Freitag, 20. November 2015

Ungereimtheiten und wirre, wilde Überlegungen



20.11.15



Was hat Nadine immer früher gesagt, als ich ihr vorgehalten hab, dass Conchita wenigstens ehrlich war, als sie mir unter Tränen beichtete, dass sie als 14-jähriges Mädchen vergewaltigt worden war.

„Schön blöd…dass sie dir das gesagt hat!“ In einem ganz abfälligen Ton.

„Ich hätte das nicht gemacht…“ Oder hat sie Letzteres gar nicht gesagt, sondern du hast es dazugedichtet?

Wie dem auch sei, eigentlich hätten da schon Alarmglocken läuten müssen.

Denn selbst nach 19 Jahren weißt du so gut wie nichts über ihre Vergangenheit in Ecuador oder in Deutschland, was bei dir zu den wildesten Theorien führt. So bist du eben. Und das weiß sie auch. Aber das war ihr schon immer egal.

Wer weiß, was für schlimme Sachen sie hier erlebt hat, als Illegale. Oder was passiert ist, als sie mit 15 von Zuhause abgehauen ist und alleine mit dem Bus nach Guayaquil gefahren ist.

Ihre Version klingt im Nachhinein ziemlich unglaubwürdig. Sie hat am Bahnhof – oder wo auch immer – eine Familie getroffen, bei der sie arbeiten konnte, bis ihr Vater sie ab- und wieder nach Hause geholt hat.

Wer weiß, was da wirklich passiert ist.

Also, „normale“ Ausreißergeschichten klingen da ganz anders – und das in Deutschland. Wie muss es erst in einem Drittweltland wie Ecuador sein.

Immer wieder – obwohl du das gar nicht willst, gar nicht richtig wahrhaben willst – geistert ein Wort, ein vager Verdacht durch deinen Kopf, der sich genau so wenig rational begründen lässt wie er sich abschütteln lässt.

Prostitution.

Sexueller Missbrauch.

Du kratzt dich nervös am Hals, während dir dieses Wort nicht über die Lippen geht. Es ist schon komisch, aber die Geschichte von ihr und ihrer Schwester in Deutschland klingt genauso unrealistisch. Die Kirche hat ihr geholfen, als sie ohne alles in Deutschland angekommen ist. Das glaube ich nicht. Zumindest nicht so richtig. Das ist das erste, was dir durch den Kopf geht, wenn du darüber nachdenkst. Das dir wie ein kalter Schauer den Rücken runterläuft. Was ist denn zum Beispiel mit all diesen komischen Typen, die damals da rumhingen, bei denen Zuhause, am Anfang eurer Beziehung. Und man hört das doch immer wieder von Südamerikanerinnen, die alleine nach Deutschland kamen. Das ist alles ein bisschen unglaubwürdig. Und ich glaube sie weiß, dass ich das weiß. Und schweigt genau deswegen. Um sich nicht noch tiefer reinzureiten. Weil sie genau weiß, dass ich nicht dumm. Zumindest nicht so dumm, dass ich ihr all diese aalglatten Geschichten glauben würde.

Eigentlich glaube ich ihr gar nichts mehr.

Irgendwas ist da faul. Tierisch faul. Irgendwas verschweigt sie mir.

Sie verschweigt dir alles, da sie ja gar nicht mehr mit dir zusammen ist. Also lass endlich die Toten ruhen. Aber sie ist ja noch nicht tot, denn sie wohnt – sehr lebendig - keine 5 Kilometer von dir entfernt in der Bonner Altstadt.

Prostitution.

Erpressung.

Keine Ahnung, was sonst noch alles für Dreck.

Pädophilie.             

So manche ihrer Reaktionen waren schon komisch. Zum Beispiel auf diesen Spieler, der immer zu dir kommt. Wie sie den im Bus gesehen hat. Da hat sie gesagt, dass sie den ekelhaft findet.

Aber warum ekelhaft?

Oder war es gar nicht ekelhaft und du bildest dir das alles einfach nur ein.

Ne, ich glaube nicht.

