Dienstag, 21. November 2017

Sonnenanbeter, die auf das Wassermannzeitalter warten





Zwei Wesen kämpfen in meiner Brust: Eines, das Veränderung, radikale Veränderung haben will, haben muss und eines, das unbeirrt, bis zum bitteren Ende an meinem alten Leben, an dem, was ich habe, festhalten will. Und beide treiben sie mich fast in den Wahnsinn. Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Illusion und Desillusion lösen sich jeden Tag ab, manchmal im Minutentakt.


***








An der Haltestelle in Meckenheim steht die alte Oma von letztens. Die so ein bisschen tüttelig ist, ein bisschen senil, aber die immer noch jede Woche den Bus nach Godesberg nimmt. Nehmen muss?

Kaum hast du die Sachen auf die braune Eisenbank gelegt, da spricht sie dich auch schon an. Mit zittriger, leicht stotternder Stimme:

„Darf ich Sie fragen, was ist denn ihr Fahrtziel?“, sagt sie.

„Godesberg.“






Sie guckt dich leicht fragend an.

„Mit der 855“, erklärst du, etwas lauter.

Nach einer Pause sagt sie: „Ich fahre auch nach Godesberg. Nach Rüngsdorf. Rüngsdorf…“

Den Rest verstehst du nicht richtig. Irgendein Platz. Sonnenplatz? Näh, so kann der doch nicht heißen. Oder doch?

Du sagst nichts.

„Ich hab mich hier hingestellt, um die paar Sonnenstrahlen zu erwischen“, sagt sie, mit halb geschlossenen Augen, halb verdeckt an der Seite des Wartestellenhäuschens stehend.

„Stimmt. Da haben Sie recht…eigentlich müsste ich auch ein bisschen Sonne tanken…“, er macht einen Schritt nach vorne, aus der Dunkelheit des Wartehäuschens aus Stein mit dem dunkelbraunen Holzdach in die Sonne, spürt schon die ersten Sonnenstrahlen in seinem Gesicht, „…aber ich will Ihnen ja nicht die Sonne wegnehmen…“

Sie sagt nichts, hat die Augen geschlossen, das Gesicht in die Sonne gehalten.

„Stimmt! Muss man ausnutzen, die wenigen Sonnenstrahlen…“

Du gehst wieder ein paar Schritte nach vorne, trittst unter dem Dach des Wartehäuschens hervor, ins Freie. An die freie Luft. Erst jetzt merkst du, dass die Sonne tatsächlich scheint. Du hattest schon fast ihre Existenz vergessen, bei den letzten Tagen voller Regen und verschiedener Schattierungen von Grau. Sogar ziemlich stark für Mitte November. Die Strahlen wärmen dein Gesicht förmlich auf, aber lange hältst du es in der Sonne nicht aus, du Kellerkind. Trittst wieder zurück, in die Dunkelheit im Inneren des Wartehäuschens.

„Ich habe mich hier hingestellt, wo es nicht so zieht…“, sagt die alte Dame, während ein großer, dünner Schwarzer mit Mütze an uns vorbeihumpelt.

„Stimmt…“, sagst du. Und denkst es auch. Früher hättest du das nicht gemacht. Du bist da offener geworden. Wenn du so weitermachst, bist du in zwei Millionen Jahren komplett extrovertiert – immer vorraugesetzt, dass du dann noch lebst.

Die arme alte Dame, die nach Godesberg fährt. Was sie da wohl will? Alte Erinnerungen auffrischen? Ans Grab ihres gestorbenen Mannes gehen (damals hat noch der Tod die Leute geschieden…)? Weil sie nach Mackenheim ziehen musste, weil die Mieten in Bonn zu hoch für alte Leute sind?

Sie ist einsam und deswegen redet sie mit allen, spricht einfach so wildfremde auch nicht mehr ganz so junge Männer an. Du bist einsam, deswegen redest du mit dir selbst, sprichst niemanden an, redest nur mit alten Damen (aber nur wenn angesprochen).

Und was ist schon dabei?! Wenn sie mit dir redet, wenn du mit ihr redest?! Du bist auch einsam, deswegen weißt du, wie sie sich fühlt. Wir sind alle einsam, in diesem Land der sozialen Kälte, in dem jedes Lachen schon seit frühester Jugend verarschend, schadenfroh, hämisch ist und man immer, wiederhole, IMMER über andere lacht und nie mit ihnen. Immer über und nie mit anderen redet.

Was ist schon einzuwenden gegen ein bisschen Wärme…?!

Letztens hast du gelesen, dass wir laut einer bekannten Astrologin (ja, ich weiß…) kurz vor dem Wassermannzeitalter stehen oder es sogar schon begonnen hat, einem Zeitalter großer Umwälzungen, aber auch einer Neuorientierung hin zu mehr Gerechtigkeit und Gleichheit, die (angeblich) das Sternzeichen des Wassermanns ausmacht. Du kannst nur hoffen, dass das neue Zeitalter bald anbricht, diese Welt und besonders dieses Land hat es, weiß Gott, bitternötig, denkst du und guckst zu der alten Frau rüber, die die Augen immer noch geschlossenen und ihr Gesicht in die Sonne hält. Wir sind Sonnenanbeter, zwei Sonnenanbeter, willst du zu ihr sagen, lässt es dann aber doch.

Diese Welt, dieses Land, in dem wir alle ein wenig einsam, ein wenig verwirrt, ein wenig tüttelig, ein wenig bekloppt sind