Samstag, 23. April 2016

Drogen und Mafia in Bonn








Auf der Arbeit redet er mit dem alten Mann. Er freut sich ihn zu sehen, obwohl er ihn letztens um Geld angehauen hat. Was er gar nicht gut fand. Das zerstört jede Freundschaft, wenn der sich jetzt Geld bei dir leiht.

Am Anfang reden sie über Politik und dann kommt er irgendwie auf die aktuelle Situation in Mexiko zu sprechen. Mit der Drogenkriminalität. Mit dem Kokain.

Eigentlich genau sein Thema. Aber seit seiner Trennung irgendwie nicht mehr. Ist ihm doch egal, ob die sich da umbringen.. Umso besser, besonders, wenn unter den Opfern auch Ecuadorianer sind. Putos ecuatorianos. Nicht, dass er was gegen dieses äußerst schönen Land zwischen Pazifik, Anden und Amazonas hätte, aus dem zufälligerweise auch seine Ex kommt.

„…da steckt halt jede Menge Geld drinnen…“, beendet er seinen kurzen Diskurs über die Drogenproblematik in Mexiko, die ihm eigentlich ziemlich egal ist. Er hat davon nichts. Er kriegt von denen kein Geld. Obwohl die Gewalt ihn schon reizen würde…

…und die Macht…

…die Macht, seinen Schwager von der Brücke baumeln zu lassen, das wär schon ein interessanter Anblick. Aber…

Der alte Mann hat gestern mit einer Mexikanerin gesprochen, die nicht zurückgehen würde in ihr Heimatland. Um nichts in der Welt.

„…das ist ein schönes Land und alles, sagt die, aber viel zu gefährlich…die gehen dann zu dir nach Hause, wenn die ein Problem mit dir haben…“

Echt?!

Und dann sagt der alte Mann: „Hier in Bonn gibt es ja auch einen, der das macht.“ Seine Stimmte wird leiser, kryptischer. „…der den ganzen Transit organisiert…“

Und auf einmal ist er ganz Ohr, hellwach, fragt interessiert: „Echt?“

Der alte Mann scheint ihn nicht zu hören, macht eine bedeutungsschwangere Pause.

„Ein Latino“, fragt er leicht insistierend.

„Nein…“ sagt der alte Mann.

Er guckt ihn an, obwohl er fragen will: Was denn dann, ein Araber oder was?!

„Ein Deutscher?“

„Ja, der ist von hier. Der ist eigentlich bekannt…“

„Kenn ich nicht. Hab ich nicht von gehört. In diesen Kreisen bewege ich mich auch nicht…“

Obwohl das nicht ganz stimmt, denn schließlich ist deine Noch-Ehefrau aus Ecuador.

„Ja. Der ist weder besonders dumm noch besonders intelligent… Aber verheiratet mit einer besonderen kriminellen Energie.“

Sagt er wirklich verheiratet? Bin ich auch. Oder sagt er vermählt? Bin ich auch. Mit einer besonderen kriminellen Energie.“

„Doch, der ist bekannt.“ Er senkt die Stimme noch ein bisschen. „Der trägt Schuhe von 400 Euro, Lederjacke, die besten Klamotten, alles… Das sieht man bei dem…“

Kenn ich nicht. Die einzigen Deutschen, die ich in dem Bereich kenne, sind Spacken, die noch nicht mal bis drei zählen können und eher in die Richtung Triebtäter gehen, als Drogendealer. Geschweige denn Händler…

Ist der im Bonner Loch?

„Ne, nicht im Bonner Loch. Da nicht.“

Das ist zu gut für den. Oder was?!

„Kann der Spanisch?“

„Ja, der spricht Spanisch und Portugiesisch und da hat der sich da unten Kontakte aufgebaut. Natürlich alles sehr gefährlich. Verschwindet dann immer mal wieder. Ich glaube, die wollten dem letztens was…die Polizei…dann geht der immer wieder da runter…und kommt dann wieder… Aber das sieht man. Der trägt Klamotten, das verdienst du in drei Monaten nicht!“

Danke. Vielen Dank.

„Das ist aber eigentlich gar nicht so intelligent, das so zu zeigen. Das so zur Schau zu tragen. So, dass das alle sehen. Dann werden die erst recht auf dich aufmerksam.“

Er nickt, stimmt ihm zu.

