versteh dich ganz schlecht…“

Er legt auf und fängt an zu tippen.


Ach, wär ich doch nur damals so abgeklärt gewesen.


War ich aber nicht