Leider nicht


Das hat alles auch irgendwas mit deiner Arbeit zu tun. Du bist quasi umzingelt von komischen Typen. Nicht nur die Spieler, auch der Sohn vom Chef und vielleicht sogar der Chef selbst. Komische Männer. Ich weiß, diese übermäßige Einbildungskraft („Einbildung ist auch eine Art der Bildung“) habe ich von meiner Mutter, die genauso paranoid war und in jedem meiner Freunde einen potentiellen Vergewaltiger gesehen hat, aber es gibt bei Nadine nun mal sehr viele Ungereimtheiten.

Und Leute, die so viel schweigen, haben auch meistens etwas zu verbergen.


Damals auf deiner Abschlussfeier hat das sogar irgendjemand gesagt. Und deine Schwester hat es dir postwendend auf die Nase gebunden.

Irgendwas wie: „Der Jens ist mit einer Prostituierten hier.“

Du hast das damals nicht verstanden. Und heute eigentlich immer noch nicht richtig. Nadine sah doch nicht aus wie eine Prostituierte. Wie sieht denn überhaupt eine Prostituierte aus? Keine Ahnung, du warst noch nie im Puff. Wie sollst du das auch wissen. Weil sie älter als du war? Weil sie ein lockeres Kleid trug? Wohl kaum. Oder sah wer auch immer das damals gesagt hat irgendetwas in Nadine, dass du nicht sahst? Verliebt wie du warst. Das dein Vater sah. Weil er auch nicht der Engel ist, für den du ihn damals immer gehalten hast.
Ich weiß es nicht und es wird sich bestimmt nie vollständig aufklären.
Wer kann die Wahrheit schon vertragen?

Und ich bin mir nicht sicher, ob du das kannst, trotz deiner Ehrlichkeit, deiner Direktheit in Bezug auf das Leben.

Wer weiß, was da vorgeht, in dieser WG, in der María jetzt lebt. Wer weiß, was da in Wahrheit vor sich geht.

Sie ist ja jetzt frei.

Ist sie das wirklich?

Wohl kaum.

Niemand ist wirklich frei im Leben.

Noch nicht mal Mistah Kurtz.

And he dead.

In was bist du da bloß hineingeraten?!

Der Horror, der Horror.

Das Grauen, das Grauen.

The horror, the horror.

Fuck

Aber so einfach kommst du da auch nicht mehr raus.

Und vielleicht, nur vielleicht, gehst du vorher bis zum Grund.

Wer kann die Wahrheit schon vertragen.

Vielleicht haben ja Conchita und Nadine mehr miteinander zu tun, als sie bereit sind, sich einzugestehen…

…und haben sich deshalb damals so innig die Hand gegeben…

Du wirst es nie erfahren.

Oder doch?

Bist du bereit

Aber was hast du zu verlieren?

Du musst sie irgendwie beobachten, in ihrer neuen Wohnung. In ihrer „WG“. So, dass sie dich nicht sieht. Oder du schnappst dir ihre Schwester. Was willst du aus der schon rauskriegen. Die ist ja noch härter als Nadine.

Aber heutzutage ist das gar nicht so einfach, bei all den Handys, die so einfach ein Foto von dir schießen können. Und dann bist du ein Stalker. Ein liebeskranker Stalker. Ein Verrückter.  
Loco.

Du musst endlich handeln. In welcher Form auch immer. Hauptsache, du handelst. Du machst was.

Du scheißt jemand bei der Polizei an, bei den Bullen.

Und während dir diese Gedanken durch den Kopf gehen, und du die dunkle Treppe in den Keller runtergehst, um auf Klo zu gehen, fühlst du dich hier – in der „Halle“ – überhaupt nicht mehr sicher.

Irgendwas stimmt da nicht…

Ich weiß…aber es stimmt.

Irgendwas.

Stinkt. Something is fishy. Funny. Und überhaupt nicht „lustig“, obwohl Lust bestimmt eine Rolle spielt.

Tut sie ja immer.

Du musst Druck ausüben, denkst du, während du auf dem Klo endlich dem Druck deines Darms nachgibst. Vielleicht kippen sie ja dann um. Eine nach der anderen. Die andere nach der einen.

