War es ein Ende oder ein Anfang?
Er sucht die Datei, weil er das unmöglich noch mal schreiben kann. Es nicht noch mal schreiben will. Weil es noch zu sehr wehtut, ihn viel zu sehr schmerzt. Schon allein bei dem Gedanken an damals spürt er die Tränen in seine Augen steigen; Tränen, die schon lange nicht mehr kommen wollen. Forscher haben herausgefunden, dass Liebeskummer durchaus vergleichbar mit physischen Schmerzen ist. Das ist ungefähr so als würde man sich vebrennen, hat er irgendwo gelesen. Im Internet. Wie immer. Wo denn auch sonst?! Nur dass man sich bei Liebeskummer nicht nur einmal verbrennt, sondern die ganze Zeit über. Und einfach die Hand wegziehen kann man auch nicht.
Er weiß noch ganz genau, wie das damals war. In der Nacht, in der er sie zum ersten Mal getroffen hat. Wie sollte er es auch jemals vergessen. Aber es geht einfach nicht. Er kann einfach nicht darüber schreiben. Zumindest noch nicht. Heute sowieso nicht, wo sie mit unserer Tochter (die das Einzige ist, was uns noch verbindet), in Griechenland ist, und es hier regnet wie Sau. In diesem kalten,regnerischen, traurigen Land. Etwas sträubt sich in ihm. Eine Stimme scheint zu sagen: Was soll das denn auch, jetzt noch über sie zu schreiben, jetzt wo sie weg ist?! Wie ein alter, impotenter Don Juan in der Asche der Vergangenheit zu stochern, während es sie einen Dreck interessiert, ob du lebst oder tot bist. Obwohl, jetzt, wo ich so drüber nachdenke: Das würde sie schon interessieren, wenn er plötzlich, ganz unerwartet ableben würde. Einen Herzinfarkt bekommen würde, von der Brücke springen würde, von einem Auto oder einer Bahn überfahren würde. Das würde ihren Urlaub sicherlich perfekt machen. Dann würde sie bestimmt noch eine Woche dranhängen. Zur Feier des Tages. Endlich frei! Endlich vollkommen frei! Vogelfrei sozusagen. Der Ehemann unter der Erde, mit ihrer Familie vereint, ihre Tochter ganz für sich, endlich nicht mehr nur nach Spanien in Urlaub, endlich mal was anderes, vielleicht sogar schon mit ihrem "Neuen" in Griechenland...
(...nur Unterhalt könnte sie so natürlich nicht einklagen, aber das wäre wahrlich nur ein kleiner Wermutstropfen; vielleicht könnte sie ja das Erbe einklagen, das auf jeden Fall, das wäre ihr, nur ihr...)
Wozu also diese ganze Mühe? Über eine Liebe schreiben, die keine mehr ist? Und was noch schlimmer ist: Die vielleicht nie eine war. Für sie zumindest nicht. Wie hat das Herr Baden noch mal ausgedrückt: Es bringt nichts, immer wieder die Gedanken um die gleichen Dinge kreisen zu lassen, in Endlosschliefen immer wieder das Vergangene aus der Versenkung zu holen. Wofür? Dagegen steht die Aussage deiner Anwältin: Es gab doch bestimmt auch gute Jahre. Ja, bestimmt. Lohnt es sich also doch, von diesen "guten Jahren" zu erzählen? Sie wieder aufleben zu lassen? Und überhaupt: Kann er sie überhaupt noch wertneutral erzählen? Ohne dass der Stachel des Verrats, des Verlassenwerdens, des Schweigens seine Erzählung vergiftet, zerstört? Was ist das schon wert, jetzt noch mal all die Scheiße wieder hochzuholen, im Schlamm zu wühlen wie ein Schwein auf der Suche nach Trüffeln, in der Asche seines Lebens nach etwas zu suchen, das es gar nicht mehr gibt
Das Unheil oder Unglück nahm seinen Lauf, als Siegmund, der gute Bekannte meiner Eltern und Frühschoppen-Partner meines Vaters entschied, dass ich mich irgendwann mal von meinen Eltern abnabeln müsste und dass ich mit meinen fast schon 19 Jahre schon viel zu alt war, um am Silvesterabend noch bei Mama am Rockzipfel zu hängen. Kurzum: Er gab mir 20 D-Mark und sagte so etwas wie: „Der Junge muss an Silvester raus!" Und dann zu mir: "Du kannst doch nicht an Silvester zu Hause bleiben?!“ Was für eine Ironie! Denn diese 20 DM (10 Euro für die Jüngeren unter Ihnen) werden bald – wenn sie die Scheidung einreicht – zu den teuersten 20 DM meines Lebens werden. Sehen Sie! Im Leben kriegt man nix geschenkt! Auch 20 DM können einem teuer zu stehen bekommen.
Gezwungenermaßen also – der Rockzipfel meiner Mutter übte nämlich nach wie vor eine große (passiv-)aggressive Macht auf mich aus – stieg ich in die Bahn und irrte plan- und ziellos durch die Stadt. Denn ich kannte damals nur eine Disko. Die sogenannte Biskuithalle, die mich quasi – zumindest was Diskos angeht – entjungfert hat. Aber die hatten irgendein komisches Buffet und das kostete mehr als 20 DM. Oder die ließen mich nicht rein. Oder ich hatte keinen Bock zu warten (immer diese Ungeduld: Die zieht sich durch dein ganzes Leben!). Auf jeden Fall ging ich nicht in die Biskuithalle, sondern fuhr wieder in die Stadt zurück. Aber nach Hause konnte ich auch nicht (wie peinlich wäre das denn gewesen, denn Siegmund blieb immer lange!). Also ging ich – keine Ahnung von welchen dunklen Mächten getrieben – an der Passage am Hauptbahnhof vorbei und sah durch Zufall oder Einfluss ebendieser dunklen Mächte, den Eingang des Ysabeaus, einer Latino-Disko! Ich kannte das Ysabeau nicht, aber irgendwie zog es mich an. Vielleicht hatte ich es auch auf einem der damals noch recht häufigen Sonntagsspaziergängen mit meinen Eltern gesehen. Ich weiß es nicht.
Und wie er so weiter sucht, findet er, in den Trümmern seines Lebens, seiner Ehe, auf seinem Laptop tatsächlich eine weitere Version dieser Nacht... Hier ist sie:
Fehler Nr. 1!
Er fragte mich irgendwas, ob ich heute nicht rausgehen wollte, wo doch jeder draußen war. Mir war das ein bisschen peinlich, aber irgendwie auch egal.
...gar nichts passierte (sie ging weg aus Bonn weg oder von der Schule ab und ich sah sie nie wieder, zog sie nie wieder mit meinen gierigen, sehnsüchtigen Blicken eines 15-Jährigen an und aus). Und auch schon vorher, auf dem Geburtstag von José (der Spanier war), im McDonald’s, hatte ich versucht, diese Chilenin, keine Ahnung, wie die hieß, zu küssen. Ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken (aber sie hatte sich standhaft gewehrt und am Ende wurde doch nichts daraus, zumindest nichts „Richtiges“). Keine Ahnung, was mich da geritten hatte, denn ich war bestimmt noch nicht mal dreizehn.
Jede Zeile tut weh, aber es muss weitergehen. Irgendwie. Show must go on…inside my heart is breaking… Es muss weitergehen. Immer weiter. Imma wigga! Also, dann hau rein: Wie ging es denn nun weiter, an diesem ersten Sonntag-Nachmittag im neuen Jahr? An diesem ersten Tag unserer Beziehung. Komm, quäl dich weiter! Erinnere dich weiter!
Am Anfang war sie natürlich überrascht, als ich sie auf einmal, noch bevor der Film angefangen hatte, auf den Mund küsste. Aber auch sie ließ diesen Kuss, unseren ersten, allerersten richtigen Kuss geschehen. Wehrte sich nicht. Ließ ihm sogar noch einen zweiten, dritten, vierten folgen...
(vielleicht hatten wir ja beide nicht genug Liebe bekommen, in unserem bisherigen Leben, und das kam jetzt, in unseren Küssenzum Vorschein)
Aber nicht nur sie war überrascht. Auch ich war überrascht - und zwar von mir selbst. Von meinem Mut. Denn das war schon ziemlich mutig. Denn zum einen war das Kino voll (und ein paar von den Leuten um uns herum wollten bestimmt auch einfach nur James Bond sehen). Zum anderen war das erst mein zweiter Kuss! Überhaupt. Jemals. Das zweite Mal überhaupt, dass ich eine Frau geküsst hatte. Mit achtzehn! Wie peinlich ist das denn?!
