Sonntag, 17. Mai 2015

Life is not so bad










17. Mai 2015 (Fortsetzung)

Ich komme von meinen Eltern, mache extra einen Umweg um den Fußballplatz, wo sonntags immer die ganzen Ecuadorianer spielen. Darauf, die zu sehen, hab ich jetzt echt keinen Bock. Also umlaufe ich den Platz weitläufig, laufe extra oben entlang, fast schon am Waldrand, nur um nicht an diesem roten Ascheplatz am "Haus der Jugend" vorbeizukommen.

Trotz alledem ertappe ich mich in letzter Zeit immer öfter dabei, dass ich denke, dass es mir scheißegal ist, was sie gerade macht. Ich bin zwar noch nicht so weit, eine Wichsfantasie von ihr und einem anderen Mann zu schreiben, aber ich bin auch nicht mehr am Anfang meines langen Leidensweges. Ein Hoch auf die Kontaktsperre. Das ist wirklich so: Entweder sie nimmt Kontakt auf und es kommt zu einem Treffen und vielleicht zur Versöhnung oder man lernt langsam und jeden Tag aufs Neue, ohne den Partner klarzukommen. wie ich so in der Sonne die Straße entlang laufe, weiß ich weiß noch nicht mal mehr, ob ich sie jetzt noch so einfach zurücknehmen würde. Die Zeiten sind vorbei. Es ist vorbei. Irgendwann ist auch mal Schluss mit Jammern. Auch nach 19 Jahren. Vielleicht hat meine Schwester ja Recht und das, was ich im Moment durchlebe sind die letzten Wehen meines Liebeskummers, das letzte Aufbäumen, bevor ich bereit bin, sie zu vergessen. Ihr zu vergeben ist da immer noch eine ganz andere Sache. Auch mein Glück im Spiel geht langsam zu Ende. Nächste Woche ist Salsa-Party und ich werde voll sein wie ein Fass. Garantiert. Vielleicht finde ich ja einen Ersatz für sie oder gar eine bessere, jüngere Version von ihr. Bock hätte ich. Worauf ich keinen Bock mehr habe, ist, den ganzen Rest meines Lebens depressiv zu sein, den ganzen Rest meines Lebens einer Frau hinterherzutrauern, die mich – wie mein Vater das immer nennt – "mutwillig" verlassen hat und die mich nicht mehr zurück will. Das Leben ist zu kurz und ich fühl mich eigentlich ganz gut. Ich gehe jetzt nach Hause und mache mir das Käsebrot, das mir meine Mutter mitgegeben hat, schreibe und hole mir vielleicht sogar einen runter.
Raten Sie mal, an wen ich dabei denken werde. Life is not so bad, if you give it half a ******* chance.

Im Bus sitze ich schräg hinter einer Schwarzen mit Dreadlocks. Das ist interessant, das Haar von denen. Wie das sich kräuselt. Ich denke darüber nach, wie ich ihr Haar aus Spaß berühren würde, um zu sehen, wie es sich anfühlt, wie ich sie berühren würde. Ihren Körper. Das wär schön. Unter ihren Oberteil kann man ein Stück ihrer Schulter und ihres Rückens sehen. Ihre Haut ist so schön, so glatt, so braun, dass ich immer wieder hingucken muss, ob ich will oder nicht. Auch ihre kecke schwarze Stupsnase, die ich im Profil sehe, finde ich schön. Ich stelle mir vor, wie es wäre mit ihr auf der Abschlussfeier meiner Tochter aufzutauchen. Da würde meine EX ganz schön gucken! Das wär schon geil. Wenn ich sie mitnehmen würde...aber ich weiß nicht, ob ich das tun würde, selbst wenn ich mit ihr zusammen wäre. Ich glaube nicht. Das wär einfach noch nicht richtig, das wär eine klare Missachtung meiner Tochter.