Plötzlich denkst du: wenn jetzt hier jemand die Treppe runterkommt…

…runterkommen würde…

…ohne dass du ihn hörst…

…oder gerade so, dass du ihn schon von weitem hörst…

…auf dem Klo sitzend…drückend.

Wenn jetzt hier einer runterkommt…

…dann bist du auf dem Klo gefangen…

…in der Kabine…

Du guckst auf das Schloss der Klotür, das abgeschlossen ist.aber wenn jetzt jemand käme, dann wäre das egal, weil du hier nicht rauskommst…

…jemand…

Die Glühbirne in der Kabine ist kaputt. Schon lange.

Wenn ein Kunde…

…oder noch schlimmer…

…kein Kunde…

Du hast Angst, starrst auf den schmalen Spalt unter der Tür.

Als ob schon jemand da wäre.

Kann ja nicht, den hättest du ja gehört.

Wenn jemand unter der Tür durch greift. Nach dir greift. Nach deinem Block. Weil er deine Gedanken gelesen hat.

Du horchst in das Halbdunkel der Kellertreppe und der Herrentoilette hinein. Es ist nichts zu hören.

Ruft da nicht jemand

von oben

Irgendeiner von diesen komischen Typen…

…mit denen du dich hier umgibst…

…und denkst, das hat keine Konsequenzen…

…während du vor deiner Tochter von den Konsequenzen ihres Handelns faselst.

…die Tür aufgeht…

…könntest du dich verteidigen

Schnell wischst du dir den Arsch ab. Gründlich wie immer, aber schnell. Heute hat das lang gedauert. Ewig. Du warst lange nicht mehr auf Klo. Groß. Du packst dein Gemächt und deinen Arsch wieder in die Hose. Du öffnest ein bisschen zögerlich die Kabinentür, wäschst dir die Hände. Schnell…

…bevor noch jemand kommt…

Ist das jetzt Ironie oder Galgenhumor. Schon Galgenhumor…

Endlich bist du wieder oben.

Aber oben ist es auch nicht besser.

Die „Halle“ ist immer noch menschenleer. Keine Menschenseele weit und breit. So hat sie etwas Unheimliches. Du fühlst dich wie auf dem Präsentierteller, wie ein Fisch im Aquarium, in diesen hell erleuchteten Räumen voller Weihnachtsdeko.

Wenn jetzt jemand von draußen reinguckt.

Du denkst wieder an Nadine, an die „Situation“, denkst: Sollte ich jemals alles herausfinden, dann gnade dir Gott, Nadine.

Oder mir?

***

Auf der Arbeit knallst du dich voll mit spanischem Fernsehen, so als wäre es eine Droge. Dabei ist dein Spanisch schon lange langsamer geworden, jetzt wo du es nicht mehr jeden Tag sprichst.

Und deinen ecuadorianischen Akzent verlierst du auch nicht, denn er ist wie eingebrannt in dein Gehirn.

Aber eine Nachricht lässt dich aufhorchen. Der Tungurahua, der größte Vulkan Ecuadors spuckt wieder Asche. Die Bauern sind verzweifelt, weil ihre Ernte zerstört ist. Geil!
Du hoffst auf ein Erdbeben, das ganz Ambato dem Erdboden gleichmacht. Das die ganzen Häuser, die ihre Schwester sich im Laufe der Jahre mühsam erbaut haben, eistürzen lässt. Das Ambato und besonders Santa Rosa, das Dorf aus dem sie kommt, für immer in einer dunklen Erdspalte verschwinden lässt. Und sie war‘n nie mehr gesehen.

Alles, was die bleibt ist die Hoffnung. Die Hoffnung auf Gerechtigkeit. Denn der Glaube und die Liebe sind verschwunden.

***

Telefongespräch zwischen mir und meiner Tochter.

„Und sonst? Alles klar. Schön in der WG?“

„Ja, alles klar. Scheiße, ne?!“

Leck mich am Arsch. Das ist echt Scheiße und das weißt du ganz genau. Du weißt ganz genau, wie du mich kriegen kannst. Ich aber auch…

„Du weißt ja, Heiligabend ist dieses Jahr an einem Donnerstag!“

„Ach, nerv mich jetzt nicht.“


Das kriegt sie zurück. 

