Samstag, 1. Juli 2023

Geburtsurkunde

 



Och, näh, jetzt muss ich denen auch noch eine Geburtsurkunde meiner Tochter zukommen lassen. Was denn noch alles?! Wegen irgendeinem Versicherungsscheiß, was weiß ich. Deutschland. Deutschland. Muss denen meine Vaterschaft belegen. Leckt mich am Arsch! Aber wenn ich so drüber nachdenke: wie passend! Jahre später, 24 Jahre später, Jahre nach der Scheidung, nach all dem Ärger, all dem Theater, wollen die von mir einen Beweis, dass ich Vater bin. Und ich denke nur: wie passend! Schicke meiner Tochter ein Foto von dem Schreiben, besser so was direkt zu erledigen. Damit das nicht in deinem Kopf weiterarbeitet. 

Und während ich auf eine Antwort warte, denke ich nur: Hoffentlich hat sie die überhaupt noch. Bestimmt hat die Ex, die Echse, die weggeworfen. Verbrannt. Um jegliche Erinnerung an mich auszulöschen. Das ging ja damals ganz schnell. Einen Tag waren ihre Papiere da, den nächsten nicht mehr. Wie bei einem Zaubertrick. Einem schlechten Zaubertrick, der in einer Bar von einem mittelaltrigen, stinkbesoffenen Mann, der sich kaum auf den Füßen halten kann, vorgeführt wird. Falsch vorgeführt wird, schlecht vorgeführt wird - wobei ich nicht weiß, was schlimmer ist. 

Die brauchen also von mir einen "Nachweis der Elterneigenschaft" (steht das da wirklich, "Eltern-eigenschaft???") und ich denke nur: Leckt mich am Arsch! Jetzt muss man in Deutschland sogar noch die Kinder nachweisen. Aber warum nicht. Irgendwie bin ich ja noch Vater. so irgendwie bin ich ja noch Vater. Um drei Ecken. Drei Ecken und eine Scheidung. Also warte ich auf eine Antwort, was bei meiner Tochter schwierig ist. Um diesen Arschlöchern meine "Elterneigenschaft" nachzuweisen. die ich gefühlt schon lange verloren habe, aber ein Vater ist man ja sein ganzes Leben lang. Ich stelle mir meine Tochter vor, wie sie zu ihrer Mutter sagt: Papa braucht meine Geburtsurkunde. Haben wir die noch? Und ihre Mutter denkt kurz darüber nach, die Urkunde nachts still und heimlich verschwinden zu lassen, nur um sie mir nicht übermitteln zu müssen, sagt kalt "NO". "NO". So, wie in diesem Abschiedsbrief. Der war so geil. Und ist damals direkt in Übersetzung - bei der die Tinte bzw. Druckerschwärze noch nicht mal trocken war - zur Anwältin gewandert. Ebenfalls wie in einem schlechten Schmierentheater, in dem ein Mann und eine Frau nachts in einer Bar, fein säuberlich voneinander getrennt, versuchen, einen Trick aufzuführen, an dem sie bei scheitern und nur die Anwälte gewinnen. 

"Kann ich mal gucken, Mama?"

"NO!"

(Die ist bei deiner Tante, bei Onkel ****, damals verloren gegangen, die hat die Katze gefressen, der imaginäre Hund, an den ich immer denken muss, wenn du deinen "Papa" erwähnst, die hat der Anwalt, der Postbote mitgenommen, mein neuer Stecher bei sich [im Schrank, wo sonst?!], die ist in Ecuador, in Portugal, auf dem Mars, was weiß ich wo ...)


Ruf mich mal an, bitte ... habe ich ihr auf WhatsApp geschrieben. Und noch nicht mal ein zweites Häkchen. Sie wird bestimmt nicht anrufen, das tut sie nie. Und in meinem Kopf geht schon das Geratter los. Der Rolf hat gesagt, dass der Udo das gestern braucht. Und wenn sie das jetzt beantragen muss? Kriegt man das so einfach? Eine Geburtsurkunde? Wo beantragt man die überhaupt? Und wenn die damals abhanden gekommen ist. Schließlich waren das wilde Zeiten, sowohl nach der Geburt als auch nach der Scheidung. Wild West sozusagen. Und wenn das jetzt länger dauert?

Ha, zwei Häkchen! 

Sie hat es bekommen. Gelesen weiß ich immer noch nicht, denn ich krieg von ihr keine blauen Häkchen, das hat sie ausgestellt. 

Einen Nachweis meiner "Elterneigenschaft". War ich geeignet? Am anfang nicht so richtig, dann viele Jahre auf jeden Fall, und am am Ende so halb ...

Hey, deine "Elterneigenschaft" ist doch noch gar nicht zu Ende!!!

fühlt sich aber manchmal so an.

