Sonntag, 21. August 2022

Balatonfüred



Du sitzt todmüde auf der Arbeit, vor deinem Laptop. Es ist noch kein Kunde da. Zum Glück. Und plötzlich denkst du an Ungarn. An Anikó. Damals. Wie lange ist das jetzt her? Zu lange. Wie unschuldig du damals warst, wie jung. Wie jung du damals warst, wie unschuldig. Du googelst Havanna Utca. Ds war die Straße, in der sie wohnte. Damals, welches Jahr das auch immer war. Du denkst zurück. 1990 warst du mit deinen Eltern definitiv noch in Jugoslawien. Da war noch kein Krieg. Und Deutschland wurde Weltmeister. Das habt ihr damals in Jugoslawien geguckt. Als es das noch gab. Da, wo die immer Werbung während des Spiels eingeblendet haben, was es in Deutschland nie gegeben hätte. Danach war Krieg in Jugoslawien und ihr konntet nicht mehr da hinfahren. Das muss 91 gewesen sein. Oder 92. Ich weiß es nicht mehr. Das ist mittlerweile so lange her. So viele Jahre. All die Jahre, all die Beziehungen, all die Momente, all die Zeit, deine Tochter, deine Frau, deine Ex-Frau. Das war alles noch davor. So lange her. Deine Eltern fuhren mit dir nach Ungarn. Weil sie nicht mehr nach Jugoslawien konnten. Das war das Jahr, wo das Dream-Team zum ersten Mal gespielt hat. Ja, genau, das war’s. Jetzt weißt du’s. Und das kann man nachgucken. 1992! Das grße Dream-Team. Mit Michael Jordan, Magic Johnson, Larry Bird … Wahnsinn …

1992. Da trafst du sie. Im Urlaub. Im Urlaub am Balaton. Am Bodensee. Es war Sommer und dein Vater kriegte sich nicht mehr ein, weil eine junge Frau da mit Tange auf dem Fahrrad fuhr. Sagte so was wie: „Der kann man ja bis zum Essen hochgucken." Oder war das deine Mutter. Verächtlich. Gleichzeitig hörte er diese wunderschönen, wunderschön-melancholischen Lieder. Ich glaube, das waren die Bee Gees, aber ich weiß es nicht mehr.

Auf jeden Fall lernte ich am Strand am Balaton, am Bodensee Anikó kennen. Die kein Deutsch und auch kein Englisch konnte. Und ich natürlich auch kein Ungarisch. Wir verständigte uns wortwörtlich mit Händen und Füßen. Und plötzlich saß ich nicht mehr bei meinen Eltern auf der Matte, sondern neben ihr. Die hatte Glocken, war einen dunkle Schönheit. Dunkelbraun. Auf diesem einzigen Foto, das was weiß ich wo verschwunden ist. Alles ist verschwunden. So viel ist weg. Sie in diesem schwarzen Bikini, mit 15 Jahren. 15 Jahre, Wahnsinn! Wie jung wir damals waren. Sie war glaub ich genauso alt wie ich. 15 Jahre. Und mein Vater (Gott hab ihn selig!) machte, immer wenn er das Foto sah, einen Kommentar, dass DA EIN GANZES Heer durchpasste, zwischen den Abstand unserer beiden Matten am Strand des Balaton. Das hat mich immer ein bisschen geärgert, aber macht e mich gleichzeitig auch stolz. Denn ich saß neben ihr, neben Anikó, die in diesem schwarzen Bikini echt toll aussah. Typische Beuteschema. Ich weiß. Braun, nicht zu groß und südländisch.

Havanna Utca. Bocks, nur Blocks. Wie in der DDR. Plattenbauten, imma wigga. Da wohnte die? Ich war nie bei ihr zu Hause. Ihre Freundin war blond und konnte ein bisschen Englisch. Über sie haben wir uns rudimentär verständigt. Die Sonne schien auf uns herab, es war heiß, wir waren heiß. Ich schrieb ihr einen Brief. Sie schrieb sogar zurück. 15 Jahre Schrieb, dass sie nie gedacht hätte, dass ich all diese Gefühle hatte.

Dieser Laubengang am Ufer. Da trafen wir uns nachmittags. Alleine. Gingen spazieren. Ich gab ihr meine Hand. Gab ich ihr meine Hand? Oder war das irgendjemand anderes? Später. Ich weiß das noch genau. Wir setzten uns auf eine dieser Bänke am Ufer, durch die Bäume vom Rest der Welt abgeschirmt. Nebeneinander. Und ich küsste sie. Auf den Mund. Zuerst auf den Flaum auf ihrer Wange und dann auf den Mund. Oder war das Inga, die ich zuerst auf den Flaum geküsst hatte? Das war eine schlabbrige Angelegenheit. Und sie erwiderte den Kuss auch nicht so richtig. Vielleicht hatte sie nicht damit gerechnet. Mein erster Kuss. Vielleicht wusste sie ja auch nicht, wie sie reagieren sollte. Vielleicht war es ja auch ihr erster Kuss. Auf jeden Fall funktionierte das nicht so richtig. Aber wo hätte das auch hinführen sollen? Das war glaub ich ihr letzter Tag am Bodensee. Und das machte mir überhaupt keine Sorgen. Ich dachte an nichts. Nicht viel machte mir Sorgen. Ich lebte sowieso wie hinter einem Schleier, damals. Wie jung wir waren. Ach, Anikó, was wohl aus dir geworden ist? Ob du immer noch in Budapest lebst. Wie du wohl jetzt lebst.

Es war ein komisches Gefühl, dieser erste Kuss. So als hätte ich mehr machen können. Aber was schon? Sie da verführen, in dem Laubengang am Ufer des Balatons?

 

 

Eigentlich könnte ich ja jetzt aufhören, ich könnte es ja jetzt lassen, weil solche Momente, Momente solcher Unschuld wie unser Kuss, kommen nie wieder … und selbst wenn ich sie finde, wir sind nicht mehr die Gleichen, wir werden nie wieder zurückkehren können, die Vergangenheit ist ein schwarzer Spiegel.