Morgen.

Donnerstag, 19. November 2015

Meine Tochter


19.11.15





Sie ist so schön, meine Tochter. Wie sie auf meinem Bein liegt und friedlich schläft. Mit ihren Zöpfen, die sie wollte, dass ich sie ihr flechte.

„Kannst du mir Zöpfe flechten?“

„Das kann ich nicht, das hab ich noch nie gemacht.“

Vielleicht hätte ich es ja doch probieren sollen.

„Ich hab dir schon was gekauft. Ich kauf das jetzt, da ist es billiger.“

Ich liebe sie und genau deswegen ist es so schwer, die Trennung von meiner Frau zu akzeptieren. Denn María ist so ein tolles Kind, dass sie beide Eltern verdient hat. Nicht nur 3 ½ Tage der Woche ihren Vater und 3 1/2 Tage die Woche ihre Mutter. Das ist so Scheiße, aber was soll ich denn dagegen machen. Ich habe es weiß Gott oft genug versucht. Jetzt ist die Anwältin dran. Sie ist so süß meine Tochter und ich bin so stolz auf sie. Wie sie auf meinem Bein liegt und schläft. Wie sie kocht. Das macht sie zwar mehr für sich, als für mich, wie sie immer sagt, aber trotzdem. Sie ist ein tolles Kind und ich bin wahnsinnig stolz auf sie. Ich habe als Kind nie Liebe bekommen und glaube, dass es mir deswegen so große Schwierigkeiten bereitet, Liebe zu geben, aber ich glaube, ich kriege das hin. Bei ihr. Die paar Jahre, die sie eh nur noch Zuhause ist. Bevor sie in die Uni geht.

Und ich nach Spanien…

Sie kann mich ja immer besuchen…

Sie hat das nicht verdient. Sie hat zwei Eltern verdient. Wir würden das wieder auf die Reihe kriegen, das weiß ich…aber was soll ich denn tun??





15.11.15

Immer noch denke ich an sie. In jeder freien Minute. Ich liebe sie immer noch, da gibt es nicht viel mehr zu zu sagen. Ich habe das Wertvollste, was ich hatte verloren. Einfach so. Eigene Dummheit. Aber was soll ich dazu sagen. Selber schuld. Mund abwischen und weiter. Das Leben wird auch ohne sie irgendwie weitergehen. Nicht so gut wie vorher, aber irgendwie muss es ja weitergehen. Ich liebe sie, aber wenn ich ihr das jetzt zeige oder sage, habe ich auch nichts davon. Diese Chance ist vorbei. Endgültig.

Oder nicht?

Fast bin ich schon wieder versucht, ihr schon wieder eine SMS zu schicken, auf die ich wie immer keine Antwort bekommen werde. Ich muss stark sein und es mir verkneifen. Obwohl ich sie liebe. Und es für María das Beste wär. Aber ich habe so oft gegen eine Wand angeredet, dass es auf keine Kuhhaut mehr draufgeht. Sie will nichts mehr von mir. Ich habe die Frau meines Lebens, die Mutter meiner Tochter verloren. Für immer. Wenn sie jetzt durch die Tür käme, ich wäre wieder glücklich. Aber sie wird nicht durch die Tür kommen, also schmink es dir ab. Ich muss jetzt hart sein und mich auf den bevor stehenden Kampf so gut es geht vorbereiten. Obwohl ich eigentlich schon seit Wochen bereit bin.

***

Vor der Tür der „Halle“ ruft ein Kind: „Achtung, Papa!“ Das berührt dich. Deine Tochter war auch mal so klein. Achtung, Papa: Vorsicht, da kommt eine Trennung. Achtung! Da kommt der Neue deiner Exe, Achtung! Pass auf, Papa! Da kommt die Einsamkeit. Und da, Papa, noch schlimmer: Das Alter! Papaaa! Und am Ende, Scheiße, noch schlimmer, Papa, pass auf, da kommt der Tod!