Und das erste Mal war schon gut und gerne dreieinhalb Jahre her gewesen. Damals, im Urlaub in Ungarn. Wo ich Ani kennengelernt habe. Und mich an einem Nachmittag mit ihr am Strand getroffen hatte. Da wo mein Vater diese Fahrradfahrerin im Tanga gesehen hatte. Sah, wie ihre Arschbacken sich bewegten, auf dem heißen Sattel im ungarischen Sommer. Als wir morgens zum Strand fuhren. Oder nachmittags vom Strand zurückkehrten. In dem alten Mercedes meines Vaters die sonnige Uferstraße entlangfuhren. Hinter der Uferpromenade. Ich glaube, es war eher am Nachmittag, nach dem Essen, denn er sagte wortwörtlich: "Der kann man ja bis zum Essen hochgucken!" Oder: "Bei der kann man ja das Mittagessen sehen..." Mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Obwohl er das immer sagte, wenn er Fleisch sah. Rektalfleisch (oder auch Vaginalfleisch?). Obwohl: Ich weiß nicht, ob er am Morgen wirklich gesagt hätte "Der kann man ja bis zum Frühstück hochgucken!"
Auf jeden Fall hatte ich Ani am Balaton, wie der Plattensee auf Ungarisch heißt, kennengelernt und wir hatten uns für den Nachmittag falls sie über mich herfallen sollte...). Nein, das Bemerkenswerte an diesem Foto ist vielmehr wie jung ich war und wie hübsch sie war. Nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihr voluptuöser Körper in diesem knappen, schwarzen Bikini. Von einem jugendlichen Hungerhaken hatte sie wirklich nichts, obwohl sie keineswegs dick war – ihr rundliches Gesicht war wahrscheinlich eher ihrer slawischen Herkunft geschuldet. Die hätte auch Latina sein können... Ich sag nur: Beuteschema! Oder noch deutlicher: Die hatte ein paar Glocken, da macht es bei mir heute noch Ding Dong! Vielleicht denke ich das aber auch nur, wenn ich mir heute das Foto angucke, gut und gerne 25 Jahre später: Denn damals achtete ich, glaube ich, da gar nicht so darauf. Oder nur unbewusst. So überwältigt, wie ich von der Situation war. Ein Mädchen fand mich interessant, mich!, und ich, ich!, hatte sie angequatscht. In Deutschland hatte ich so was mit meinen zarten fünfzehn Jahren noch nicht erlebt. Ich redete Englisch, sie nicht oder kaum, ihre blonde Freundin schon, und so kam es dann zu dieser einen Verabredung, die zu meinem ersten Kuss führte. Zwar ein schlabbriger, komischer Kuss, der mir eigentlich gar nicht richtig gefiel, der sich irgendwie komisch anfühlte (vielleicht war ich ja noch zu jung, vielleicht war ich ja noch nicht bereit), aber trotzdem ein Kuss. Auf dieser Bank unter diesen Bäumen (fast schon ein kleiner Hain) am Ufer des Balaton. Ich hatte ja so keine Ahnung, wie man küsst. Ihren Mund traf ich zwar halbwegs, auf dieser Bank unter diesen Bäumen, aber der Rest. Irgendwie fühlte sich das komisch an, schlabbrig. Feucht, mit viel Spucke, was weiß ich. Nicht sexy, so gar nicht sexy. Vielleicht lag es ja daran, dass ich keine Erfahrung hatte, keine Ahnung von Tuten und Blasen...und von Küssen erst recht nicht. Dass ich noch zu jung war, zu unreif. Oder sie hatte keine Erfahrung, keine Ahnung, war noch zu jung, zu unreif. Oder wir beide... Aber irgendwie passte das nicht. Mit ein bisschen Übung vielleicht, aber der Urlaub war damals viel zu schnell vorbei und zu dem Kuss kam es auch erst am vorletzten Tag. Letztens habe ich das echt nachgeguckt, wo die damals gewohnt hat. In der Havanna utca, in Budapest. Das mit Havanna und utca ("Straße" auf Ungarisch) wusste ich noch. Und ich habe es tatsächlich gefunden! Und das obwohl der Eigentümer unserer kleinen Pension das damals noch nicht mal auf dem Stadtplan von Budapest gefunden hat.
An Ostern habe ich das nachgeguckt. Keine Ahnung warum. Fiel mir so ein. Wahrscheinlich, weil ich Langeweile hatte, am Gründonnerstag 2018, einem 29. März...
Aber lasst uns noch ein bisschen in dieser Zeit verweilen, im Jahr 1992, und noch nicht ins Jahr 1996 zurückkehren, in dieses dunkle Kino, in dem ich sie zum ersten Mal küsste. Lasst uns noch ein bisschen in diesem 15. Jahr meines Lebens bleiben, in dem ich den Morgen am Balaton-Strand verbrachte, mir danach unter der Dusche einen runterholte und abends das Dream-Team im ungarischen Fernsehen guckte – wenn ich nicht gerade Anikó küsste, versuchte zu küssen...
Ja, das Dream-Team. Das war damals das erste Dream-Team der amerikanischen Basketballgeschichte – denn vorher waren bei den Olympischen Spielen keine Profis erlaubt. Das echte und einzig wahre Dream-Team, mit Michael Jordan, Magic Johnson, Larry Bird, Charles Barkley, David Robinson, Patrick Ewing und Karl Malone...alles lebende Legenden
Ja, aber das ist vorbei. Diese Zeit ist vorbei und wird nie wiederkehren. Dieser erste Kuss, der 1996 ohnehin von meinem zweiten Kuss in den Schatten gestellt werden sollte. Denn dieser, dieser erst zweite Kuss in meinem gesamten bisherigen Leben (ich war damals immerhin schon fast 19!), der passte! Vier Jahre später – EIN EINZIGES MAL! – eine Frau auf den Mund geküsst hatte. Und dann auch nur flüchtig, irgendwie schlabberig und ziemlich unbeholfen. Nicht so diesmal!
Aber lasst uns noch einen Moment innehalten, nur einen kleinen Moment noch, einen kleinen Augenblick, bevor ich weitererzähle. Damit das hier – was immer das auch ist – nicht vollends in eine romantische Verklärung der Vergangenheit entgleitet, die es nicht ist, nicht sein soll, nicht sein darf – egal, wie sehr ich mir das auch wünsche. Denn sie hat sie hat sie zerstört, ich habe sie zerstört, die Vergangenheit, die nie wieder so sein wird, wie sie mal war, wie sie vielleicht nie gewesen ist. Und so gerne ich eine romantische Idealisierung meines bisherigen Lebens schreiben würde, so muss ich auch immer wieder an Carlos Ruiz Zafón denken, an diese Worte der Hellseherin aus Das Spiel des Engels: "Das Leben hatte sie gelehrt, dass wir Menschen nicht nur Luft zum Atmen, sondern ebenso sehr große und kleine Lügen brauchen. Sie sagte immer, wenn wir in der Lage wären, einen einzigen Tag lang vom Morgengrauen bis zur Dunkelheit die Welt und uns selbst völlig ungeschminkt zu sehen, würden wir uns das Leben nehmen oder den Verstand verlieren."
Ich weiß also schon jetzt, dass ich scheitern werde, in meinem Versuch, das Ideal absoluter Wahrheit, absoluter Ehrlichkeit zu erreichen. Ich weiß aber auch, dass ich immer wieder aufstehen werde und versuchen werde, diesen literarischen Nullpunkt zu erreichen, der eigentlich nicht zu erreichen ist. Denn genau darin liegt für mich die Essenz, der Kern jeglicher guter Literatur. Im Versuch, die Welt so darzustellen, wie sie wirklich ist. Oder eben war. Denn ich will und kann keine romantische Liebesgeschichte mehr schreiben, bin aber gleichzeitig noch nicht weit genug fortgeschritten, auf dem Pfad kompletter schopen-hauerscher Desillusionierung, um die Romantik komplett aus meinem Buch und meiner Seele zu verbannen, komplett auszumerzen – obwohl sie ausgemerzt gehört, zumindest in dieser Welt.
Also kommen wir zurück zu dem Kuss im Metropol, dem damals noch größten Kino Bonns. Nachdem ich mich durch ein paar verstohlene Blicke in Halbdunkel, nach links, nach rechts, nach vorne, nach hinten, versichert hatte, dass niemand zu uns rüberguckte – zu diesem seltsamen, ungleichen Paar: er groß, deutsch und trotz seiner jungen Jahre schon jetzt ein bisschen schwerfällig in seinen Bewegungen, sie klein und zierlich, älter als er, eine Ausländerin – ging es los.
Und Action!
Die Dunkelheit half natürlich, da konnte man eh nicht so richtig sehen, was wir machten...und dass ich eine Frau küsste, die ein paar Jährchen älter war als ich. (Sehen Sie: schmerzhafte Ehrlichkeit! Und, tut es schon weh?)