Ich hab noch nie eine Schwarze gehabt. Auch keine Chinesin. Ich hab so viele verschiedene Frauen noch nie gehabt. Was hab ich eigentlich in all den Jahren gemacht. Frauen sind dafür da, Spaß zu haben, sagt John Alexander.

Ich werde jede Minute lockerer, entspannter, sehe die Trennung nicht mehr so verbissen. Es geht aufwärts!





Sonntag, 1. März 2015

Stunde Null



1. März 2015






Stunde Null (Tag 0/D-Day/Groundhog Day/Ground Zero)


Die Tür geht zu und sie ist schon auf dem Weg zum Auto. Mit deiner Tochter. Du könntest noch hinterherlaufen - selbst in deinem hochprozentigen, hochexplosiven Zustand. Aber du tust es nicht. Diesmal nicht. Irgendwas hält dich davon ab. Du liegst mit verheulten Augen auf dem Bett, der Laptop vor dir. Du hast es getan. Du hast die Email verschickt. Du willst hinterherlaufen, kannst es aber immer noch nicht. Du hast keine Kraft. Du hast keine Kraft mehr. Du hörst, wie sie das Auto anlässt, dieses typische Geräusch ihres alten Polos. Den du so liebst.

Ich weiß nicht mehr, ob ich noch sehe, wie das Auto aus der Einfahrt fährt, aber ich weiß, als es weg ist. Als sie weg ist. Und du alleine zurück bleibst in eurer Wohnung. Du torkelst zum Fenster. Aber es ist zu spät. Viel zu spät. Es ist vorbei. Diesmal hast du es richtig versaut. Diesmal hast du sie - einmal - nicht aufgehalten. Hast dich nicht - wie sonst, als sie gehen wollte - im Flur vor die Tür gestellt. Hast sie nicht aufgehalten. Nadine, mit der du seit ewigen Zeiten zusammen bist. Seit du 18 Jahre alt bist, um genau zu sein. So lang. Und jetzt ist sie weg. Endgültig weg (zuerst willst du endlich weg schreiben!). Die Frau, mit der du seit 1996 zusammen bist, mit der du so viel erlebt hast, mit der du eine 16-jährige Tochter hast. Die sich nicht in der Mitte teilen lässt, so dass ein Teil bei dir bleibt und ein Teil bei ihr. Und selbst wenn: Im Moment ist der ganze Teil bei ihr. Ist mit ihr gegangen. Warum? Weil sie keinen Bock mehr auf die dauernden Streitigkeiten hat. Auf rationaler Ebene kannst du deine Tochter sogar verstehen. Aber emotional. Emotional is a totally different ballgame wie die Amerikaner sagen würde.

Und dann, irgendwo zwischen Bett, Küche und Fenster, kommt dir dieser Gedanke mit der Kraft eines Vorschlaghammers, einer in deinem Gesicht exploierenden Atombombe, einem Flugzeugabsturz, einem Sprung aus Hundert Metern, ohne Fallschirm auf Betonboden.

Du bist so dumm!

Du bist so dumm!

Du bist so dumm!

So unglaublich dumm!

Du heulst, schlägst die Hände über dem Kopf zusammen, raufst dir die Haare, ziehst dich an.

Du bist so dumm!

So dumm!

Du hast gerade deine Ehefrau verloren!

Und deine Tochter ist auch weg!

Du bist so dumm!

Wie kann man nur...

...so dumm sein.


Du weißt es instinktiv in diesem Moment.

Du hast heute alles verloren. Dein Leben wie es bisher war, ist vorbei.

Mannomann


***


Du gehst zu deinen Eltern. Und in diesem Fall ist „gehen“ wortwörtlich zu nehmen. Du läufst nämlich wortwörtlich die 7 Kilometer zu Fuß - wie magisch angezogen von Bonn-Kessenich. Eigentlich hast du hier nichts zu suchen. Du hast ja schließlich runde sechs Jahre keinen Kontakt mehr zu ihnen gehabt, hast ihn einfach so abgebrochen – fast genau wie Nadine dich jetzt einfach so hat sitzen gelassen. Später wirst du wissen, warum dich Kessenich vielleicht noch unbewusst so angezogen hat. 