Das  war knapp, dem bist du gerade so noch mal von der Schippe gesprungen. Achtung! Achtung, Papa!

***

Ich kann nicht mehr richtig schlafen, kann mir keinen mehr runterholen, nichts. Aber das ist egal heute, denn ich fühle trotzdem nicht ganz so schlecht, hier draußen, auf dem Weg in den Wald. Das ist wichtig, dass du dich jetzt um dich kümmerst. Um deinen Körper, deine Fitness.

Das ist ein richtiger Herbststurm heute, denke ich auf dem Weg durch Ippendorf. Die Welt ist in Aufruhr. Die Attentate von Paris gestern. Die Flüchtlingskrise. Die Eurokrise. Yeats hatte Recht. Der Anruf deines Vaters gestern. Auf niemanden kannst du zählen. Er lässt einmal klingeln, dann legt er auf. Sagt, das war ein Versehen. Ist jeder Anruf beim Sohn ein Versehen. Er sei da drangekommen. Ich komme nie an irgendeine Nummer. Seit Nadine weg ist, haha, keine Nummern mehr. Keine schellen Nummern mehr am Morgen. Am Abend. Am Mittag. Irgendwas hindert mich daran, meinem Vater zu vertrauen. Er hat mich zu oft enttäuscht. Und ich habe nicht daraus gelernt, renne ihm immer noch hinterher wie einem Hündchen. Ich vertraue im Moment nur mir selbst. Und meiner Tochter. Obwohl auch sie mein Vertrauen oft genug enttäuscht hat. Aber sie ist meine Tochter. Und wenn mein Vater sie einfach so nicht mehr sehen will, dann kann ich ihm auch nicht vertrauen. Meine Tochter ist mein Fleisch und Blut. Das ist etwas anderes. Mein Vater interessiert sich ja gar nicht für mich. Ruft mich kaum noch an. Vielleicht wird das anders, wenn er in Rente geht. Wie in diesem Buch dieses italienischen Schriftstellers. Wo der Vater, als er in Rente geht, zu seinem Sohn zurückfindet. Und umgekehrt. Aber ich weiß nicht, ob das bei mir auch der Fall sein wird. Er weiß doch, dass es mir schlecht geht. Dann könnte er sich doch wenigstens mal melden. Das ist doch die Aufgabe eines Vaters. Ich werde das alles anders machen.

Das sehe ich ja, was dabei rauskommt, wenn ich alles anders, alles besser mache: Eine Trennung, Streit, Tränen, Mari ist hin und hergerissen zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter.

Das ist nicht so einfach, alles anders zu machen.

Ich jogge. Nur so weit ich eben komme, bis entweder die Beine anfangen zu brennen oder die Luft wegbleibt. Meistens sind es in letzter Zeit (wieder) die Beine. Das ist ein gutes Zeichen. Immerhin. Ich komme nicht so weit, aber immerhin. Die „immerhins“ nehmen in letzter Zeit aber auch exponentiell zu.

Immerhin.

Ich wünschte, ich wär so jung wie du, hat der alte Mann bei dir auf der Arbeit gestern gesagt. Irgendwie hat er Recht. Ich will auch wieder jung sein. Mich jung fühlen. Ich will meinen Körper wieder. Ich will meine Seele wieder. (Hörst du, Nadine!) Ich will meinen Körper wieder spüren. Mit deinem Körper musst du anfangen, das ist nach der Trennung das Wichtigste. Dass du wieder fit wirst. Dich wieder spürst.

Du gehst heute bis zu den Tannen, obwohl du heute nicht so viel Zeit hast. Noch arbeiten musst. Ich liebe die Tannen, die sind so düster. Dunkel schön. Der milde Winter ist ein Geschenk, nimm es an. Obwohl, eigentlich ist das ja gefährlich im Wald, bei Sturm. Umherfliegende Äste könnten dich treffen und umhauen. Es könnte sogar ein ganzer Baum umstürzen. Wie hoch ist das Risiko von einem Baum getroffen zu werden? Aber das interessiert dich heute nicht. Der Sturm ist da, in ganz Europa. Und irgendjemand muss ihn ja begrüßen. Du kommst dir vor wie eine der Hexen in Macbeth. Der Sturm ist da und die Lügenpresse liegt in den letzten Zügen.