Nein, du musst glauben!

An was, an den Weihnachtsmann.

Noch diese Woche hast du deine Elterneigenschaft schließlich voll ausgelebt. In ganzen vierienhalb Stunden!

Waren es wirklich viereinhalb Stunden?

Ach, wenn interessieren schon diese Details! Diese Erbsenzählerei! Es zählt einzig und allein die Tatsache, dass du mit deiner Tochter einkaufen warst. T-Shirts. Zwei Stück! Von Fynch und Hatton. die mit dem Baum ... dem Baum des Lebens ... wen interessieren schon solche Details ... we wouldn't have to go into details!


Ich kann jetzt keine Antwort abwarten - obwohl ich ganz genau weiß, dass WhatsApp wie Tennis ist und erst eine zwei WhatsApp kommt, nachdem man eine Antwort erhalten hat - also schicke ich ihr ein Foto von dem Schreiben und schreibe drunter: Dat bruch ich. 

Impatience killed the cat!!!

Ihre Katze. Ihre Katze, die ich nie gesehen habe. Der ich aber zu Weihnachten Leckerli gekauft habe. Das ist doch auch schon mal was! Es sind die kleinen Dinge im Leben, die kleinen Details ... die die Katze glücklich machen. 

Im Radio singt eine Frau Tell me lies, tell me sweet little lies.

Tell me lies, tell me sweet little lies.

Und da die Katze ja bekanntlich neun Leben hat, schreibe ich noch hinterher: Am besten gestern ...

Jetzt ist es aber gut! Jetzt ist es aber wirklich gut! Noch eine WhatsApp und du kriegst wahrscheinlich eine Anzeige wegen Stalking ... in der heutigen Zeit sowieso! ... aber du brauchst dieses Ding ja. Und am besten wirklich gestern. 

Temper, temper!!!

Ruhig, Brauner! Ruhig!!

Wenn sie jetzt zu Hause - in deinem oder ihrem? - wohnen würde, wäre das natürlich einfacher. Dann würdest du nachts um kurz nach eins nach Hause kommen und. bevor du zu deiner Frau ins Bett steigen würdest, noch am Schrank vorbeigehen und dat Ding selber raussuchen. Selbst ist der Mann! selbst ist der verheiratete Mann. Aber so ... So muss das erst alle 25 Instanzen durchlaufen, von ihrer Mutter und ihrer Familie genehmigt werden (wovon träumst du nachts?!), bevor das Papier dich irgendwann erreicht. Ja, wenn das Wörtchen "wenn" nicht wär ...

Im Radio sagt jemand buenos días. Manchmal ist das Schicksal aber auch eine mieser Verräter. Buenos días y adiós. Adiós, amigo. Das hat sie damals gesagt. Beziehungsweise unter ihren Brief geschrieben. Ihren Absciedsbrief. Deine Tochter wird immer deine Tochter sein, ich kann ihr da nicht reinreden. Natürlich nicht. Hat die Psychologin damals auch gesagt. Das ist natürlich würdig und recht. wenn du so drüber nachdenkst, war das mit Conchi schon die zweite Frau in deinem Leben, die dich mit einem Adiós in die ewigen Jagdgründe befördern wollte. 

Aber du bist immer noch hier, das sagt doch auch etwas über dich aus!

Und was?

Dass du wahrscheinlich sogar den Atomkrieg überlebst!

Wie die Kakerlaken ...

Und bestimmt findet deine Tochter den Nachweis deiner "Elterneigenschaft", irgendwo tief unter anderen mehr oder weniger erwünschten Papieren aus der Vergangenheit - angestaubt und mit Kaffeeflecken. Sie ist ja schließlich Deutsche und damit "korrekt" und "pünktlich" Sie macht das schon. Und ihre Mutter wird ja wohl kaum ihre Geburtsurkunde verschwinden lassen. aber wer weiß ... wie gesagt: wilde Zeiten! Wild West!

Und in Südamerika sind schon ganz andere Dinge verschwunden ...

Du checkst deine Nachrichten. Nichts. Noch immer nichts. Dabei sind erst knappe 10 Minute vergangen. 

Was erwartest du denn auch?! Dass sie für deine Nachricht alles stehen und liegen lässt und dich direkt anruft???!!! 

Egal, wo sie ist. Ob bei ihrer Mutter am Esstisch oder bei ihrem Freund. Hat sie einen? Du weißt es nicht. Nichts Genaues weiß man nicht. du weißt eigentlich nicht mehr viel. Das ist halt der Nachteil, wenn man es, anders als viele andere Menschen in diesem wunderschönen Land, nicht mag, indiskrete Fragen zu stellen. Dann redet man halt viereinhalb Stunden über andere Dinge. Das hast du nun davon. 