„…ich würd das so nicht machen. Ich würd so bleiben, wie ich bin. Ganz normal.“

„Ich auch“, sagt er, „ich würd genauso weiter rumlaufen.“

„Al Capone haben die auch wegen den Klamotten und allem bekommen. Nicht wegen den Verbrechen. Wegen der Steuer. Da würd ich das doch so nicht zur Schau tragen.“


„Ich würd weiter so rumlaufen. Ganz normal. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Egal, wie viel Geld ich hätte… Damit die nachher noch auf Ideen kommen…“


Die Stimme des alten Mannes wird noch leiser. Er sagt: „Man muss aufpassen, was man sagt. Jetzt, wo wir alleine sind, kann ich darüber reden, aber nicht…. Da muss man aufpassen.“

Plötzlich kommt Ali in die Halle, will direkt einen Kaffee haben. Das haben die Araber alle so. Die wollen immer eine Extrawurst.

Der alte Mann guckt sich um, sagt: „Da können wir ja noch mal drüber reden. Das ist ein interessantes Thema."

Aber er will plötzlich mehr wissen. Er hat noch Fragen: Ob der gut Spanisch kann? Besser als er? Was er für Kontakte da hat? In welchem Land genau? In Ecuador? Ob er noch jemand braucht? Ob der alte Mann sich noch daran erinnert, dass er mit einer Ecuadorianerin zusammen ist? War. Weiß er, dass er getrennt ist? Dass er keine Kontakte mehr in diese Welt hat? Der alte Mann scheint viel zu wissen, scheint viele Latinos zu kennen. Letztens war er bei Argentiniern auf einer Feier eingeladen, jetzt redet er mit Mexikanerinnen. Das hat noch nicht mal er gemacht, früher, als er noch mit seiner Frau auf verschiedene Feiern mit jede Menge Latinos ging – eigentlich fast nur, er war eigentlich fast immer der einzige Deutsche. Der hat auch schon mal sowas gesagt, denkt er. Von seinem Bruder, der angeblich in Kolumbien lebt. Damals ohne Geld da hingegangen ist. Und da auch schon wie er sagt, mit Persönlichkeiten der Unterwelt an einem Tisch gesessen haben soll. Auch in diesem Bereich tätig sein soll? Auch immer wieder kurz nach Deutschland kommt und dann wieder geht.

Komisch. Die Geschichten ähneln sich ziemlich. Erfindet der das nur? Will der ihm etwas sagen, damit? Kennt der Nadine? Hat die den geschickt? Um ihn reinzulegen? Dass er mit irgendwas erwischt wird, bei einem Deal, damit er Probleme bekommt.

Er will unbedingt mit dem alten Mann weiterreden, aber er kommt irgendwie nicht dazu. Wenn das, was er denkt wirklich stimmen sollte, dann müsste der ja auf ihn zukommen. Und nicht er.

Er zieht sich ins Kassenhäuschen zurück. Dann soll der doch kommen… Dann muss er ja nicht kommen…

Oder will er ihm etwas sagen damit…?

Aber er kommt nicht mehr. Das Gespräch ist beendet. Obwohl er noch Fragen hat. Besonders eine: Wie alt ist der Typ? Wie sieht der aus? Kenn ich den?

Am Ende macht der alte Mann zu, spielt auf seiner App Roulette, erzählt ihm etwas anderes, das er gar nicht wissen will.

Denn er will mehr von dem Typen wissen…

Aber was nicht geht, das geht nicht. Und wenn der was will, dann soll der doch kommen…

Tut er nicht und am Ende, als der alte Mann gegangen ist, nicht ohne vorher gesagt zu haben, vielleicht sieht man sich ja noch mal, heute,  bleibt ihm nur diese Rammstein-Zeile. Aus dem Lied mit dem passenden Titel „Alter Mann“.

Das Wasser soll dein Spiegel sein. Erst wenn es glatt ist, wirst du sehen, wie viel Märchen dir noch bleibt…

Er denkt: Entweder meine Frau ist der intelligenteste Mensch der Welt oder einfach nur dumm…

Entweder er ist hochgradig paranoid oder doch nicht so dumm. Viel zu intelligent für seinen eigenen Besten…

Freitag, 22. April 2016

Zecken und Echsen






22.04.16




Morgens geht er Wasser kaufen. María ist auch schon auf, ist noch Duschen gegangen (besser so: Dann muss sie nicht in der P***-WG ihrer Mutter duschen gehen).