Aber in dem Moment, wo der Film anfing und ich schon fast überfallartig ihre Lippen in der Dunkelheit gefunden hatte...da passte alles. Das war nicht wie vor Jahren in Ungarn. Nein, unsere Lippen passten perfekt aufeinander, zueinander, verschmolzen förmlich in unseren Küssen, wie Schokolade in der Sonne, nein, noch besser: Eis in der Sonne. Eis, das langsam vor sich hinschmilzt und das man schnell auflecken muss, denn sonst tropft es, läuft einem über die Hand, über dieHaut. Ihrs Zironeneis oder Mangoeis oder irgendetwas Exotisches und meins Stracciatella, Nuss oder Mokka. Dunkle Schokolade...
Das war nicht bloß ein flüchtiger Kuss im sicheren Halbdunkel eines Kinos. Das waren echte Küsse: Mit Zunge, Zähnen, ganz viel Spucke, ganz viel Speichel und allem, was dazugehört. Lippen, Leidenschaft und Lecken. Das war Wahnsinn! Wie gesagt: Vom Film sahen wir eigentlich gar nichts, vielleicht nur mal kurz beim Atemholen.
Heute, drei Jahre nach der Trennung und eins nach der Scheidung, habe ich das nachgeholt und muss sagen: So schlecht war der gar nicht, ist der gar nicht, der James Bond. Aber das Gefühl war nicht mehr da, lässt sich nicht wiederholen, ist vorbei, für immer vorbei.
Ich küsste sie wie ein ausgehungerter, wie ein verdurstender Teenager in der Wüste. So als wollte ich die lieblosen letzten achtzehn Jahre meines bisherigen Lebens an einem einzigen Sonntagnachmittag im Metropol nachholen. (Also, an diesem Nachmittag hat sie bestimmt nicht gemerkt, dass ich noch Jungfrau war, mit meinen fast 19 Jahren.) Und irgendwann, irgendwann nach unserem fast zweistündigen Kussmarathon (möchte gar nicht wissen, was das für Kalorien verbraucht hat...), verließen wir das Kino auch wieder, Händchen haltend, noch immer wie im Rausch, noch immer geflasht. Inzwischen war es Abend geworden (hatte James Bond echt so lange gedauert?!) und es wurde schon wieder dunkel. Was uns nur recht sein sollte. Denn sobald wir uns außer Sichtweite in einer der kleineren Straßen hinter dem Kino befanden, ging es weiter. Alle fünf Meter, an jeder Ecke, jedem Eingang, zu den am Feiertag natürlich geschlossenen Geschäften, hielten wir an, um uns zu küssen. Wie Hunde, die überall hinpissen, um ihr Revier zu markieren, hinterließ ich alle fünf Meter meine Lippen auf und meine Zunge und Spucke in ihrem Mund – so als wollte auch ich mein Territorium markieren, wollte andere Hunde davon abhalten, in mein Revier einzudringen, in meine neue, meine erste "richtige" Freundin. Wir waren wie zwei geile Hunde, die nicht davon lassen können, sich zu beschnuppern, den gegenseitigen Geruch förmlich aufzusaugen und sich durch die Straßen zu jagen, immer getrieben von dieser unwiderstehlichen, tierischen Geilheit. Und trotz meiner fast komplett fehlenden Erfahrung in diesen Dingen, wurde ich zum pulpo – wie Conchita das Jahre später in Aberdeen nennen sollte – zur Krake, die sich mit ihren Armen förmlich an ihrem Körper festsaugte, an ihrem jungen, braunen Fleisch. Und die tatsächlich schon bei diesem ersten Date den Weg in ihre Hose fand. In diese enge, glatte Lederhose mit den Schnüren an der Seite, die sie damals noch hatte. Von hinten zwar, aber egal. Ich konnte ja schlecht von vorne reingreifen. Und so berührten meine Finger ihre Unterhose (ich glaube, es war die rote, die rote Spitzenunterhose). Da hatten wir und glaub ich schon langsam an den Friedensplatz rangetastet und geküsst und standen da in irgendeiner dunklen Ecke oder irgendeinem Hauseingang. Mit meinen Händen immer noch in ihrer Hose, hauchte ich ihr ins Ohr: "Vamos donde ti..." Oder sagte ich das damals noch nicht auf Spanisch? Sagte ich also "Lass uns zu dir gehen...?"
Ich weiß es nicht mehr. Aber eins weiß ich: An diesem Nachmittag wäre ich mit ihr nach Hause gegangen und hätte mit ihr geschlafen. Und das obwohl ich keine Kondome dabei hatte (anders als beim nächsten Mal, wo ich sie traf). Warum denn auch, beim ersten Date?! Fast bei meinem ersten Date überhaupt. Aber das wäre mir egal gewesen, ich wäre mit ihr nach Hause gegangen und hätte mit ihr geschlafen.
Aber dazu kam es (leider) nicht. Denn sie sagte irgendetwas wie: "Nein, das geht nicht. Da sind meine Schwestern. No, no es posible. Están mis hermanas..."
"Okay", sagte ich und gab klein bei. Vielleicht war ich ja auch froh darüber, dass ihre Schwestern da waren, wer weiß...
Scheiße
Ihre Scheiß-Schwestern
Meine Hand blieb noch ein bisschen in ihrer Hose und wir küssten uns noch ein bisschen und dann trennten wir uns. Nein, vorher gingen wir noch in dieses Café. Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, über was wir damals redeten, in diesem modernen, eleganten Café an der Ecke zur Oxfordstraße, schräg gegenüber vom Stadthaus, das es heute immer noch gibt. Keinen Schimmer. Aber das war auch nicht so wichtig. Wir hatten ja schon zueinander gefunden. Und so als wäre das für uns das Allernormalste auf der Welt, so als würden wir jeden Tag in ein Café gehen, spielten wir Erwachsene, bestellten uns etwas, tranken es langsam und küssten uns vielleicht ein-, zweimal verstohlen (doch nicht hier, wo uns jeder sehen kann, nicht so viel, nicht jetzt, gleich...). Hielten Händchen, ihre Finger dünn, braun und leicht knochig und meine kurz und kräftig (obwohl noch nicht so "wurstig" wie heute, denn ich war damals noch ziemlich dünn, wie ich letztens feststellen musste, als mir alte Abitur-Fotos in die Hände fielen). So jung, so unschuldig. Beide. Kurz darauf trennten wir uns, dieses Mal tatsächlich. Gaben uns noch einen letzten Kuss und wurden dann von der Straßenbahn
Aber für wen posierte sie denn da? Nur einen kurzen Augenblick später wusste ich es, guckte nach links und sah sie, wie sie da stand und lachte. Mit ihr lachte, ihrer Tochter, unserer Tochter. Ich weiß nicht, ob sie mich auch sah, und ob sie dann immer noch so herzhaft gelacht hätte – vielleicht lachte sie ja sogar darüber, dass ich da war, lachte über mich, oder mit mir, freute sich. Ich nicht, soviel ist sicher. Denn kaum hatte ich sie gesehen, da schreckte ich auch schon wieder zurück, wie jemand der sich an etwas verbrannt hatte und nun blitzartig seine Hand wegzieht, ging zurück zu den mittlerweile fast vollständig leeren Sitzreihen im vorderen Teil der Aula. Und obwohl sie vielleicht nicht einmal zu mir hinüberguckte, mich vielleicht nicht einmal bemerkte, kam es mir in diesem Moment so vor, als hätte sie über mich gelacht. Und das tat weh; war aber auch wie immer, nichts Neues: Alle waren fröhlich, vergnügten sich, lachten, nur ich nicht. Ich war wie vor den Kopf gestoßen, wie im Schock, schon wieder, noch immer. Ging halb benommen, halb unendlich traurig den Gang inmitten der leeren Stühle entlang, bis ich zu dem Getränkestand am anderen Ende der Aula kam, den Laptop, den ich mitgenommen hatte, weil ich direkt von der Abifeier zur Arbeit fahren wollte, in der einen Hand und den Rucksack in der anderen. Schwer tragend, immer schwer tragend, wie es sich für einen Wassermann gehört. In, an meinem Leben immer schwer tragend, immer eine Last mit mir herumschleppend, diese sichtbare und unsichtbare Last, auf meinen breiten Schultern, die mir Gott vielleicht genau für diesen Zweck gegeben hatte. Nahm mir eins dieser dünnen Gläser mit O-Saft. Nur allzu gerne hätte ich mir in diesem Moment echten Sekt genommen, mir einen angezwitschert, aber wie sehr erinnerte er mich an die letzte Abschlussfeier meiner Tochter am Ende der zehnten Klasse (wo ich noch belästigende, belastende SMS geschrieben hatte und hinterher in der Straßenbahn vor meiner Mutter geheult hatte wie ein getretener, geprügelter Hund). Ohnehin hatte ich seit Silvester vor nunmehr fast zweieinhalb Jahren nichts mehr getrunken.