Wo sollst du auch sonst hin?! Du hast keine Freund, keine Bekannten, keine Geliebte (Gott bewahre) und auch sonst niemanden. Also müssen die Eltern herhalten. Aber das stellst du erst auf dem Weg fest. Der Weg ist das Ziel! 

Jahrelang hast du alles (Freunde, Bekannte, Haustiere, Geliebte) deiner Ehe untergeordnet. Und auf perverse Weise warst du glücklich. Jetzt rächt sich das. Du läufst wie auf Autopilot. Und das liegt nicht am Alkohol, den du intus hast. Okay, wenig ist das auch nicht, aber du kannst das ab. Was du nicht abkannst ist eine Frau, die dich soeben mitsamt Tochter verlassen hat. Vielleicht für immer. Vielleicht auf Nimmerwiedersehen. Gedanken schießen dir durch deinen ohnehin schon benebelten Schädel. Und obwohl es kühl ist, kriegst du von deinem Marsch quer durch die Stadt keinen kühleren Kopf. Du hast sie verloren. Du hast alles versaut. Das war’s. 

Sie hat das arrangiert. Sie wollte schon am Freitag gehen. Sie wollte schon lange gehen. Du wolltest es nicht sehen. Wolltest es nicht wahrhaben. Nicht jetzt, wo deine Tochter kurz vor ihrer Abschlussprüfung steht. Selbst als ihre Papiere am Freitag verschwunden waren, wolltest du die Wahrheit einfach nicht sehen. Wolltest dir nicht eingestehen, dass das kein schlechter Scherz war, als sie dir vor ungefähr zwei Wochen gesagt hat, dass sie auszieht, dass du dir eine Wohnung suchen sollst, denn sie wolle nicht mehr, sie könne nicht mehr. Du wolltest selbst die Tatsache nicht wahrhaben, dass sie dir am Freitag gesagt hatte, sie ginge zu ihren Schwestern – nachdem du ihre Lüge entlarvt hattest, dass sie zu einer Frau wo sie Arbeit geht. 

Du hast deine Beziehung als selbstverständlich angesehen. Du hast sie – und deine Tochter – als selbstverständlich angesehen. Selbst als sie dir das mitten ins Gesicht gesagt hat.
Doch als sie dir dann heute sagte, dass sie nicht mehr neben dir schlafen könne, da ging es nicht mehr. 

Und noch ein anderer Gedanke kreist dir durch den Kopf. Der Streit war geplant. Siewollte, dass du ausflippst. Sie wollte dich provozieren, um einen Vorwand zu haben, um gehen zu können. Du spürst instinktiv, dass das die Wahrheit ist. Die bittere Wahrheit. Die Wahrheit ist immer bitter. Du bist doch jahrelang derjenige gewesen, der die Wahrheit gepredigt hat. Und jetzt verträgst du sie nicht?!  Sie ist weg und hat den Streit so hingebogen, dass sie gehen konnte. Und du hast ihr mit deinem Wodka und deinem Theater noch in die Hände gespielt. Sie hat dich voll ins Messer laufen lassen.

Du bist so dumm!

„Ich will nicht mehr neben dir schlafen.“


„Ich kann nicht mehr neben dir schlafen.“


Ihr steht in der Küche. Sie steht vor dem Herd, kocht eine Nudelsuppe. Warum sie noch kocht, wenn sie nicht mehr neben, mit dir schlafen kann, ist mir schleierhaft. Du nimmst die halbvolle Wodkaflasche aus dem Schränkchen beim Fenster, nimmst dir eine Tasse und schüttest dir einen kräftigen Schluck ein. Dann gehst du zur Tür und schließt sie, so dass María nichts von dem hören kann, was jetzt kommt. Nadine guckt dich mit einer Mischung aus Trauer und Verbissenheit an, die du nur allzugut kennst.