Wenn du jetzt noch verheiratet wärst, noch mit ihrer Mutter, ergo mit ihr, da sie bei ihrer Mutter wohnt. zusammen wärst, dann wäre das einfacher ... Dann würdest du dich selbst drum kümmern. Das Heft selbst in die Hand nehmen. Deinen Mann selbst stehen. Und sie wären sogar froh drüber, denn dann müssten sie den Scheiß nicht aussuchen. 

Aber so.

So musst du sie anrufen, um ein Ergebnis zu erzielen.

Machst du das jetzt wirklich?

Jup, so schaut's aus ...

Nicht wahr ...

Doch, leider wahr.

Die Frage ist: Willst du wirklich noch mit der zusammen sein? 

Und die Frage ist natürlich auch: Würde es dir dann wirklich besser gehen ...?

Auch im Radio laufen keine Zeichen mehr ...

Oder würdest du dann nur in einer anderen Art von Hölle leben. Ja, ich glaube, das ist es. Eine andere Art der Hölle. Einmal Ehehölle, bitte. einmal Ehehölle und kein Zurück, bitte! Lebenslang! Obwohl, heutzutage lebenslang???? Heutzutage dauern die meisten Ehen noch nicht mal die Zeit, die man, beziehungsweise Mann, für einen bewaffneten Raubüberfall in den Knast geht. Und fühlen noch dazu meistens so an ... 

Nie wieder!

Zum Glück!

Puh, das war knapp!

aber um das Leben mit der Tochter, deine "Elterneigenschaft" ist es trotzdem schade. Und das ist noch milde gesagt. Denn wenn ihr noch verheiratet wärt, würdest du deine Tochter jeden Tag sehen. Jeden Tag. Das wär dann auch bestimmt manchmal zu viel  - für sie und für dich -, aber immerhin was deine "Elterneigenschaft" angeht eine bessere Hölle als diese hier. Natürlich müsstest du deine Frau dann ertragen. diese "Ehemanneigenschaft" wäre natürlich hart. Und du wärst auch nicht frei (was ist schon wahre Freiheit und wer will/kann sie wirklich ausleben?!), würdest weniger Geld verdienen, deutlich weniger, würdest weniger arbeiten und mehr Zeit mit ihren Freunden (ööööööhhh!!!) und ihrer Familie (weiche von mir Teufel, weiche von mir!!!) verbringen müssen, mehr Zeit mit ihr (obwohl das so schlecht gar nicht war, zumindest nicht immer).

Aber all das würdest du für ein bisschen mehr Zeit mit deiner Tochter natürlich willentlich in Kauf nehmen. Klar doch! Mach ich! Verlass dich drauf! Dann würdest du auch ihre Katze kennen, ihren Tiger und ihr würdet - so gut und so lange das eben geht - glückliche Familie spielen ...

(von den Betrüggereien, dem Fremdgehen, den Dating-Apps, dem pining after long lost Spanish lovers, den Füßen, die trotz ihrer Größe von 1,40 nachts, wenn du von  der Arbeit nach Hause kommst, unter der Decke hervorragen, von der Langeweile, all der Langeweile, der Depression, der Familie, den Freunden, der Familie, der Familie, der Familie wollen wir jetzt nicht mal reden ...)

Lassen wir das!

Hey, sie hat geschrieben! 

Und guck mal, sie ist auch  needy, denn sie hat auch gleich drei Nachrichten geschickt. (Das ist keine neediness, sie ist im Gegensatz zu dir jung und die machen das so, die jungen Leute ...)






Am Ende macht sie es (hoffentlich), aber diese Leere bleibt. Diese Leere, die dich wissen lässt, dass da was fehlt, dass es hier vielleicht gar nicht um die Geburtsurkunde geht, sondern um etwas ganz anderes. Ganz sicher. Obwohl: Es geht auch um die Urkunde, die brauchst du ja schließlich für die Arbeit. Und die Arbeit ist alles, was dir geblieben ist. Was willst du von ihr? Du musst loslassen ... sie kann dir das nicht geben, was du willst. 

Mein Gott! Komm mal in die Gegenwart, werd mal erwachsen. Sie ist schließlich keine fünf mehr. Sie ist jung, sie braucht keinen 24-Stunden-Papa mehr ...

Genau das würde dein Vater jetzt sagen. Und er würde natürlich (auch) Recht haben ...

Und wo hat ihn seine Rechthaberei hingebracht?!

Und wo hat sie dich hingebracht?