Seit diesem fatalen Abend, an dem ich in einer Nacht einen halben Liter Kaffee, eine Flasche Wein, mindestens zwei Liter Weizen und noch jede Menge Wodka getrunken hatte. Und dann, nach dem Latino-Club (ich weiß, ich weiß, selber schuld), nach zwei Haltestellen schon wieder aus dem Nachtbus aussteigen musste, weil ich sonst meinen Mageninhalt in den Schoß meines sowieso schon ängstlich dreinblickenden Sitznachbarn entleert hätte. Aber das Beste kommt noch: Ich lief wirklich mehr als eine halbe Stunde– wahrscheinlich auch noch am Ende der Straße. Aber danach war alles gut. Obwohl ich mir zur Sicherheit noch einen Eimer nebens Bett stellte. Und auch den Eimer in der Dusche am nächsten Morgen nicht ignorieren konnte. Wie ein Tier hatte ich geblökt und gewürgt, immer wieder. So als wollte ich alles auskotzen, die ganze Scheiße, die ganze Frustration, die ganze Trauer, die ganze Wut. Bis es nicht mehr ging, und mein Magen, mein Herz und mein Arsch leer waren. Und noch nicht mal mehr Galle kam, ich trocken aber noch ein paar Mal nachwürgen musste.
Aber kommen wir zurück zur Abschlussfeier meiner Tochter, auf der ich, wie gesagt, nichts trank. Nichts trinken wollte. Wegen besagtem Abend und auch, weil ich noch arbeiten musste und nicht auf der Arbeit nach Alkohol riechen wollte. Also gab es O-Saft. Was ich ebenfalls nicht konnte, war drinnen bleiben. Ich kannte niemanden von den anderen Eltern und war seit der Trennung auf keinem Elternabend mehr gewesen (was auch seine Vorteile hatte, wenn man weiß, wie solche Veranstaltungen in der Regel ablaufen...) und da wollte ich nicht hier herumstehen wie bestellt und nicht abgeholt, inmitten all dieser kleinen Grüppchen. Aber auch draußen wurde es nicht besser, obwohl die Sonne schien und ich mich auf die Mauer am hinteren Ende des kleinen Innenhofs hinter der Aula setzte. Was mache
Wegen deiner Tochter!
Wegen ihr? Wirklich... Sie, die jetzt da drinnen bei ihrer Mutter und Co ist. Bei ihren Freundinnen. WährendRafael, Slainté und die ganze verfickte Bagage. Die so tut als ob es mich gar nicht gäbe. Die einfach weitermachen mit ihrem Leben, ganze drei Jahre nach der Trennung. Was für eine Frechheit! Anstatt bei dir zu bleiben, Solidarität mit ihrem Vater zu zeigen. Die Faust gen Himmel zu recken und zu sagen: "Das ist mein Vater! Ich bleibe jetzt bei dem! Der ist ganz alleine hier draußen." Aber sie ist ja auch gespalten. Was soll sie denn machen?! Sie hat diese beiden Eltern, die sich mit dem Arsch nicht mehr angucken, nicht mehr miteinander reden, und muss jetzt beiden gerecht werden. Ich weiß das alles, ich verstehe das alles, rational, aber das heißt noch lange nicht, dass mein Verstand in der Lage ist, die Wut zu verdrängen, die Trauer, die Leere. Machen wir uns doch nichts vor! Am Ende, nach fünf ewig langen Minuten auf der Mauer, kam sie doch noch raus. Klar, ich war ja auch noch da. Sagte etwas, an das ich mich nicht erinnere.
"Na..."
"Na."
Gab mir stolz ihr Abi-Zeugnis. Nein, das hatte sie mir beim letzten Mal draußen ja schon gegeben! Bei ihrem letzten Besuch. Ich sagte nicht viel. Was sollte ich auch sagen. Und irgendwann sagte sie dann: "Ich muss dann mal wieder rein..." Oder: "Ich geh dann mal wieder rein."
"Okay."
...
"Ich muss eh jetzt gehen. Ich muss eh gleich auf die Arbeit."
...
"Okay, ciao bis Montag."
Viel Spaß noch
"Pass auf, sonst kommst du noch in die Kölnstraße!"
"Du bist wohl aus der Kölnstraße abgehauen..."
"Du gehörst in die Kölnstraße!"
Ich saß da, wartete auf die Straßenbahn und guckte zu dieser großen roten Uhr hoch, die da steht, und die Menschen daran erinnert, dass ihre Stunde geschlagen hat oder bald schlagen wird. Ich dachte an damals, an die Trennung, an meine Mutter, an die Polizei, an die LVR-Klinik. Diese Arschlöcher, all diese Arschlöcher. Erst wenn du ganz unten bist, merkst du, wie viele Arschlöcher dich eigentlich umgeben, wie viele Arschlöcher es eigentlich gibt.
Die Abschlussfeier und dieser immer wiederkehrende Schmerz, dass sie mich einfach so verlassen konnte, ohne auch nur einmal, ein einziges Mal zurückzublicken, haben mich zu dem Entschluss kommen lassen, dass ich abschließen muss, endlich abschließen muss mit all dem Scheiß. Endlich einen Schlussstrich ziehen. Un corte, wie Conchi das damals so schön und gleichzeitig so drastisch ausgedrückt hat. So endgültig. So endgültig wie ein Adiós. ¡Un puto corte ya! Das ist mir gestern bewusst geworden. Ich habe sogar daran gedacht, mit dem ganzen Buch abzuschließen. Für immer. Aber das ist auch mein Buch, das ist auch meine Erinnerung, meine Vergangenheit. Und was auch immer die Gründe für dieses Buch sind, es erzählt MEIN LEBEN. Wie es damals war, wie es hätte sein können. Und schon allein deshalb hat es eine Daseinsberechtigung. Also kommen wir zurück ins Jahr 1996, wo ich gerade mein erstes Date mit Nadine erfolgreich hinter mich gebracht hatte. Und natürlich wollte ich sie nach dieser Kussorgie wiedersehen. Was ich auch tat. Denn ein paar Tage später (oder schon am nächsten Tag? Oder erst am nächsten Wochenende?) lud sie mich zu sich nach Hause ein. In die Altstadt. Sie wohnte in der Adolfstraße. Und die hieß tatsächlich so, was mir im Laufe der Jahre das eine oder andere Grinsen aufs Gesicht zauberte. Doch anders als der Name vielleicht vermuten lässt, hatte die Straße, in der selbst ich später eine Zeit lang wohnen sollte, nichts mit diesem Adolf zu tun. Obwohl ich mal irgendwo gelesen habe, dass es damals, während des Dritten Reiches einen Adolf-Hitler-Platz mitten im Zentrum von Bonn gab (ich glaube, da wo heute der Berliner Platz ist, aber ich kann mich da auch täuschen).
Ich setzte mich also auf mein Fahrrad (ein Mountainbike, mit dem ich auch zur Schule fuhr und das mir eigentlich schon zu klein geworden war, schon immer zu klein gewesen war), steckte mir die Ohrstöpsel des Walkmans in die Ohren und fuhr los. Today is gonna be the day... Oder hörte ich da noch kein Oasis? War das später? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich irgendwann auf dem Weg zu ihr, der an der Bahn entlangführte, Oasis hörte. Definitely Maybe. Eigentlich hätte mich das ja warnen sollen, diese Texte...und besonders die der beiden bekanntesten Oasis-Lieder, "Wonderwall" und "Don't look back in anger". Aber damals war ich definitiv noch nicht so gut in Englisch; und außerdem noch nicht so ein Textfanatiker. Und zu guter Letzt war ich viel zu verliebt. So verliebt, dass ich, wie ich so auf meinem Fahrrad saß und an den Bahngleisen entlang von Kessenich in die Altstadt fuhr, nur an eine Sache dachte...
...ich brauche noch Kondome...
Scheiße
Und das war nach dem, was nach dem Kino passiert war, diesmal wohl wirklich keine jugendliche Übertreibung oder Angeberei. Denn wenn wir schon beim ersten "Date" nach dem Kino wild fummelnd in Straßenecken landeten, was sollte dann erst jetzt passieren, wenn ich bei ihr zu Hause war? Okay, ihre Schwestern waren auch noch da, aber trotzdem. Und ohne Kondom hätte ich damals wohl nicht mit ihr geschlafen, obwohl ich später, wo sie die Pille nahm, nicht mehr mit Kondom mit ihr geschlafen hätte. Der bloße Gedanke daran, wie ich in sie eindringe, ruft bei mir ein Kribbeln in der Hüftgegend hervor. Boah, wie schön das jedes Mal war, dieser Moment des Widerstandes, bevor mein Penis ganz in ihre Scheide eintauchte. Dieses Weiche, Geile
Vielleicht war das ja genau einer der Gründe, warum die Ehe am Ende nicht hielt. Dass ich immer nur Sex von ihr wollte. Oder anders ausgedrückt: Dass ich nur ihren Körper wollte und nicht sie, ihren Geist, sie als Person, als Mensch. Oder sie das dachte.