Links von dir schwanken die Kronen der Tannen bedrohlich. Etwas fliegt dir ins Gesicht dich, du duckst dich, aber es ist nur einer dieser Propeller. Der Himmel ist grau, der Wind fegt durch den dunklen Tannenwald und du denkst: Genau hier will ich sein. Im Auge des Sturms. Im Wald. Die Deutschen haben eine besondere Beziehung zum Wald. Keine Ahnung, worin diese genau besteht, aber das stimmt schon. Wenn du den ganzen Tag draußen verbringen müsstest, wo würdest du hingehen? In den Wald! Da wirst du aber nie jemand kennenlernen.

Ach, scheiß doch drauf.

Du biegst um die Ecke in das Tannenwäldchen hinein. Nach ein paar hundert Metern hörst du auf zu laufen und guckst dich um. Du bist hier ganz allein. Unter den Tannen, die selbst am Tag immer ein wenig düster, ein wenig mysteriös sind. Wie Soldaten stehen sie in Reih und Glied da. Wie ein Heer, das dir folgt. Deine Frau begraben. Weg. Ausgelöscht.
haha

Du siehst das rote Kreuz vor dir im Wald auftauchen. Wie aus dem Nichts. Auf einmal ist es da. Zwischen den Tannen. Keine Ahnung, aber so wie heute hast du es noch nie gesehen. Heute hat es irgendetwas Besonderes. Obwohl du schon so oft an ihm vorbeigekommen bist. Das rote Kreuz, mitten im Wald. Rot wie die Liebe. Und das Blut. Ihr Blut. Das Blut, was vergossen wird, zur Vergebung der Sünden. Ihr Blut. Dunkelrot

„Wir werden alle sterben“, hattest du zu ihr gesagt, deiner eigenen Tochter. Da hast du dich mal wieder nicht gerade mit Ruhm bekleckert, du hast immer noch ein schlechtes Gewissen und wirst es auch solange du lebst haben. Aber was nützt das schon. Du kannst nichts rückgängig machen, selbst, wenn du wolltest.

Und wer wird sich schon in 40/50 oder 60 Jahren daran erinnern? Sie vielleicht! Du aber nicht mehr. Und in 100 Jahren auch sie nicht mehr

Trotzdem bleibt das schlechte Gewissen. Dein überlebensgroßes Über-Ich. Das dir immer nurnichts als Ärger eingebracht hat.

Vielleicht um diese düsteren Gedanken zu vertrieben, beginnst du wieder zu joggen. Und sogleich fühlst du dich besser. Du kannst es noch, alter Junge. Klopf dir nur weiter selbst auf die Schulter. Morgen wirst du wieder von den Schülern gefickt (schön wär’s). Aber heute läufst du um dein Leben. Und das Heute zählt. Nur das Hier und Jetzt zählt. Und heute joggst du. Zwar nur 200 Meter, aber immerhin…

Die Luft ist aber auch so rein hier, da kannst du richtig durchatmen. Nicht, wie der Mief bei dir Zuhause. Das ist fast schon wie eine Droge. Wie eine kalte Cola light an einem warmen Sommertag…an dem Nadine mit den Negern und anderen Großschwänzigen Fußball spielt.

Ja, ja, ist ja gut.

Ich halt ja schon die Klappe.

Das hast du in letzter Zeit voll oft, dass du mit dir selbst redest. Ist ja auch sonst keiner da 
mit dem ich reden könnte.

Stimmt auch wieder.

Du kommst an diesem kleinen lauschigen Plätzchen mit den zwei Bänken vorbei. Dort, wo letztens das Efeu, das den Boden bedeckt, einen lila Schimmer annahm, bevor es wieder zu seinem üblichen Grün zurückkehrte. Wenn ich noch mit Nadine zusammen wär…

…würd ich nachts hierhin kommen, um sie auf der Bank zu bumsen.