„Ich kann nicht mehr neben dir schlafen.“

Du hast diese Nacht keine vier Stunden geschlafen, bist um zwei nach Hause gekommen und bist um sechs wieder aufgestanden. Wie konntest du nur denken, dass alles ausgestanden war?! Wie konntest du nur so dumm sein.

„Ich hab nächste Woche einen Termin bei einer Psychologin. Dann erklär ich der das.“

Mach doch, du blöde Kuh.

„Du kannst ja mitkommen.“

„Als ob ich mit dir zu irgend so einer Psycho-Tante gehen würde…bin ich denn bescheuert.“

„Dann nicht.“

Oder war es andersrum und ich hab gesagt: „Ich kann ja mitkommen. Dann gehen wir da gemeinsam hin und reden über die Probleme.“

„Nein, da geh ich alleine hin. Dafür ist es zu spät. Ich nimm dich doch nicht mit.“

„Dann leck mich doch. Mann!“

Ja, ich glaube das ist näher an der Wahrheit. 

Was ist schon die Wahrheit.

Etwas, das zwischen einer halben Tasse Wodka, meiner Wut und ihren rohen Emotionen verloren geht.

Sobald die Tür zu ist, fang ich an, sie anzuschreien. Das Übliche. Es geht nicht mehr. Sie hat ja Recht. Aber so geht es auch nicht. Ich bin doch nicht ihr Fußabtreter.

Das Ende vom Lied ist, dass die Tür aufgeht und María alles mitbekommt.

Irgendwann kurz darauf ist Nadine im Schlafzimmer und sitzt mit María am Kopfende des Bettes. Ich schreie heulend, wie ein Besessener:

„Ich liebe meine Tochter. Ich liebe sie. Gott weiß, dass ich sie liebe.“

Keine Ahnung warum. Wer fragt schon nach dem Warum, wenn es um Gefühle geht. Um Liebe, Hass, Wut. Vielleicht hab ich ja da schon geahnt, dass ich sie kurz darauf verlieren würde. Wen? Meine Tochter? Nein: meine Frau. Beide.

Donnerstag, 26. Februar 2015

Spüren Sie was?




26.02.15 (Vier Tage vor Tag Null.)





Spüren Sie was?


„Der Zahn ist tot!“ sagt der Typ und wackelt an dem Zahn.


„Aha“, sag ich so gut man das beim Zahnarzt eben so kann. Mit diesen ganzen Apparatschaften in der Fresse ist das nicht so leicht.

„Der ist tot," sagt er nüchtern. So als würde er das jeden Tag tausend Mal. So als wär das Routine, dass die Zähne irgendwann sterben. Genau wie wir Menschen. Die Menschen zu denen sie (jetzt nicht mehr) gehören.

Fast hätte ich spontan gesagt: Ich auch, wissen Sie… Aber das lasse ich dann doch besser. Bin ja schließlich hier beim Zahnarzt und nicht beim Seelenklempner. Den ich, weiß Gott, genauso so sehr oder vielleicht noch mehr bräuchte als den Zahnklempner.

Toll, denke ich. Toll. Wunderbar. Ich bald auch. Genau wie der beschissene Zahn. Nein, Quatsch: Ich lebe noch. Nur der Zahn ist tot.

Er nickt.

Bis heute dachte ich eigentlich, Zahnärzte hätten mit dem Tod nicht so viel zu tun.

Trotzdem schockt mich das nicht. Im Gegenteil: Ich fühle mich dadurch komischerweise sogar ein Stückchen lebendiger.

Komisch

Er beugt sich trotz des toten Zahns (was macht das jetzt noch für einen Sinn, jetzt, wo er tot ist) wieder über mich mit seinem runden Gesicht und sagt genauso nüchtern:

„Ich nehme jetzt die Füllung raus und dann sehen wir…“

Wozu, wenn er tot ist?

