Samstag, 10. September 2016

Sechs Fuss unter mir



 






„Und? Wie geht’s dir?“

Er guckt sie an, guckt ihr direkt in die Augen, überlegt einen Moment und sagt dann:

„Was soll ich dazu sagen?“

Was willst du hören. Neuigkeiten? Action? Oder was? Er ist sich fast sicher, dass die genau das hören will, was er ihr gleich sagen wird. Die will keine guten Neuigkeiten, die will nicht hören, dass er sein Leben langsam wieder in den Griff bekommt, dass er beginnt, sie zu vergessen, dass er wieder andere Frauen datet, dass seine Scheidung nur noch eine Formalität ist… Wenn er ihr das jetzt so sagen würde, dann wär die bestimmt nicht zufrieden. Die Leute, wollen Blut sehen, Blut lecken, Brot und Spiele. Die Leute wollen dich am Boden sehen. Vorher sind sie nicht glücklich.

Davon abgesehen, dass das auch nicht wahr wär, wenn du ihr jetzt was Positives berichten würde…

„Was soll ich sagen?! Was willst du hören?! Donnerstag war wieder Post-Tag.“

Briefbomben-Tag. Warum ist das eigentlich immer Donnerstag. Arbeiten die auf dem Amtsgericht etwa nur bis Mittwoch? Oder sitzt da der neue Stecher seiner alten Ex-Frau und denkt sich immer neue Gemeinheiten aus, wie er ihm, dem alten Stecher seiner neuen Freundin, das Wochenende verderben kann?!

„…ich krieg die immer Donnerstag, die netten Briefe vom Amtsgericht. Komischerweise…“

Sie guckt mich erwartungsvoll an, kann es kaum erwarten, dass ich ihr mehr erzähle.

Was ich dann auch tue (ich kann sie ja kaum enttäuschen, jetzt, wo ich einmal angefangen hab mit der WAHRHEIT…)

„Die will wahrscheinlich, dass ich sterbe…“

Sie guckt mich ein bisschen erschrocken an. Das hätte sie jetzt auch nicht unbedingt erwartet. So viel WAHRHEIT…

Also lege ich direkt nach: „Wahrscheinlich werde ich demnächst an die Wand gestellt. Und standesrechtlich erschossen. Kannst du dem Chef schon sagen. Wenn ich nicht mehr komme. Dann bin ich erschossen worden…“

„Nein, das wollen wir aber nicht“, sagt sie pseudo-empört und schüttelt den Kopf.

Komm schon, denkt er. Wenn ich schon die WAHRHEIT sage…

…kannst du auch ehrlich sein, oder?!

„Aber ich will das mittlerweile auch. Ich will sie mittlerweile auch tot sehen. Sie an die Wand stellen…“

Und Bumm!

Sie guckt pseudo-schockiert, dabei ist das genau das, was sie hören will. Wenn sie ehrlich wäre…

„Aber echt, ey…“

Warum sollte er da besser sein als sie. Wir Deutschen sind ja eh keine Gutmenschen mehr. Tun nur noch so…und glauben tut uns das eh keiner mehr. Jetzt will er sie auch am Boden sehen. Am besten unter ihm…

…sechs Fuß unter ihm.

Jetzt läuft er heiß. Jetzt kann ihn nichts und niemand mehr bremsen. Mit einem fiesen Lächeln auf den Lippen sagt er: „Ja, echt…aber nicht bevor sie mir noch das letzte Hemd vom Leib geklagt hat. Vorher darf ich natürlich nicht ins Jenseits übersiedeln. Erst dann, wenn ich keinen Cent mehr habe…wenn sie mich komplett ausgesaugt hat…“

„Also keine Angst: Ich bin noch ein bisschen da…“

Allzu lange aber auch nicht mehr.

Sie aber auch nicht

Wir alle nicht





















Freitag, 9. September 2016

Liebe in Zeiten der Cholera







 



Er denkt: Wenn sie heute Abend zu ihm zurückkommen würde, er würde sie ohne Wenn und Aber zurücknehmen.


(und es würde wieder schiefgehen)


So dumm kann auch nur er sein. Oder so verzweifelt. 

Oder so romantisch? So hoffnunglos romantisch? So hoffnunglos männlich?


Gestern hat er zu seiner Tochter im Bus nach Hause gesagt: In diesem Buch, Liebe in Zeiten der Cholera, wartet dieser Typ, keine Ahnung wie der heißt, auf jeden Fall wartet der 51 Jahre, 9 Monate und 4 Tage auf diese Frau.

Dann hat er fast unter Tränen hinzugefügt: Die mittlerweile mit einem anderen verheiratet war und Kinder hatte und alles. Er kommt drei Tage nach der Beerdigung wieder und sie weist ihn wieder ab.

Aber dann kommen die echt wieder zusammen.