Würde ihr Höschen fallen sehen…

Würde sie in mir spüren… (Hey, war das nicht andersrum? Nicht unbedingt.)

Aber sie ist nicht hier und es ist nass und kalt, ich bin allein an einem Sonntagmorgen und der Baum zwischen den Bänken und dem Weg, auf dem ich mich bewege, hat bedenklich Schlagseite. Das wär es jetzt: Bei meinem Glück werd ich bestimmt jetzt noch von einem umkippenden Baum erschlagen. Ja, was meinst du denn auch, warum außer dir hier keiner unterwegs ist?!

Aber ich werde (leider) nicht erschlagen und schaffe es nach Hause, wo jede Menge Spül und 2 Eier und eine dicke Möhre zum Frühstück auf mich warten. So kann der Tag beginnen.

***

Kann man sich mit Latte-Macchiato-Bonbons von Aldi selbst vergiften? Ich meine, wenn man eine ganze Packung auf einmal ist?

Sie fanden ihn mit einer leeren Packung  Café-Bonbons von Aldi neben sich. Tod. War es Selbstmord? Oder gar Mord…?

Auf jeden Fall kriegt man davon eins: mächtig die Scheißerei. Ab einer bestimmten Menge. Das steht sogar  auf der Packung. Als Warnhinweis: „Kann bei übermäßigem Verzehr abführend wirken. Ohne Ausrufezeichen. Das ist einfach so. Das wirst du dann schon merken. Dafür braucht es kein Ausrufezeichen. Sobald du auf Klo rennst.

Du hast eine Doppelschicht übernommen. Robert hat dir dafür 50 Euro gegeben. Sogar einen Euro weniger, als du eigentlich nach Mindestlohn bekommen hättest. Scheiße! Robert lässt dich unter Mindestlohn arbeiten und verdient sogar noch einen Euro daran. Was für ein Wichser!

Aber du hast eh nichts Besseres zu tun. Und in letzter Zeit kommst du eh nie vor eins oder halb zwei Uhr ins Bett. Nicht, weil du so einen aufregenden Lebenswandel mit wechselnden SexualpartnerInnen hättest, sondern weil du nicht schlafen kannst. Du hattest das für einen Witz gehalten, wie der Typ in Fight Club nicht schlafen kann, aber jetzt weißt du: Das ist bitterer Ernst. Außerdem kannst du ja tun und lassen, was du willst, jetzt, wo Nadine weg ist und María heute nicht kommt. Du bist frei.

Juhheeeee!!

Du bist frei und brauchst das Geld. Für die Scheidungsanwältin, die „scharf“ sein kann, wenn sie nicht gerade gesalzene Rechnungen ausstellt. Finde sie eigentlich eher weniger scharf, aber vielleicht ist sie eine gute Anwältin. Das weiß man ja nie. Nur eine tote Anwältin ist eine gute Anwältin. Aber dann müsste auch Herr Nix (so heißt der wirklich!), der Anwalt von Nadine, vorzeitig ableben und den Gefallen tut er dir, glaub ich, (zumindest noch)nicht. Denn er will dich bluten sehen.

Aber das ist auch Geld, dass ich für Marías Weihnachtsgeschenke ausgeben kann. Sie will neue Schuhe. Sneakers. Die in damals, als du noch jung warst und die Saurier noch die Erde bevölkerten, 240 gekostet hätten. Du hattest nie Air Jordans für 300 Mark. Du nicht. Aber sie Huaraches! Hoffentlich verbringt sie dann auch Heiligabend bei dir. Du hast schon sowas angedeutet: HEILIGABEND IST DIESES JAHR EIN DONNERSTAG, HÖRST DU MARÍA, EIN DONNERSTAG…UND DAS IST MEIN TAG!!!!!! Aber genau hat sie sich noch nicht dazu geäußert. Ist ja auch eine Scheiß-Situation für sie. Sie kann sich ja auch nicht zerreißen. Was soll sie denn machen? Einen wird sie immer  enttäuschen. Allen kann sie es nicht recht machen. Nie wieder. Das ist vielleicht auch gar nicht so schlecht. Und außerdem…

…wenn sie schon jemanden enttäuschen muss, dann…

…sollte das doch wenigstens ihre Mutter sein!