Wozu noch eine Füllung, wenn er tot ist.

Toten gibt man ja schließlich auch nichts zu essen.

Das letzte Hemd hat keine Taschen.

„Diamant…“, sagt er zu der Assistentin, die eben noch leicht gehustet hat. Auch ich habe ein bisschen Schnupfen und Husten. Das bleibt ja nicht aus, bei diesem Wetter. Diesem Sauwetter. Diesem typisch deutschen Winterwetter.

Wenn ich ehrlich bin: Irgendsowas hatte ich mir schon gedacht. Obwohl ich nicht damit gerechnet hatte…

…wer rechnet schon damit, dass der Zahn gleich tot ist. Ok, von Karies zerfressen, ok. Aber doch nicht gleich abgekackt. Gott im Himmel.

Er fängt an mir im Mund rumzubohren. Einen Moment lang tut es weh, doch dann fühle ich gar nichts mehr

Komisch

Er sagt nichts. Wie immer. Der sagt nie viel. Wie Nadine. Ist aber immer freundlich zu mir. Anders als Nadine! Vielleicht reden die in Polen nicht so viel. Nach Jahrhunderten der Unterdrückung, der Knechtschaft. Keine Ahnung. Vielleicht redet auch er nur nicht so viel. Der Scheiß, ey. Er sagt nicht, ob die Füllung jetzt raus ist, oder nicht. Ist ja auch egal. Interessiert mich nicht. Warum auch?!

Kurz schließe ich sogar die Augen, meine Hände fast zu Fäusten geballt. Weil es weh tut.

Dann legt er den Bohrer weg – Zahnärzte sind Sadisten, eindeutig (vielleicht sogar noch mehr als andere Ärzte: Bestimmt lässt der sich von dem ganzen Geld, was der scheffelt – Zahnärzte sind die reichsten Ärzte! – abends von irgendeiner polnischen Prostituierten auspeitschen. Oder noch besser: anbohren!). Er legt den Bohrer weg und nimmt sich…

…eine Nadel.

Die er mir postwendend in den Mund steckt. Den ich dummerweise auch noch gebannt offen halte. Ich versuche sogar, ihn noch weiter zu öffnen. Damit er mit mir zufrieden ist. Damit er mich mag, dieser kleine polnische Sadist. Dieser große polnische Sadist – immerhin ist er mindestens einen halben Kopf größer als ich.

Er steckt mir also diese kleine Nadel in den Mund – die ich leider zu spät als solche erkenne – und sagt:

„Spüren Sie was?“

Was? So allgemein, oder was? Oder meinen sie so konkret. Das hat mich so lange keiner mehr gefragt.

Aber ich spüre nichts. Und muss das leider auch zugeben.

„Nein“, nicke ich, da ich nicht weiß, ob er das, was ich sage, auch versteht.

„Und hier? Tut das hier weh?“ Wieder steckt er mir die kleine Nadel mit dem roten Köpfchen in den Mund.

Wieder muss ich, so leid mir das tut – verneinen. Denn ich spüre wirklich nichts. So langsam komme ich mir vor, wie einer dieser Typen aus den Telenovelas, die angeschossen wurden oder einen Unfall hatten, und die dann vom Arzt immer die gleiche Frage gestellt bekommen, während er an ihren Zehen rumfummelt. „Spüren Sie was?“

Fühlen Sie noch was?

Echt, ey. Wie einer dieser Querschnittsgelähmten. Scheiße, Mann. Aber was soll ich sagen?! Komischerweise spüre ich echt nichts. Wie gerne würde ich sagen: „Ja, das tut weh! Das tut sauweh! Wenn Sie jetzt nicht gleich aufhören, Nadeln in meinen Mund zu stecken, dann haue ich Ihnen eine rein!

Aber das wär ja gelogen, weil es nicht weh tut. Das ist das erste Mal, dass ich traurig bin über die Abwesenheit von Schmerz. Jetzt weiß ich auch, wie die sich in den Telenovelas fühlen.