Aber ist das nicht genauso ein Mindfuck?
Denn heute, wo ich so darüber nachdenke, über unsere gescheiterte Ehe, frage ich mich immer wieder, ob ich wirklich nur Sex von ihr wollte, wie es bei ihr und vielleicht auch in meinen Gedanken oft durchklang. Aber ist denn (nur) Sex so was Schlimmes? Ist es nicht die oberste Aufgabe des Menschen, sich fortzupflanzen und so den Fortbestand der menschlichen Rasse zu sichern? Sind auf dem Intellekt beruhende Beziehungen wirklich das höchste der Gefühle? Oder doch nur eine Ersatzbefriedigung? Ist es wirklich der Kopf, der einen bei einer Frau oder einem Mann anzieht? Das ist doch alles Quatsch, Welt- und Selbstverbesserungsquatsch, wie er heute durch das Internet bis in die kleinste Ecke verbreitet wird, aber dadurch nicht weniger verlogen und selbstbetrügerisch ist. Und außerdem ist ja Sex auch so viel mehr als nur Sex. Sex ist auch Wärme, zum Beispiel, oder ein Austausch von Zärtlichkeiten, den man alleine durch Gespräche - egal wie intellektuell anregend diese auch sein mögen - nicht erreichen kann. Aber vielleicht bin ich ja auch noch zu nah am Neandertaler gebaut, wer weiß. Aber diese ganze "Wir-müssen-den-anderen-für-seine-Einzigartigkeit-Persönlichkeit-und-seinen-Kopf-schätzen-und-nicht-für-seinen-Arsch-und-seine-Titten"-Scheiße hat uns vielleicht ja erst da hingebracht, wo wir jetzt sind: in einem alternden, verkopften, kinderfeindlichen Europa, das ausstirbt. Das an seiner Hirnwichserei zugrunde geht.
Der Mensch ist ein Tier, der Mensch ist auch immer ein Tier.
Aber lasst uns weitermachen, immer weiter (wir wollen ja fertig werden...): Ich saß also auf meinem zu kleinen Fahrrad, fuhr Richtung Stadt und musste noch Kondome kaufen. Denn das waren schließlich die 90er. Und da war AIDS noch in aller Munde. Ok, im Mund vielleicht nicht, obwohl es da widersprüchliche Aussagen gab. Ich weiß noch, dass ein Freund mir erzählte, dass man 9 (!) Liter Spucke trinken musste, um AIDS zu bekommen; gleichtzeitig stand aber in der Bravo, die ich natürlich ein paar Jahre früher immer gelesen hatte oder immer noch las (und hier besonders gerne das Dr. Sommer), dass Zungenküsse gefährlich sein konnten, je nachdem, welche Verletzungen man im Mund hatte. Und dann waren da natürlich Stars wie Magic Johnson, von dem ich als Basketball- und Lakers-Fan sogar ein Poster in meinem Zimmer hängen hatte, der einer der wenigen von denen war, die sich damals angesteckt hatten (er hatte wohl immer wilde Partys mit den Lakers-Cheerleadern), aber bis heute überlebt haben. Was man von Eazy-E von N.W.A. und Freddie Mercury nicht sagen kann. Der war sogar Schulgespräch gewesen, damals, daran erinnere ich mich noch ganz genau, an dem Tag, wo das in der Zeitung stand, dass er gestorben war. Das weiß ich noch, da standen wir morgens auf dem Schulhof und redeten über Queen und Freddie Mercury, was ja bei dem Bekanntheitsgrad und bei den ganzen Liedern wie "We Are The Champions", "We Will Rock You" oder "Bohemian Rhapsody" auch kein Wunder war. Über Freddie Mercury und diesen Schwimmer, dessen Namen ich nicht mehr weiß, aber der auch an AIDS gestorben war. Und sterben wollte ich damals noch nicht, mit gerade mal 18 Jahren; denn trotz Magic Johnson war AIDS damals echt noch ein fast sicheres Todesurteil, anders als heute, obwohl ich mir da auch nicht so sicher bin. Wusste ich denn, mit wem sie vorher alles geschlafen hatte?! Bah, das wollte ich mir gar nicht vorstellen. Manche Sachen will man gar nicht genau wissen. Oder wie James Kelman in einem seiner Bücher sagt - und ich betone, dies ist ein Zitat oder zumindest paraphrasiert: "Eine Reihe von Schwänzen..." ...wie sie in sie eindringen (und das ist jetz leider kein Zitat mehr, con perdón). Langsam und schnell, brutal und sanft, lange Schwänze, kurze Schwänze, dicke Schwänze, dünne Schwänze und so weiter und sofort (you get the picture). Kannte ich sie denn?! Nur ein paar Tage. Und wenn sie gleich nach dem ersten richtigen Date sich von hinten in die Hose greifen ließ und vielleicht sogar fast mit mir geschlafen hätte, dann musste ich auf alle Eventualitäten zumindest vorbereitet sein.
Also ging es Richtung Hauptbahnhof. Das war der einzige Ort, wo ich wusste, dass es einen Kondomautomaten gab (die Geschäft hatten ja auch nicht auf). Aber das war gar nicht so einfach: Denn der Kondomautomat befand sich natürlich auf der Bahnhofstoilette - wo denn auch sonst?! Aber da musste ich jetzt durch, im wahrsten Sinne des Wortes. Wer ****** will, der muss nicht nur durch schales Pipi auf der Bahnhofstoilette waten. Nein: Der muss auch...50 Pfennig haben, um auf dieses natürlich äußerst saubere Klo gehen zu können. Scheiße! Diese Arschlöcher! Ich will doch gar nicht auf Klo. Ich will doch nur...Kondome! Mannomann! Zum Glück hatte ich noch ein 50-Pfennig-Stück (was hätte ich nur getan, wenn nicht - über das Drehkreuz springen?), stieg auf Zehenspitzen durch die Pipi-Suppe auf dem Boden der Toilette (wenn die schon von jedem 50 Pfennig nahmen, warum konnten sie die Toilette dann nicht wenigstens richtig sauber halten?!) und fand den Kondomautomaten. Es gab auch keine wirkliche Auswahl (das erste von zwei Fächern war leer oder kaputt), sondern nur irgendwelche schwarzen Päckchen, auf denen ein paar fröhliche Kondome mit Augen, Nase und Mund beim Tanzen dargestellt waren. Stellt euch das mal vor: schwarze Kondome! Aber in der Not nimmt der Teufel auch schwarze Kondome. Schnell schlich ich mich aus dem Bahnhofsklo heraus, guckte mich noch mal um, ob mich auch wirklich keiner gesehen hatte und machte mich auf den Rest meines Weges in die Altstadt. Die nicht mehr sehr weit weg war. Wie schon gesagt, wohnte sie (mit ihren Schwestern) in der Adolfstraße, fast direkt gegenüber der Polizeiwache in der Bornheimer Straße, am Anfang der Adolfstraße. Ich war so nervös, dass ich erst mal einmal an ihrer Erdgeschoss-Wohnung vorbeifuhr, bevor ich mein Fahrrad abstellte und vorsichtig zur Tür dieses unscheinbaren grauen Hauses ging, fast schon schlich.
Ich kam da an und war klitschnass. Zog mir die Hose aus. Wurde genötigt, die Hose auszuziehen...nein, das war später. Oder an dem Tag? Nein, das kann nicht am ersten Tag gewesen sein, wo ich da war. Sonst hätte ich mich ja nicht zuerst nach links und rechts umgeguckt, wäre nicht noch mal um den Block gefahren, nachdem ich schon lange wusste, welches Haus ihres war. Nein, das muss später gewesen sein, aber auch noch ziemlich am Anfang, wo alles noch gut war zwischen ihren Schwestern und mir, boah, wie lang muss das her sein.