Er tritt vor die Tür…und ist schon jetzt…stinkwütend. So richtig wütend.

Er denkt darüber nach, was ihn die Scheidung kosten wird. Ob das, was die Anwältin gesagt hat, auch für die Beratung usw. vor der Scheidung gilt oder nur für den Scheidungsprozess. Wär schon gut, wenn das für beides gelten würde…

Und wenn nicht…?

Immer bleiben Fragen offen. Jedes Mal, wenn er zu seiner Anwältin läuft, ist er am Ende zwar für den Moment schlauer, aber schon am nächsten Tag wirft sein Gehirn neue Fragen auf. Hört das denn nie auf?!

Das geht doch so nicht, dass ich am Ende noch für die blechen muss. Für die Scheidung, die ich nicht will. Nie wollte

…die ich nie gewollt…

Das geht nicht. Echt nicht. Echt nicht. Und die lacht sich am Ende noch kaputt. Lacht sich ins Fäustchen, wie du zu der Anwältin gesagt hast. Lacht sich ins gierige Fäustchen. In ihrem neuen, freien Leben

NEIN, sagt er fast laut und schiebt den Unterkiefer demonstrativ nach vorne. Fletscht fast die Zähne, als er die Hauptstraße überquert.

Irgendjemand wird dafür bezahlen Irgendjemand. So viel ist sicher.

Und wenn es ihre Schwester ist…

…oder ihr Schwager…

…oder ihre andere Schwester…

Sie hat ja so eine große Familie.

Irgendjemand muss bluten dafür.

sangre por sangre

Er macht sich Sorgen: Er kriegt zwar Prozesskostenhilfe, aber wenn die ihr Haus angibt…

…in was ist er da bloß reingeraten, mit dieser Frau. (Und so gut sah sie noch nicht mal aus. Und fünf Jahre älter als er war sie auch!) Hätte er doch damals in Ecuador nicht Ja gesagt. Jetzt bezahlt er dafür. Aber dann gäbe es María auch nicht…

…und wenn die das rausfinden…

So schwer ist das ja auch wieder nicht…

Die sind ja auch nicht doof. Aber für Nadine sind die alle doof. Ihr passiert nie was. Bis sie in der Bahn beim Schwarzfahren erwischt wird und in den Knast kommt, weil sie illegal in Deutschland ist. Oder bis sie mit ihrem Schwager in der Post erwischt…wer weiß was am machen…und zum zweiten Mal ausgewiesen wird. Aber die sind ja alle doof. Man muss die nur lange genug verarschen…

Die Gedanken drehen einsam ihre Kreise in seinem Kopf. Immer und immer wieder. Den ganzen Tag lang. Wahrscheinlich selbst noch im Schlaf. Plötzlich denkt er: Ach ja, Zeckenmittel muss ich auch noch kaufen. Bei Rossmann. Das gute Zeckenmittel von Rossmann. „Zeckito“. Und Wasser im Edeka – ist das Leben nicht aufregend.

Heute gibt es Fischstäbchen zum Frühstück. Klingt wie ein Film- oder Buchtitel. Viel besser als Schokolade zum Frühstück.

Zuerst geht er zu Rossmann. Er hat die Auswahl: „Zeckito sensitiv“ oder „Zeckito stinknormal“. Für jeweils 1,99. Das stinknormale hält 4 Stunden, das sensitive nur 2. Also das Normale. Seine Zecke ist hartnäckig. Also Zeckito normal.

Heute gibt es Atom-Fischstäbchen, Eier und Ciabatta-Brötchen (Gut und günstig) zum Frühstück. Wenigstens darauf kann er sich freuen.

Zuhause sitzt seine Tochter auf der Bettkante, guckt Fernsehen. Er geht schnurstracks in die Küche. Aber nicht ohne vorher noch einen Kommentar losgeworden zu sein.

„Guck mal hier“, sagt er und hält ihr die Zeckito Sprühflasche direkt vors Gesicht. Zeckito!“

Zeckito: Bestens geschützt gegen die südamerikanische Zecke.