Wie Schauspieler, haha.

Was wäre denn, wenn ich ihn jetzt belügen würde? Wenn ich meinen Zahnarzt belügen würde? Würde ich dann in die Hölle kommen? Oder würde ich das nur beichten müssen und das wäre mit drei Avemarias getan? Wenn ich ihm dummdreist ins Gesicht lügen würde. „Ja, das tut weh! Und wie!“ Wenn ich schauspielern würde. Kann ich das überhaupt? Vielleicht schon…drastische Situationen erfordern drastische Maßnahmen. By any means necessary. Würde er  das dann merken? Oder würde er mir glauben? Immerhin ist er Pole. Die glauben ja sogar noch an Gott! Oder die tun nur so. Vielleicht würde er auch nur so tun. Und sagen: „Ok…“ Und denken: „Willst du mich verarschen, du Deutscher, du?!“ Quasi gute Miene zum bösen Spiel machen. Würde mein Zahn so weniger tot sein? Keine Ahnung

Aber das ist mir in meiner gegenwärtigen Lage eh viel zu kompliziert. Also sage ich weiterhin brav nein auf seine Frage, ob das wehtut. Und sehe seine Enttäuschung…oder doch seine Freude…oder seine Bestätigung…seine nüchterne, polnisch-trockene Bestätigung.

Leider nicht.

Scheiße.

Doch dann passiert das Wunder! (Er ist ja schließlich auch Pole, die glauben ja – offiziell – an Wunder und nicht an FKK-Strände.) Beim dritten oder vierten Stich spüre ich etwas! Und er spürt es auch: Denn ich zucke sichtlich zusammen und mein Gesicht verzieht sich. Doch: Das tat weh.

„Tat das weh?“, fragt er auch postwendend. Oder ich bilde mir das ein und sage stattdessen selbst: 

Das tat weh!“

Autsch.

Charlie bit me. Charlie bit me and that really hurt. Charlie!

Jetzt hat er auch meinen Schmerz registriert. Ob mit Wohlwollen oder Enttäuschung, das weiß ich nicht. Er verzeiht immer noch keine Miene. Obwohl: Ich glaube, er ist auch froh über meinen Schmerz. Meinen unerwarteten Schmerz.

„Ah“, sagt er.

Ja: Er ist froh! Definitiv! Denn er darf noch Mal zustechen, der Wichser. Das darf er jetzt so oft er will. Denn das heißt: Der Zahn lebt! Der Scheiß-Zahn lebt! Der verfickte Scheiß-Zahn lebt! 

Fast will ich es rausschreien, es ihm ins Gesicht schreien. Der Zahn lebt. Er ist nicht tot, so wie sie sagen! Er ist quicklebendig! Ok: Er hängt am seidenen Faden, aber das kratzt mich jetzt nicht.

Fast will ich vor Freude singen:


Ja: Er lebt noch. Ja lebt denn der alte Backenzahn noch? Lebt denn der alte Backenzahn noch?

Ja! Er lebt noch! Er lebt noch!

Ja! Er lebt noch! Er lebt noch!

Totgesagte (Zähne) leben eben länger! Nein, das heißt anders: Totgeglaubte (Zähne) leben länger! Geil, ne?! Ach, ist doch egal! Scheißegal! Hauptsache…er lebt noch!

Geil!

Auf dem Heimweg denke ich: Das darf man einen Depressiven nie fragen. Ob er etwas fühlt. Denn darauf kann es nur eine Antwort geben. Ja! Viel zu viel! Das können Sie sich gar nicht vorstellen, was ich alles fühle! Wo es mir überall weh tut! Und dabei sagen die immer, dass Depressive nichts fühlen. Was für ein Bildzeitungs-Quatsch!

Ich fühle nichts mehr.

Ich spüre nichts mehr.

Oder zu viel.