Ein anderes Mal musste ich die Hosen runterlassen, natürlich ganz sittsam, in eine dicke Wolldecke gehüllt. Doch schon bald sollte ich auch zum ersten Mal richtig die Hosen runterlassen. Aber dazu später. Vorerst war ich erst mal bei ihr zu Hause. Lernte ihre Schwestern können. KomischHerzen im Gleichklang verknüpfe, zwei nackte, leicht schwitzige Körper, die verzweifelt versuchen, ihre Herzen in Einklang zu bringen. Das störte mich damals noch überhaupt nicht und auch die Wohnung fand ich nicht zu klein für drei junge Frauen, das war halt alles noch zu viel Abenteuer. Auch ansonsten war die kleine Wohnung eher spärlich und nicht gerade luxuriös eingerichtet. In der Küche stand ein alter Herd, der noch Platten hatte und noch kein Ceranfeld, die damals gerade in Mode kamen (meine Mutter hatte schon eins!). Im Wohnzimmer gab es einen alten massiven Holzschrank, in dem sie ihre Klamotten und Papiere aufbewahrte, so einen Schrank aus Stoff mit noch mehr Klamotten und zwei alte Sofas (die mir ebenfalls gut in Erinnerung geblieben sind). Aber das beste am Wohnzimmer war das Poster über dem Sofa; denn da hing ein riesiges Poster einer exotischen Schönheit, die sich halbnackt (oder war sie ganz nackt?) vor einem Hintergrund aus Palmen und Dschungel räkelte. Das heißt, eigentlich räkelte sie sich nicht, sondern posierte mit ihrem braunen halb oder eben komplett nackten Körper vor Palmen oder irgendwelchen Dschungelbäumen. Keine Ahnung, warum die das da hängen hatten; vielleicht drückte das irgendwelche geheimen Wünsche oder Sehnsüchte aus, was weiß ich. Das Poster war glaub ich aus Kolumbien, da war glaub ich eine spanische Aufschrift drauf, aber an die erinnere ich mich nicht mehr. An die Frau schon. Das alles war so neu, dass ich es am Anfang gar nicht richtig aufnehmen konnte. Das galt auch für Nadines Schwestern, obwohl ich die bei der Silvesterfeier in der Disko schon flüchtig kennengelernt hatte. Daran erinnere ich mich noch: Die mittlere Schwester (in Deutschland) hatte damals diese Rastafrisur oder wie das heißt. Cornrows, glaube ich. Genau das hatte die. Cornrows! So heißen die! Wie diese Schwarzen. Und obwohl sie als Ecuadorianerin natürlich nicht weiß war, war sie auch keineswegs schwarz. Braun eben. Dabei hatte die gar nicht so viele Haare. Und vor allen Dingen nicht so dichte. Die, die sie hatte, waren eher glatt und dünn eben. Ich glaube sogar, mich daran erinnern zu können, dass sie ein richtiges Loch oberhalb der Stirn hatte. Aber damals wäre mir das noch nicht aufgefallen. Das heißt, aufgefallen schon, aber es störte mich nicht. Auch sie störte es nicht, nicht im Geringsten, warum sollte es auch. Sie lächelte das Loch einfach weg. Mit ihrem fröhlichen, leicht koketten Lächeln. Das irgendetwas hatte, etwas Freches, Insolentes, fast schon Unverschämtes. Doch damals fand ich sie nett, beide. Ihre andere Schwester war älter als die mittlere, gesetzter. Seriöser. Aber auch trockener, zynischer, abgeklärter. Ja, Mandy hatte immer etwas Überlegenes, fast schon Überhebliches an sich. Diese trockene, leicht verächtliche Lächeln, das sie hatte. So als wollte sie ständig sagen: "Was wollt ihr schon?!". Damals wusste ich noch nichts von ihrem Ehemann Rafael. Ach, was waren das doch für glückliche Zeiten. Auch Mandy mochte mich am Anfang, oder zumindest glaube ich das. Denn bei Mandy mit ihrer kühlen, fast schon zynischen Art wusste man nie. Aber egal: Slainté war ja nett, wenigstens damals noch. Ich kam also da an, mit nasser Hose, und die gaben mir eine Wolldecke, eine dieser dicken, großen Wolldecken, die es in Ecuador überall zu kaufen gibt, und die in den Anden die fehlenden Heizungen ersetzen. Und ich saß da, in der Unterhose, unter der Decke, während meine Hose auf der Heizung unter dem Fenster zur Straße brutzelte. Und guckte Nadine an, oder redete mit ihr. Gab ihr vielleicht die Hand, hielt ihre Hand in meiner... Nein: Noch nicht. Nicht vor ihren Schwestern. So weit waren wir noch nicht. Aber zusammen waren wir schon. Ich hatte endlich eine Freundin; und ich würde mir das nicht kaputt machen, ich würde mir das nicht nehmen lassen, koste es, was es wolle. Ich würde so gut und nett zu ihr sein wie möglich. Das sagte ich mir immer, als ich mit dem Fahrrad zu ihr in die Altstadt fuhr: "Du wirst sie gut behandeln. Du wirst gut zu ihr sein. Damit sie bei dir bleibt." Damit du deine Freundin nicht gleich wieder verlierst. Ich habe mir da richtig Druck gemacht. Mich immer wieder daran erinnert, dass ich gut zu ihr sein müsste. Nett. Zuvorkommend. Gut. Aber wenigstens war das angenehmen Druck. Und am Anfang schaffte ich es auch weitestgehend. War nicht eifersüchtig, nicht besitzergreifend, nicht wütend, nicht depressiv, nicht niedergeschlagen...wie später so oft... Strengte mich an, war nett zu ihr, streichelte ihr Gesicht, ihre Wange, küsste sie, wann immer ich konnte. Jahre später gab sie zu, dass ihr das Streicheln ihrer Wangen oft zu viel war. Oder manchmal, ich weiß es nicht mehr. Von meinen Küssen konnte sie auf jeden Fall nie genug bekommen. Und so verschwanden wir in dieser Anfangszeit unserer Beziehung an jeder Straßenecke, in jedem Hauseingang, in jeder Passage, auf jeder Parkbank, hinter jedem Baum, um unsere Lippen zu spüren, uns die Zunge in den Hals zu stecken und manchmal sogar unsere Zähne aneinander zu schlagen. Das hatte nach unserem ersten Kinobesuch angefangen. Und wenn wir einmal dabei waren, ging das immer weiter. Dann waren wir nicht mehr zu trennen...wie siamesishe Zwillinge. Das war so schlimm, dass wir keine fünf Meter gehen konnten, natürlich Händchen haltendJungfrau war, bremste dieses Verlangen nicht, diesen Wunsch nach Liebe, nach Wärme, nach Haut, nackter Haut. Wenn man mich so gesehen hätte, wie ich an jeder Pissecke mit ihr verschwand, um mir noch mehr Küsse abzuholen, hätte man im Leben nicht daran gedacht, dass ich ein blutiger Anfänger war, eine männliche Jungfrau, was noch viel schlimmer als eine weibliche ist. Und das gefiel mir. Sollten sie doch gucken. Ja, da guckt ihr!
Wie Mario. Der ganz schön dumm aus der Wäsche guckte, als ich ihm irgendwann in der Schule sagte, dass ich eine Freundin hatte. Und sogar noch dümmer guckte - wenn das möglich ist -, als ich ihm nichts weiter sagte. Denn er hatte mir, der männlichen Jungfrau, immer alles von seiner Freundin erzählt. Da waren Sachen dabei, das kann ich Ihnen sagen. Er schlief schon mit seiner Freundin, einer Inderin, das heißt, ihre Eltern waren aus Indien und sie war ein wirklich nettes
Echt jetzt?! Leck mich am Arsch! Physik! Metereologie. Oder was auch immer. Chemie, haha. Aber wenn ich so drüber nachdenke, bin ich mir über die Chemie nicht so wirklich sicher. Denn einmal...einmal erzählte er mir - wieder auf dem Schulhof -, dass mit Janet doch nicht alles so rosarot beschlagen war wie er es mir in seinen Auto-Geschichten weismachen wollte. Und er machte den Kardinalfehler Nummer eins: Er fragte mich um Rat. Mich, die eiserne Jungfrau. Mich, der ich überhaupt keine Ahnung von diese Dingen hatte - sonst wäre ich ja keine Jungfrau mehr gewesen. Aber vielleicht erzählte er mir das, was er mir erzählte, ja genau deshalb. Nämlich, weil ich keine Ahnung hatte. Und er mich beeindrucken wollte. Aber warum mich, wer war ich schon? Aber vielleicht wollte er ja auch nur einfach zeigen, wie cool er ist, wollte mir zeigen, was für ein Kerl er doch ist, was für ein toller Hecht. All diese pikanten Details, die ich arme, männliche Jungfrau mir damals anhören musste. Einmal...ja, einmal erzählte mir Mario, wie er versucht hatte, mit ihr zu schlafen, aber...wie soll ich das jetzt sagen...am besten sage ich es mit ihm, sage es, wie er es sagte. Er sagte also auf dem Schulhof, vielleicht sogar noch während ich mein Pausenbrot am Essen war...nein, nur Spaß, keine Angst, es war bestimmt schon verspeist: "Aber der ging nicht richtig rein..." Hatte er das gerade echt gesagt? Und dazu diese eindeutig zweideutige Handbewegung gemacht. Ich habe solche Gesten bei Männern immer gehasst, Männer, die so was machen sind einfach, keine Ahnung... Was wollte er mir sagen, indem er mit einem Grinsen den oberen Teil seines Daumens vor meiner Nase abknickte, um mir zu verdeutlichen, wie er nicht richtig "reinging". Ich meine, ich verstand das schon: Sein Daumen war sein Penis. Und der...ging eben nicht rein... Keine Ahnung warum...wahrscheinlich aber genau deswegen. Ich meine, die arme Freundin. Die war wahrscheinlich tierisch nervös (das war ja schließlich ihr erstes Mal mit Mario). Und dann wollte Mario auch noch den Holzhammer auspacken. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sein Hämmerchen. Am Ende konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass ihr das mit mir nicht passiert wäre. Was für ein Spacken...und das war eine tolle Frau, ein tolles Mädchen... Warum kriegen tolle Mädchen/Frauen nur immer solche Arschlöcher? Aber gut: So toll kann er ja auch nicht gewesen sein. Wenn es bei ihm nicht fluppte. Oder wie er sagte: Wenn er nicht reinging. Wochen, Monate später ging meiner rein, ohne Probleme, aber so weit sind wir noch nicht...