Am nächsten Tag liest du Lucía Etxebarria. Im Bus zur Arbeit. Das ist kein gutes Zeichen. Das ist nie ein gutes Zeichen. Auf Twitter hast du sie einmal als Autorin deiner Dreißiger bezeichnet. Irvine Welsh war der Autor deine Zwanziger und Knausgard der Autor deiner Vierziger. sie hat sogar geantwortet. Lucía Etxebarria. Mit einem kurzen Gracias. Damals, als du mit deiner Frau, deiner Ex, deiner damaligen Frau in Aberdeen warst, da war deine Tochter noch richtig jung, und ihr habt sie gesehen, Lucía Etxebarria, abends auf dem Weg zur oder von der Telefonzelle. Nach Hause telefonieren. die war damals als Writer of Residence da. Und du kanntest die gar nicht. Und hast dich noch weniger für sie interessiert. Alles Gute in deinem Leben hast du erst Jahre nach seinem Herauskommen, seiner größten Bedeutung mitbekommen. Lucía Etxebarria, nirvana, die Toten Hosen, sogar Rammstein ... Auf jeden Fall war die mit einer spanischen Freundin unterwegs und, als sie deine Tochter sah, sagte sie etwas wie: ¡Qué niña más bonita! Nein, die sagte nicht bonita, die sagte mona. Aber wahrscheinlich hätte sie eh nicht mit dir gesprochen, wenn du sie gekannt hättest, und angesprochen hättest.

Auf jeden Fall liest du sie jetzt wieder, jetzt im Bus. Das Buch mit dem Herzen auf dem Cover. Nosotras no somos como las demás. Wir sind nicht wie die anderen (Frauen). Früher warst du fasziniert, fast schon magisch angezogen von der Susi-Geschichte in dem Buch. Susi ist in ihren Bruder verliebt und als er Jahre später stirbt, hat sie selbst eine Nahtodeserfahrung, als sie beim Schwimmen in einen Sturm gerät und nur die Stimme ihres toten Bruders, die nada, nada sagt, sie rettet. Nada, nada, was auf Spanisch sowohl nichts, nichts, als auch schwimm, schwimm heißt. aber Susi interessiert dich heute nicht. Heute muss es Raquel sein. Du suchst hinten im buch nach der Kapitelliste mit ihrem Namen. Das erste Kapitel, in dem sie auftaucht, heißt Absenta. Wie passend! Damals, kurz nach deiner Scheidung war das dein Referenzbuch. Das REFERENZBUCH schlechthin. Und Raquel dein Alter Ego. Raquel, die nicht über die Trennung von ihrem verheirateten Liebhaber und großen Liebe Jaime hinwegkommt. Klar, warum du das damals so verschlungen hast, manche Sätze sogar auswendig wusstest. In dem Buch hast du so viel unterstrichen, dass, wenn das jemand sieht, der dich nicht kennt, dich bestimmt für einen Besessenen halten muss. Kleine und große Kreise, Ausrufezeichen, dicke Striche an der Seite. Und jetzt liest du das wieder, und denkst: Mal sehen, was du davon noch fühlst, noch so fühlst wie früher, direkt nach der Trennung/Scheidung. wie ein kleines Experiment. Das dir sagt, wie weit du gekommen bist. Wie weit du seitdem gekommen bist. aber schon allein die Tatsache, dass du das Buch wieder in die Hand genommen, spricht schon Bände darüber, dass das nicht nur ein unterhaltsames kleines Experiment ist, sondern ... ernst? Und da es vielleicht doch ernst sein könnte, dringst du auch direkt ins Zentrum des Buches, ins Zentrum von Raquels desamor (was für ein traurig-schönes Wort!) vor. Suchst bestimmte Stellen, die dir noch was geben. Und findest sie nach einigem Rumblättern. Im Buch ist Raquel ein erfolgreiches Model, das seinen Liebeskummer in Arbeit ertränkt. (Kennst du das vielleicht irgendwo her?). Aber nichts lässt sie Jaime vergessen. Und dann will er sich auch noch einmal mit ihr treffen. In einem russischen Restaurant, damit sie nicht gesehen werden. Und da gibt es diese Passage, die besonders stark von Markeirungen betroffen ist: Verschieden große Kreise, Striche am Rand, und alles ist unterstrichen, praktische anderthalb Seiten. Da findest du es, liest: Y aprendí que yo siempre seré la mala y la puta y la segunda de a bordo. Und ich lernte, dass ich immer die Böse, die Schlampe und das fünfte Rad am Wagen sein würde ...

Ja, das stimmt ...

Aber es geht noch weiter. Denn ab jetzt ist fast alles, was Raquel sagt, unterstrichen. Gute 5 Seiten lang. Oder noch mehr, ich werd die jetzt nicht zählen. Aber die wichtigste Stelle kommt davor. Du suchst danach nach ihr, findest sie aber nicht. Und dann findest du sie doch noch, davor: 

Quiero poder exigir compromisos. Que si se me deja, se pague por ello. 

 Ich will auch Zugeständnisse einfordern dürfen. Dass, wenn man mich verlässt, man dafür bezahlt ...

...to be continued (when I can muster up the strength ...)