Am Ende kann er der Versuchung nicht widerstehen, es doch noch laut zu sagen: „Zeckito: Bestens geschützt gegen die südamerikanische Zecke.“


„Hey, lass mal ausprobieren, ob das an dir wirkt. Du bist ja halbe Südamerikanerin.

Sie guckt mich böse an, mit diesen großen Augen, die ich so liebe.

Auch gegen den ecuadorianischen Zeckenbock. Den geilen, kleinen Zeckenbock mit dem großen Rüssel. Also komm schon, Rafael, komm schon.

Hilft auch gegen Dortmund-Fans und… Das sage ich jetzt besser nicht öffentlich, ohne meine Anwältin – und die ist schon mit meiner Scheidung komplett unterbelastet. Vielleicht hilft es ja sogar gegen Atlético Madrid. Der Trainer von denen hat auch etwas sehr zeckiges, wenn man so darüber nachdenkt. Südamerikaner ist er auch. Zwar nicht wie die gemeine Andenzecke, aber auch Latino…

Er geht in die Küche und knallt die Fischstäbchen in die Pfanne. Fast die ganze Packung; hier werden keine Gefangenen gemacht. Und als er sieht, dass tatsächlich nur ein Fischstäbchen in der Packung verbleiben ist, quetscht er das auch noch irgendwie zwischen die anderen, obwohl da eigentlich gar kein Platz mehr ist. Wie gierig! Das Leben ist schließlich kurz. Die Liebe auch.

María kommt aus dem Wohnzimmer in die Küche und kommentiert natürlich prompt die volle Pfanne: „Boah, mehr ging auch nicht?!“ Oder nur „Boah!“

„Willst du auch ein paar“, sagt er verlegen. Obwohl er ihr eigentlich gar keine abgeben will. Aber er muss ja wenigstens so tun als ob…

Zum Glück lehnt sie ab und er ist wieder allein, allein in der Küche, mit der vollen Pfanne Fischstäbchen.

Zu den Fischstäbchen gibt es Eier. Vier Eier. Nein, nicht alle jetzt. Nur zwei.

Wenn die Eier nach oben zurückkommen, sind sie schlecht.

Dann darf man die nicht mehr essen.

Schlechte Eier. Deine

Nach einer Weile kommt er zurück ins Wohn-/Schlafzimmer, überlässt die Fischstäbchen einen Moment lang ihrem Schicksal.  María sitzt immer noch auf der Bettkante. Wie adrett sie wieder gekleidet ist…

Im Fernsehen läuft der Wetterbericht. Der Moderator sagt:…kalt, regnerisch…typische April-Wetter eben…

Er ballt die Hände zur Faust und sagt: „Ja! Am Wochenende wird das Wetter schlecht! Ja!“

María sagt nichts, schüttelt glaub ich nur den Kopf.

Das hat er gestern auch schon gesagt. Und vorgestern. Und vorvorgestern. „Bis zehn
Uhr…wann gehst du noch mal?...bis zehn Uhr kann das Wetter gut sein…

…danach soll es regnen, stürmen, Gewitter geben und vielleicht sogar schneien…ja, Schnee wär gut!“

Sie sagt nichts, sie kennt das schon. Sie kennt all seine dummen Sprüche schon. Nur der Zeckito-Spruch war neu. Deswegen hat sie den kommentiert.

Er guckt sich die Bücher an, die auf dem Esstisch liegen. „Freitag ist Selbstverbesserungstag! Da lese ich immer Selbsthilfebücher!“

Sie lächelt sanft. Aber sie lächelt.

Er legt sich für einen Moment ins Bett, vor den Computer.

María steht auf, nimmt ihre Tasche, die auf dem Stuhl neben dem Bett steht. Da, wo sonst immer die saubere Wäsche drauf liegt.

„Ich muss jetzt los.“

Wie immer wird er ihr sagen, dass ich dich vermissen werde. Und wie immer wirst du es ihm nicht glauben…
Aber er sagt es trotzdem
O
O
O

„Scheiße. Ich verpass meinen Bus…“

Dann nimm doch den nächsten. Mir doch egal.