Gestern habe ich dieses Lied gehört. Dieses Lied von den Toten Hosen. Mit dem leicht paradoxen Titel "Kein Alkohol ist auch keine Lösung". Und dabei ist mir eingefallen...ich habe ihr auch eine Rose gekauft, damals in der Disko...eine einzige, von einem Inder...an unserem ersten Abend in der Disko...wie lange ist das jetzt her...23 Jahre...und heute, heute kann ich mit Fug und Recht sagen: Ich habe dir vergeben, Nadine, vergeben und vergessen...man muss auch vergeben können...und Mann eben auch... Ich meine, zusammen sein mit dir könnte ich nicht mehr...aber Schwamm drüber...Schwamm über die Vergangenheit...lass uns vergeben und vergessen...wir haben die schönste Tochter der Welt gezeugt und das allein war es wert...die ganze Scheiße, all die Jahre, die Langeweile einer Ehe, die Pseudo-Partys, die Verwandten und deine Familie...all die verpassten Chancen...all der schlechte Sex...Nadine, ich vergebe dir (am schlechten Sex war ich ja auch beteiligt)...und unsere Tochter ist der beste Beweis, dass es das wert war, alles wert war...
Aber kommen wir zurück zu unserer Geschichte. Wir waren also so etwas wie "zusammen". Und ich fuhr mit dem Fahrrad zu ihr in die Altstadt. Mit meinem Mountain-Bike, das eigentlich schon eine Größe zu klein für mich war. Immer mit Oasis auf dem Ohr. Damit hatte ich gerade erst angefangen. Mich gerade erst von meiner Jugend befreit, in der ich fast ausschließlich Gangsta-Rap gehört hatte. Das war schön, endlich jemanden zu haben. Endlich war sie da, die Freundin, nach der ich mich so lange gesehnt hatte. Und ich wollte das nicht versauen, auf keinen Fall. Also musste ich alles richtig machen, musste sie gut behandeln. Ich redete es mir immer wieder ein: Du musst besonders gut sein, besonders nett zu ihr. Du musst dich benehmen. Du musst dich anstrengen. Damit sie bei dir bleibt. Damit du sie nicht direkt wieder verlierst.
Natürlich war das ein Fehler. Aber so war ich halt. Ich weiß noch, einmal dachte ich das genau als ich bei ihr reinkam: Du musst dich anstrengen. Diesmal muss es klappen. Anders als bei deiner Mutter...mit deiner Mutter. Wo du immer alles falsch gemacht hast.
Das hielt mich natürlich nicht davon ab, trotzdem alles falsch zu machen. Vielleicht noch nicht in diesem Moment, aber später dann schon. Aber zumindest am Anfang war noch alles eitel Sonnenschein, wie mein Vater sagen würde. Ich fuhr zu ihr, wir küssten uns, wir knutschten und schlabberten wie wild rum, waren die ganze Zeit zusammen, ich streichelte ihr mit der Hand über das Gesicht, immer und immer wieder. Über die Backe, die Wange, weil die Arschbacken waren es noch nicht. Wir küssten uns, machten überall rum, wo es möglich war (im Park, im Hausflur, an Haltestellen, in Eingängen aller Art, hinter der Beethoven-Statue, auf dem Spielplatz), hielten Händchen (bei ihr klang das immer wie "Hähnchen", wenn sie das sagte, mit ihrem spanischen Akzent), obwohl die Kondome noch nicht zum Einsatz kommen sollten, nicht so schnell. Trotz unseres stürmischen Anfangs. Einmal kam sie sogar heimlich zu mir nach Hause. Keine Ahnung, was mich da geritten hatte. Meine Geilheit wahrscheinlich. Oder ihre Geilheit? Das passiert, wenn der kleine Kopf da unten das Kommando übernimmt, würde Terrence Popp sagen. Auf jeden Fall durchschritten wir zusammen die Toreinfahrt. Vielleicht sogar Händchen haltend. Doch als wir im Hinterhof angekommen waren, wo sich die Wohnung meiner Eltern befand, guckte ich mich schon noch mal nach allen Seiten um. Nicht dass die Nachbarn. Die Jungfrauen von oben, vom Vorderhaus. Eigentlich waren die gar keine Jungfrauen mehr, schon lange nicht mehr, aber dein Vater nannte sie so. Keine Ahnung warum. Wahrscheinlich, weil sie beide nicht verheiratet waren. Und irgendwie liiert waren sie meines Wissens nach auch nicht. Aber zum Glück war niemand zu sehen. Auch nicht im Büro der Filmfirma, das sich direkt unter der Wohnung meiner Eltern befand. Die mochten mich eh nicht, da musste ich aufpassen. Aber es lief alles glatt. Und sie folgte mir ins Innere des Hauses. Erst durch den Flur...der Nachbar saß zum Glück nicht da...oder war der da schon tot? Ich glaube schon. Im Flur saß er jedenfalls nicht. Das war immer sein Platz, im Flur. An diesem einfachen, kleinen Gartentisch, immer am Rauchen. Und im Frühjahr sagte er einmal sogar zu meiner Mutter, dass er Frühlingsgefühle hätte. Das heißt, so blumig hat er sich nicht ausgedrückt. Stattdessen sagte er irgendwas von Säften, die in ihm aufsteigen. Was meiner Mutter natürlich übel aufstieß. Keine Ahnung warum. Aber das war in diesem Moment auch nicht mein Problem. Denn ich schloss gerade die untere Haustür auf und ging vor Nadine die schmale Treppe nach oben. Wobei ich ein bisschen Angst hatte. Schließlich war das das Terrain meiner Mutter, ihr Revier, auf das ich mich hier begab. Und wenn die mich hier mit Nadine erwischt hätte. Wie ein paar Monate darauf in der Badewanne. Aber davon später. Noch war es nicht so weit, dass wir gemeinsam badeten. Stattdessen gingen wir ganz gesittet gemeinsam die "Hühnerleiter" hoch (wie meine Mutter die steile, enge Holztreppe nannte, die in den ersten Stock führte...). Und da ich natürlich vorging, starrte ich ihr noch nicht mal auf den nicht vorhandenen Arsch. Im ersten Stock, wo das Wohnzimmer, die Küche und das Schlafzimmer meiner Eltern war, hielt ich mich erst gar nicht lange auf. Sondern steuerte direkt die zweite, noch engere Hühnerleiter nach oben an. Wie gesagt: Keine Ahnung, was mich, was uns da getrieben hatte. Aber was auch immer es war, es trieb uns erst die Treppe hoch und dann direkt in mein Zimmer. Noch kurz durch den Vorraum, in dem die Trümmer meiner Kindheit standen. Das Playmobil, Lego, die Modellautos, die Dartscheibe. Aber das sah ich an diesem Nachmittag gar nicht, ich sah nur sie. Wir gingen in mein Zimmer, mein altes Kinderzimmer. Sie guckte sich bestimmt kurz um, aber daran erinnere ich mich nicht. Vielleicht guckte sie sich ja mein Modellflugzeug an. Oder meine alten Hefte aus der Grundschule. Die Fußballbildchen an der alten Schrankwand über meinem Jugendbett. Felix Magath bei Uerdingen, das einzige Bild, an das ich mich noch erinnere. Obwohl, hatte ich die überhaupt noch oder schon das neue, schwarze Futon-Bett. Denn genau da landeten wir: im Bett. Keine Ahnung, wie es so schnell dazu kam, aber das war alles so effortless, wie Corey Wayne sagen würde. Obwohl, ganz so überraschend war das dann auch wieder nicht. Denn wir waren ja auch schon nach unserem Kinobesuch fast schon übereinander hergefallen. Bestimmt war ich ihr dabei auch irgendwann unter den Pullover gegangen. Ne, streichen wir das bestimmt...ganz sicher! Aber diesmal war das mehr, ging weiter. Sie lag unter mir, neben mir, unter mir. Wir küssten