Das ist nur ausgleichende Gerechtigkeit für alle Väter dieser Welt. Außerdem ist ihre Mutter ja gegangen. Nicht ich! Hörst du?! Nicht ich?!


Also bin ich hier, in der „Halle“, wie Gisela unseren Arbeitsort lakonisch nennt. Mit all den anderen Verlierern. Mit all den anderen einsamen und überwiegend männlichen Spielgästen. An Tagen wie heute könnte ich mich fast dazu durchringen, dass zu glauben, was der Syrer letztens zu mir gesagt hat: „Ich komme nicht hier hin, um zu spielen. Ich komme hierhin, weil ich nicht weiß, wo ich sonst hin sollte. Weil ich sonst niemanden hab.“
Vielleicht ist da ja was dran. Vielleicht wollen die – genau wie du – auch alle nur ihre Ruhe haben, ein bisschen entspannen und ganz nebenbei 500 Euro verlieren oder gewinnen.
Moment mal: Das ist mittlerweile dein gefühlter zehnter Latte-Macchiato-Drops und du hast noch immer nicht die Scheißerei.

Noch nicht mal dein Körper gehorcht dir. Also: Noch einen nachwerfen und warten. 
Vielleicht kommt er ja doch noch, der große Durchfall.

Ich hab ja noch 8 ½ Stunden Schicht. Aber auch nur noch 5 Bonbons. Das stellt mich vor sie Entscheidung: Teile ich mir die jetzt gut ein und sorge so für die langsame, aber sichere Scheißerei oder schmeiße ich mir die alle auf einmal ein und hoffe, dass sie endlich ihre Wirkung tun? Das Leben ist voller Entscheidungen. Treffen wir sie nicht. Feigling! Du willst nur nicht alles auf eine Karte setzen!

Aber neben dem Wunsch auf die große Kacke ist das ja schließlich auch noch Genuss. Morgen komme ich wieder zu Aldi! Morgen ist María wieder da. Morgen macht mein Leben wieder Sinn. Heute ist es noch sinnbefreit, aber Morgen…

Morgen ist ein neuer Tag…

Neuer Tag, neues Glück. Oder Unglück, ganz wie man’s nimmt. Das Glas ist entweder halb voll oder halb leer. Oder ganz leer. Oder liegt in Scherben am Boden. Wie die Weihnachtsdeko, die du im Keller genüsslich auf dem harten Boden der Realität zerschmettert hast. Siehst du: Hättest du doch wenigstens ein bisschen Geduld bewiesen, könntest du jetzt mit María euer nicht zusammenhängendes 2-Zimmer-Küche-Bad-Appartment dekorieren. Mit Kugeln, Eiern (ach ne, das ist Ostern) und Schlitten. Wär das nicht schön?!

Boah, gut, dass die Scheiße weg ist.

Aber so ganz allein, nur mit Mari das Fest der Familie begehen, das ist irgendwie voll Scheiße. Obwohl du sie auch nicht kampflos deiner Exe überlassen willst, nicht an Heiligabend. Das hat sie gar nicht verdient, denn...denn…sie ist gegangen!
Schnell einen weiteren Drops nachwerfen. Ein bisschen Schwung in deinen Verdauungstrakt bringen. Das wird bestimmt schön. Ihr sitzt beide allein an Heiligabend vor dem Fernseher, sie gebannt auf ihr Handy starrend und du auf den Bildschirm deines 
Laptops.

Und schon ist der Drops gelutscht.

Der Drops ist gelutscht!

Aber immerhin besser als ganz alleine vor dem Fernseher zu sitzen und an Selbstmord zu denken. An Heiligabend ist das Selbstmordrisiko für einsame Männer mindestens 100mal so hoch wie sonst. Also bei dir 500mal!

Du musst dir halt was einfallen lassen.

Für Vorschläge melden Sie sich bitte unter: lebenundschreiben@gmail.com

Du musst das positiv sehen.

Das ist schließlich auch eine Chance…