Sonntag, 17. April 2016

Erbeben in Ecuador


17.04.16





Er sitzt mal wieder nichts ahnend auf der Arbeit – was soll er auch sonst machen, außer Arbeit ist ihm ja nicht viel geblieben. Schaut ganz unschuldig auf die Seite der Bild. Nur, um nachzugucken, wie es in Hamburg steht. Weil er so dumm war – wieder mal – die Wahrheit zu sagen. Das darf man in Deutschland nicht. Nicht erst seit Böhmermann, sondern schon länger nicht. Ich nehme mal an so ungefähr seit den Siebzigern. Können aber auch die Sechziger gewesen sein. Eigentlich lustig: Die Generation, die mit den ganzen Lügen aufräumen wollte, ist am Ende die verlogenste. Wer zuletzt lacht…

Aber lachen darf man bald auch nicht mehr…

Wo war er noch mal? Es gibt heutzutage so viele kleine und mittelgroße Ablenkungen, da ist es schwer den Faden zu behalten. Ach ja: Er guckt nach, wie es in Hamburg steht. Und hat ein berechtigtes schlechtes Gewissen. Weil er zu dem Kunden gesagt hat, dass er will – er als Bayern-Fan –, dass Dortmund gewinnt. Damit die Bayern bloß nicht zu sehr an der Tabellenspitze enteilen. Damit die „heiß“ bleiben, hat er gestern noch zu ihm gesagt. Aber er ist Hamburg-Fan. Und dummerweise sind seine Wünsche leider einmal in Erfüllung gegangen. Sonst nie, aber bei so einem Scheiß schon. Unglaublich! Dankeschön! Wer auch immer für die Wünsche verantwortlich ist, Dankeschön!

Jetzt steht es 2:0 für Dortmund und er hat seinen Schlamassel. Auch sein anderer Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Nämlich, dass Aubameyang kein Tor schießt. Damit Lewandowski Torschützenkönig wird. Obwohl er den auch nicht mag. Eigentlich mag er niemanden. Außer seine Tochter. Und die Tittentante von gestern Abend – nein, nur Spaß, bitte nicht verklagen!

Er hat gerade das spanische Radio angeschaltet, als plötzlich etwas passiert. Scheiße, das kann doch nicht sein. Doch nicht in seinem Leben. Ne, du hast dich geirrt. Bestimmt.

Ne, hab ich nicht.

Es ist ja auch nicht so, dass mit ihm was passiert. Er sitzt weiter wie versteinert in seinem Aquarium und wechselt Geld. Im Westen nichts Neues. Aber die Welt steht ja nicht still. Nur, weil er permanent stillsteht. Denn es ist heute wirklich etwas Interessantes passiert. Etwas wirklich Interessantes. Dabei hatte er die Hoffnung schon fast aufgegeben, dass noch mal was passiert. Was Interessantes. Und normalerweise schaut er ja nicht in die Eilmeldungen der Bild. Da steht dann meist sowas wie „Kim Kardashian abermals an Arsch operiert“. Oder „Dieter Bohlen schon wieder ausgeraubt – Ex hat Alibi!“. Oder „Böhmermann darf verklage werden“. Aber lassen wir das lieber. Wir wollen ja nicht, dass uns das gleiche Schicksal ereilt. Oder?! Denk dran: Du bist nicht Eminem! Was das kostet, so eine Klage!

Aber heute steht da was echt Interessantes. Komplett mit Rechtschreibfehler. Etwas, das seine Pupillen sich radikal erweitern lässt. Nämlich: „Ecuador: Todteszahl nach Erdbeben steigt auf 233.“

Hä, was ist das denn? Liest er richtig? Oder ist das eine optische Täuschung, hervorgerufen durch schlechtes Essen, Trennung und zu viel Sport? Dadurch, dass er heute den Abfluss mit Chlor gereinigt hat? Ist er etwa high? Von Chlor? Chlorgas? Was lesen seine übermüdeten Augen denn da?

Aber nein: Es stimmt tatsächlich! Es hat ein Erdbeben in Ecuador gegeben. Geil! Wie geil ist das denn? Bitte, bitte in Ambato! Bitte, bitte, denkt er, in den Millisekunden, die die Seite braucht, um sich aufzubauen.

Scheiße, das war an der Küste.

Scheiße.

Die armen Opfer.

Obwohl: Vielleicht ist ja ihre Schwester unter ihnen! Die wohnt ja an der Küste.

Aber nein: Das war oben, im Norden. Fast an der Grenze zu Kolumbien. Wohnt da nicht auch irgendjemand? Wo hat die eigentlich keine „Familie“?