uns. Wie verrückt, wie entfesselt. Ich war fasziniert von ihrer...Nase...ihrer lateinamerikanischen Nase. Ich meine, den Pullover schob ich ihr auch nach oben. Mitsamt BH. Sie hatte, glaube ich, so einen normalen Stoff-BH an. Mit Blümchen, glaube ich. Keine Spitze, keine Polster, gar nichts. So ein lockerer. Wo die Dinger bestimmt irgendwann von alleine herausgefallen wären, wären meine Hände nicht schneller gewesen. Und so hing ihr BH schwuppsdiwupps da, wo er nicht hingehörte, nämlich über ihren Brüsten. Sie hatte schöne Titten. Kleine, braune, schöne Titten. Mit diesen großen, langen Brustwarzen. Wenn ich so drüber nachdenke, dann war das das erste Mal, dass ich überhaupt Titten live gesehen hatte - außer natürlich denen meiner Mutter. Diese waren aber definitiv kleiner, brauner und jünger. Und obwohl das alles so herrlich kaffeebraunes Neuland für mich war, hielt ich nicht inne. Und knetete und lutschte, was das Zeug hält. So als hätte ich nie etwas anderes gemacht. Das fühlte sich so geil an, ich war so geil. All die aufgestaute Energie. Und jetzt war sie endlich da: meine erste Hühnerbrust. Aber mehr als Hühnerbrust gab es an diesem Tag nicht. Vielleicht ging ich ihr ja mit der Hand in die Hose. Vielleicht kam ich ja sogar bis an die Schamgrenze, an diese Stoppeln, da, wo sie sich immer rasierte, diese Stoppeln am Rande des Bermudadreiecks, die so unglaublich sexy waren. Doch da hielt ich inne. Meine Hände glitten wieder nach oben, über ihr kleines Bäuchlein hoch zu ihren Brüsten. Denn in meinem Hinterkopf spukte der Gedanke herum: Was würde passieren, wenn meine Eltern nach Hause kämen? Und so war ihr Unterleib vorerst vor meinen Händen sicher, was natürlich nicht für ihren Oberkörper und ihre Brüste galt. Ihre Titten. Stattdessen bewunderte ich von oben ihre südamerikanische Nase, die mich irgendwie anzog, die ich irgendwie voll sexy fand. Mehr als ihren Arsch? Ihren nackten Arsch? Weiß ich nicht. Und wie wir wissen.: Wenn wir "weiß nicht" sagen, wissen wir ganz genau warum. Vielleicht war es ja auch, um nicht ihre Falten zu sehen, aber ich liebte diese Nase, fühlte eine Zärtlichkeit für sie. Ja, okay, sie war älter als ich, aber deswegen würde ich doch jetzt nicht aufhören, jetzt, so kurz vor dem Ziel. Vor meinem ersten Mal. Das heute nicht mehr stattfinden sollte, aber dem ich so nahe gekommen war wie noch nie. Und so zog sie sich wieder an, zog sich den Pullover wieder runter, rückte sich vorher noch ihren BH zurecht und schwups waren ihre titties, ihre tetas wieder weg und sie war schon wieder raus aus dem Bett. Guckte sich noch einmal in meinem Zimmer um, guckte sich mein großes, weißes Tornado-Modellflugzeug mit der Deutschlandflagge auf dem Heckruder an und relativ schnell danach waren wir auch wieder draußen, gingen zusammen durch die Toreinfahrt, die zum Hinterhof führte, nach draußen, auf die Straße, lachend. Boah, heute will ich mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn uns meine Mutter erwischt hätte. Wie ein paar Wochen später in der Badewanne. Aber dazu mehr später. Geduld, Geduld.
Das waren also meine ersten...,äh,...Titten. Live-Titten. Außer natürlich denen deiner Mutter. Die ich des Häufigeren erblicken musste, als sie nach der Dusche wieder mal nicht halbnackt, sondern ganz nackt durch die Wohnung rannte...die 68er lassen grüßen! Aber diese waren brauner, kleiner, jünger und...schöner. Mit diesen langen braunen Brustwarzen.
Und lachend liefen wir hinter der Toreinfahrt, die in unseren Hof führte, auf die Straße, sie und ich. Oder war es am Ende doch nur ein verschmitztes Grinsen und ein verstohlenes Umgucken nach allen Seiten? Meinerseits... Keine Ahnung, aber ich war glücklich...
Und meine Mutter merkte auch nichts. Nicht wie später bei der Badewanne.
Es folgen diffuse Erinnerungen an heiße und, vor allen Dingen, lange Küsse, Umarmungen, Betatschungen und Fast-Sex. Die Wiese vor der Beethovenhalle, ich drücke sie im Halbdunkel an diesen Baum, küsse sie, meine Hände gehen unter ihre Jacke, ihren Pullover, unter ihren BH, in ihr Höschen. "Larson, nicht hier, lass das, ohhh...", sagt sie halb mahnend, halb lustvoll, wir sitzen am Rhein abwechselnd aufeinander, nebeneinander, untereinander. Wie sie auf der Bank auf mir sitzt und ich sie spüre, ihren Körper. Unter dem dicken Pullover und der Jacke, denn da war es noch Winter, am Anfang. Ja, am Anfang. Das waren noch Zeiten. Da waren die Küsse noch kleine Marathons, mit Zähnen, die aneinander stießen, Zungen, Spucke. Wo immer wir konnten, fielen wir übereinander her, hatte keine Kontrolle über unsere Hände, Zungen, Körper.
Ich tanzte mit ihr, sang den Text für sie. Ich weiß noch dieses eine Mal, wo wir in Godesberg waren, in dieser Disko, wo viel Rap lief. Sie war verschwitzt – sie schwitzte tatsächlich manchmal, vom vielen Tanzen -, ich sowieso, in der Disko lief Gangsta’s Paradise und wir waren glücklich. So einfach war das damals. Alles, was wir brauchten, waren ein paar heiße, schwitzige, salzige Küsse, ein bisschen Sex, Musik und scheinbar nie enden wollende Gespräche auf Spanisch. Da brauchte ich noch nicht mal Alkohol, um glücklich zu sein, in dieser wilden Zeit zwischen Abitur und Bund. Ein bisschen Bier und das war’s.
Aber ich greife vor, I'm getting ahead of myself, denn so weit waren wir noch nicht. Ich greife vor oder zögere hinaus, je nachdem, wie man's sieht, denn erst mal kam kam sie, unsere erste gemeinsame Nacht. Warum das Unausweichliche immer weiter hinausschieben, es musste ja irgendwann passieren. Ich muss ja irgendwann sowieso darüber schreiben, mich ihr stellen, ihr und dieser ersten Nacht, meinem ersten Mal. Um sich noch einen letzten Rest Unschuld, einen letzten Rest Unbeschwertheit zu bewahren. Die Initiative ging - anders als im Kino - von ihr aus.
"Vamos a dormir donde mi amiga ...."
Sagte sie das wirklich, verbalisierte sie es? Oder sagte sie nichts und schleppte mich einfach mit zu der Freundin, zogen uns unsere ständigen Kussarien zu der Freundin?
Überraschung!
Sorpresa!
Mit einem Lächeln?
Die Vergangenheit ist ein dunkles, schwarzes Loch, das nur bisweilen von einem einsamen, gebrochenen, verzerrten, gespiegelten Lichtstrahl erhellt wird.
Gefangen in einem Sog aus Schweiß, Spucke, Fleisch und Hormonen landeten wir schließlich in Lauras kleinem Zimmer in diesem Schwesternheim in der Nähe des Rheins. Gefährlich! Aber ich spürte natürlich wieder nichts von der Gefahr, in der ich mich befand, als sie mir Laura vorstellte, eine Freundin aus Ecuador, die ich bisher noch nicht kennengelernt hatte.
Hola
Hola
Sie lächelte und ich gab ihr brav die Hand, nichts ahnend ...
Laura war schwarz, hatte kurze Haare, eine Brille, ein rundes Gesicht und lächelte freundlich. Wohlwissend ...
Wohlwissend?
Ja, wohlwissend!