Aber das ist natürlich nur ein Buch. Nur Literatur. Nur Fiktion. Ich hab das auch nie zu Ende gelesen

Und dann hat er gesagt: Zuerst haut der ab…

…reist den Fluss runter…

…aber dann hält er es nicht mehr aus…

…und kommt zurück…

Und auf der Rückfahrt verführt er eine Frau nach der anderen…

…führt darüber peinlich genau Buch…

…bis er tausend Frauen hatte…

…und dann, als der Ehemann seiner Angebeteten, auf die er so lang gewartet hat, stirbt, kommt er wieder zurück…

…klopft an ihre Tür…



Am nächsten Tag, mittags, als seine Tochter von der Schule kommt, sagt er zu ihr: Der wartet 51 Jahre, 9 Monate und 4 Tage…

…und heißt Florentino Ariza…

…und ist Postbeamte…

…oder Telegraph…

„Ja?“

„Du weißt aber direkt wovon ich rede!“


„Was redest du da?“










Alte Wunden
















In Letzte Spur Berlin läuft das Lied Hurt. Von Johnny Cash. Und reißt alles wieder auf. Alles. Die Folge handelt von einem Ehepaar, das nie über den Verlust ihres Sohnes während eines Ägypten-Urlaubs hinweggekommen ist. Das Lied beginnt als beide in ihrem Auto sitzen und mit einem Plastikrohr im Auspuff, das mit der Fahrerkabine verbunden ist, Selbstmord begehen wollen.

Ja, Verlust ist immer schwierig. Und wenn jemand von heute auf morgen nie wieder ein Wort mit einem redet, dann ist das wie der Tod. So als wär man gestorben, obwohl man noch lebt, das Leben tagtäglich an seinem Leiden spürt...vielleicht so stark wie noch nie zuvor

obwohl der andere noch lebt, keine fünf Kilometer von hier und doch so weit weg


Das Lied reißt alles wieder auf. Das hast du damals gehört. Als sie gegangen ist. Das weißt du noch. An dem einen Tag. Dem Montag. Dem Dienstag, wo María gekommen ist. Und bei dir in der alten Wohnung geschlafen hat. Das war das Lied aus dem Film La Colombiana. Wie das wohl auf sie gewirkt haben muss. Ihr Vater jenseits des Flurs im Schlafzimmer ihrer Eltern. Ihres Vaters. Sie in ihrem Kinderzimmer. Ihrem alten Kinderzimmer. Obwohl sie kein richtiges Kind mehr war. Jetzt, nach der Trennung ihrer Eltern. Wie sie sich wohl gefühlt hat. Wie du hat sie an ihrer alten Wohnung festgehalten. Trotz dauerndem Ärger mit ihrem Vater. Dauerndem Streit. Sie hat immer zu ihm gehalten. Danke. Obwohl ich zu schwach bin, dir das zurückzugeben. Wie sie sich wohl gefühlt hat? Ob sie auch geheult hat, heimlich in ihrem Zimmer, das bald nie wieder ihr Zimmer sein würde, abends im Dunkeln, ihr Vater am Schluchzen wie ein Schlosshund. Hinter der Tür. Dazu die Musik von Johnny Cash. Die er am Ende von dem Film Colombiana gehört hatte, schon eine Woche bevor Nadine endgültig weg war. Sie hat immer zu ihm gehalten, war da, als Einzige; und keiner hat es ihr gedankt. Er nicht, ihre Mutter nicht. Niemand. Mit gerade mal 16 musste sie erwachsener sein als sie war.

Sie wusste ganz genau, dass ihre Mutter nicht zurückkommen würde, egal wie viel ihr Vater heulte oder schrie oder schwieg.

Alles hatte sich für sie geändert. Und dabei war sie selbst gerade erst 16 geworden.

…als sie ihren Vater jenseits des Flurs heulen hörte. Das war überhaupt nicht zu überhören. Und richtig trösten konnte sie ihn auch nicht

Das konnte niemand.

Das kann niemand

Oder doch: Es gibt jemand, der das kann, aber der will nicht. Will nicht mehr

Du warst es nicht Tochter, tut mir leid, aber dafür kannst du ja nichts, wie du da lagst, in deinem alten Zimmer und nicht einschlafen konntest, weil dein Vater jenseits des Flurs schluchzte wie ein Schlosshund. Dich traf keine Schuld. Eher das Gegenteil


du hast uns vielleicht sogar all die Jahre zusammengehalten. Danke











SMS-Daddy














Am Abend wird er plötzlich sentimental und schreibt seiner Tochter eine SMS:


Danke. Ich bin schwierig, aber ich hab dich immer lieb gehabt. Es wird auch wieder besser als jetzt.


Irgendwann

Doch dann überlegt er es sich anders und schickt die SMS doch nicht ab. Speichert sie lediglich in den Entwürfen. Hat fast Tränen in den Augen