Aber so richtig zielsicher ist das trotzdem nicht, wie er auf der Karte feststellen muss. An der Küste. Und es wird sogar ein Tsunami erwartet. Er kriegt den Mund nicht mehr zu. Während er sich hier langweilt müssen die Menschen andernorts um ihr Leben bangen. Um ihre Existenz. Das Leben ist schon unfair. Oder wie das Grönemeyer sagt: „Das Leben ist nicht fair.“ Punkt. Kein Ausrufezeichen.

Ein Erdbeben! Geil!

In freudiger Erwartung und zugleich leicht verängstigt – vor wem hat er eigentlich Angst? – geht er auf der Seite wieder nach oben. Zu dem Foto, das ein Haus zeigt, das nicht nur stark beschädigt ist, sondern auch stark in Schieflage geraten ist. Geil! Das heißt, traurig! So traurig! Die Welt ist wahrhaft aus den Fugen geraten. Erst Böhmermann und jetzt ein Erdbeben in Ecuador. Was kommt als nächstes? Mutti tritt zurück?

Nicht, dass das…

…nein, bist du doof, das ist an der Küste!

Das ist nicht ihr Haus.

Sieht aber so aus.

Das ist nicht lustig.

Wenn er das jetzt schreiben würde, dann würde das nahe an die Schmähkritik rücken.

Aufpassen!

Lass mir doch die Illsuionen. Es ist auch so schön rosa gestrichen. Genau wie ihr Haus.

Aber das ist es nicht.

Scheiße.

Ist das traurig. 233 Tote.

Die werden nie nach Deutschland kommen können und deutsche Männer heiraten und verlassen können

Das Leben ist nicht fair.

Fast ist er versucht, ihr eine SMS zu schreiben.

Eine Schmäh-SMS. Aber das darf er doch nicht. Das macht man doch nicht – nicht nur wegen der juristischen Konsequenzen, sondern überhaupt…

Eine SMS, in der neben Schweigen nur ein Wort steht: Terremoto.

(das ist erst der Anfang…)

Er holt sein Handy hervor, starrt auf das Display. Näh, dann wird sie nachher noch abergläubisch. Die Arme. Das wollen wir doch nicht. Und er auch nicht. Natürlich nicht.

Wir haben ja eine Tochter zusammen. Da macht man so was doch nicht. Was sollen denn die Nachbarn denken?! Meine chinesischen Nachbarn. Die heute im Garten waren, während ich bei offenem Fenster am Pinkeln war. (Es sind die kleinen Freuden im Leben…)

Aber das ist wirklich ein bisschen unheimlich, wenn man so darüber nachdenkt. Das ist nämlich genau das, was er seiner Tochter immer gesagt hat. Natürlich nur im Gedanken, nicht in echt (der Feind liest mit!). Er hat schon immer gesagt: Ich wünsche mir ein Erdbeben. Der Stärke 10,0. Mit Epizentrum in Ambato. Dieses war zwar ein bisschen off the mark (am Ziel vorbei) und ein bisschen zu schwach mit 7,8, aber…

Aber er hat das doch nicht ernst gemeint. Da oben versteht aber echt einer keinen Spaß. Nicht, dass da…sitzt. Nein,

Vielleicht sollte er seiner Tochter eine SMS schreiben. Terremoto. Ja. „Ja“ heißt auf Spanisch übrigens „ha“, so wie in „ha, ha“. Zweimal „ha“ ist hämisch, während dreimal „ha“ fröhlich ist (oder wie war das noch mal?). Ganz unschuldig fragen: Hi María, hast du von dem Erdbeben gehört…

Boah, wie oft hat er das aus Wut gedacht. Ein Erdbeben in Ecuador, das wär es jetzt.

Bestimmt denkt María jetzt auch an mich. Ohne ihrer Mutter was zu sagen.Oder spätestens, wenn sie davon hört.

Morgen kommt sie eh. Da werd ich sie fragen. Nein! Das wär nicht fair.

