Dienstag, 17. Januar 2017

Zwischen Himmel und Erde, Himmel und Hölle














Im Zug von Meckenheim nach Bonn, abends nach der Arbeit, hat er plötzlich die Sicherheit, dass sie jetzt, genau in diesem Moment, an ihn denkt. Er spürt wie ihm urplötzlich Tränen in die Augen steigen, wie sein Gesicht einen so verzweifelt-traurigen Ausdruck annimmt, dass er eigentlich jetzt und hier zu heulen anfangen könnte. Hier, auf diesem Vierer, ganz vorne in der Bahn, die durch die winterliche Dunkelheit rauscht. Der Gedanke daran, dass sie jetzt, genau jetzt, auch an ihn denken könnte, zerreißt ihm das Herz, die Seele, den Körper.

Innerlich wiederholt er es noch mal: Er hat die Sicherheit, dass sie jetzt, genau in diesem Moment auch an ihn denkt. Fragen Sie mich nicht, woher. Ich weiß es nicht, aber es gibt so Momente im Leben. Einzelne Momente. Aber trotzdem: Warum denn gerade die „Sicherheit“. Das scheint ihm das falsche Wort, der falsche Ausdruck zu sein. Sicherheit. Nein. Gewissheit. Das ist besser: Er hat die Gewissheit, dass sie genau jetzt, in diesem Moment, zwei Tage vor der Scheidung, auch an ihn denkt. Oder ist Sicherheit im Endeffekt doch besser als Gewissheit? Etwas verlieht einem Sicherheit, etwas verleiht einem Gewissheit oder gibt einem Gewissheit, das ist nicht dasselbe. Aber was ist der Unterschied zwischen den beiden Wörtern? Sind das nicht letzten Endes ohnehin nur leere Worte, die weder er noch sie mit Leben zu füllen vermag. Mit Liebe

Draußen ist es dunkel und der Zug fährt weiter durch die kalte Nacht. Er ist kaputt, total kaputt. Innerlich wie äußerlich. Körperlich wie seelisch. Den Tränen nah, die nicht kommen wollen, die den Abgrund nicht zu überwinden vermögen.

Und wenn das alles nur Quatsch ist? Und sie gar nicht an ihn denkt? Gar nicht mehr an ihn denkt. Gedacht hat, schon seit langem nicht mehr. Wenn er sich das nur wieder einbildet

und diese tiefe Traurigkeit, die ihn in solchen Momenten überkommt, sein ganzes Wesen förmlich überschwemmt mit ihren schwarzen Wellen…was ist, wenn das alles nur in seinen Gedanken so ist? In seinem Kopf?

Er liest gerade dieses Buch. Wo dieser 36-jährige Japaner, der in seiner Jugend unzertrennlich mit vier anderen Jugendlichen (zwei Jungen und zwei Mädchen) so eng befreundet war, dass er es nie überwunden hat, als sie auf einmal, wie aus heiterem Himmel nichts mehr von ihm wissen wollten. Sich in komplettes, eisernes Schweigen hüllten. Seitdem nie wieder mit ihm gesprochen haben

Haruki Murakami. Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki.

Eines Tages macht sich Tsukumu – so heißt der Mann aus dem Buch – mit der Hilfe seiner Freundin Sara auf, um herauszufinden, warum seine Freunde ihn damals so jäh haben fallengelassen, von einem Moment auf den anderen. Er findet heraus, dass ihn Shiro, eins der Mädchen der Clique, damals vor den anderen bezichtigt hat, sie während eines Aufenthaltes in seiner Wohnung vergewaltigt zu haben und dass sie deswegen den Kontakt zu ihm abgebrochen haben…

Der Vergewaltigung bezichtigt


Vielleicht liegt das ja an dem Buch, dass er denkt beziehungsweise eben noch gedacht hat, dass Nadine genau jetzt auch an ihn denkt. Vielleicht liegt das ja daran und er bildet sich das alles nur ein. Vielleicht bildet er sich ja sein ganzes Leben nur ein. Vielleicht ist das alles am Ende gar nicht real. Vielleicht gibt es da ja mehr, von dem er nichts weiß

Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde

Mehr Dinge zwischen Himmel und Hölle

als wir uns vorstellen können.