Das Leben ist nicht fair

Aber was erwartet Nadine denn. Ich werd jetzt bestimmt nicht heuchlerisch sagen. Das hab ich nicht gewollt. So tun als ob. Wie soll ich es denn auch gewollt haben?! Gewollt schon, aber gewillt nicht. Wer kann sich schon ein Erdbeben bestellen, wie eine Pizza. Das ist doch nicht meine Schuld. Bin ich denn an allem schuld?! Das geht ja gar nicht. Das wäre ja…

Blasphemie. Und das geht erst recht nicht

Ne, das stimmt schon. Wir müssen da einfach mal die Kirche ein bisschen im Dorf lassen. Ich wollte schließlich ein Erdbeben, bei dem sich die Erde wie ein Höllenschlund auftut und das ganze Land verschluckt. Dass zwischen Kolumbien und Peru ein Riesenloch klafft, das mal ein Land war. Und? Ist es so eins geworden? Nein! Also…

Trotzdem freue ich mich wie ein Schneekönig. Über das Leid anderer. Den Tod anderer.

Tu das nicht! Lass das sein! Fass das nicht an! Sag einfach NEIN!

So was tut man ja auch nicht, würde deine Mutter sagen. Und auch dein Vater. Die gleichen Eltern, die ihren einzigen Sohn in der größten Krise seines Lebens eiskalt auf die Straße geschmissen haben. Die gleichen…

Denen es scheißegal war, ob der von der Brücke springt oder nicht

Wär er doch mal gesprungen, dann hätten sie ihn endgültig abstempeln können. Als verrückt. So ist das schon schwieriger. Aber nicht für seine Mutter. Und für seinen Vater erst recht nicht. Das hat der gar nicht nötig.

Aber ein Arschloch bin ich schon. Da haben sie schon so ein bisschen Recht, denkt er, vor Freude und Erregung lächelnd. So ein Erdbeben kompensiert doch einiges. Das ist fast so gut wie der knapp gewordene Sex. Ach, was sage ich da: Allemal besser als der Sex mit Nadine.

Oder doch nicht?! Ach, scheiß doch drauf, dann hab ich eben keinen Sex.

Jetzt werden die bestimmt wieder sammeln, in der spanischen Kirche in Bonn. Für die Erdbebenopfer. Und ihre „Familien“. Da wäre ich gerne dabei. Da wäre ich gerne Mäuschen. Eine Kirchenratte. Dick und groß wie Katzen, stand gestern in der Bild. War allerdings in London. Ja, die Bild bildet. Besonders die Leserkommentare. Aber die haben die ja jetzt abgestellt, in diesem, unserem (noch)n freien Land.

Sie werden alle so tun, als ob das ihnen nicht komplett am Arsch vorbeiginge. Und eine 10-Cent-Münze (weil mal wieder kein kleineres Geld da war!) und einen abgelutschten Knochen in den Sammelkorb in der Kirche werfen. Und sich gut fühlen, beim Fußball. Nur du wirst anders denken. Du wirst der Einzige sein, dem das wirklich nicht am Arsch vorbeigeht. Aber du kannst ja auch nichts spende, als katzengroße Kirchenratte.

Das ist schon komisch. Mal warten, ob María morgen was sagt. Lass sie ruhig mal kommen. Du musst nicht immer mit der Tür ins Haus fallen.


…und das, wo du heute dachtest, deinen Schwager, den lieben Rafael – den du anders als Nadine nicht heiß, sondern eiskalt hasst – gesehen zu haben. Der, mit dem sie damals was hatte. Eine innige Beziehung zu ihrer „Familie“. Dem Mann ihrer Schwester. Der jeden Tag zum Duschen und zum Essen und zum…kam (nur, falls sie das noch nicht wussten). An der Haltestelle in Ippendorf. Aber vielleicht war das auch jemand anders. Du hast ihn ja schließlich jahrelang nicht mehr gesehen. Bestimmt ist er gealtert

sein Penis geschrumpft. Sein Riesending

…aber ein Latino war das auf jeden Fall. So ein Indio. Wie Rafael. Du dachtest schon jetzt wollte er dir endgültig an den Kragen. Für den netten Brief, den du seiner Familie hast zukommen lassen (nein, das war kein Schmähbrief, sondern ein Liebesbrief; an seine Schwester, seinen Bruder…)

Komische Zufälle gibt’s: Da wünscht man sich Erdbeben und sieht seinen Schwager an der Haltestelle.


So langsam begreife selbst ich es: Hass ist stärker als Gleichgültigkeit


Und genau in diesem schreit einer der Kommentatoren auf Radio Nacional España Goooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooool