Sonntag, 21. August 2016

Alles Verarschung: Zwischen Schein und Sein












Heute musste er tatsächlich fast wieder heulen. Bei Cuéntame como pasó, einer seiner spanischen Serien – komischerweise sind es immer die spanischen, bei denen er heulen muss, bei denen die Emotionen ihn förmlich übermannen). Ich weiß, er ist auch von Natur aus schon ziemlich nah am Wasser gebaut, aber das heute war  wirklich etwas Besonderes.

Cuéntame como pasó erzählt die Geschichte der Familie Alcántara, die während der Franco-Zeit vom Land in die Großstadt Madrid zieht und zeigt beispielhaft am Alltag der Alcántaras, wie sich das Land von der Franco-Diktatur langsam zu einer modernen Gesellschaft wandelte. In der vierten Folge, die im Jahr 1968 spielt, bekommt Antonio Alcántara, Vater und Oberhaupt der Familie Alcántara, Besuch von seinem Bruder Miguel, der auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben nach Frankreich ausgewandert ist. Zu Beginn sieht es so aus, als hätte Miguel in Frankreich das große Los gezogen: Er hat einen guten Job bei Citroën, ein Chalet, eine französische Frau und eine bildhübsche Tochter. Aber im Laufe der Folge stellt sich heraus, dass die Realität ein bisschen anders aussieht. Miguel gesteht seinem Bruder Antonio, der selber von einem Leben in Frankreich träumt, dass er allen nur etwas vorgemacht hat, damit sein Bruder stolz auf ihn ist. Um seinen Bruder nicht zu enttäuschen.

Dass er gar kein Chefmechaniker bei Citroën ist, sondern nur ein Baggerfahrer. Der für andere die Drecksarbeit erledigt. Ein weiterer kleiner, unbedeutender, spanischer Gastarbeiter, der zwar über die Runden kommt, aber sein Glück in der Fremde nie gefunden hat. Der seine wahre Familie vermisst, seine „Leute“.

Dass sein Chalet in Frankreich in Wahrheit nur eine Mietwohnung ist…

Dass sein Auto, sein Citroën eine alte Schrotkarre ist, die dauernd zusammenbricht…

Dass er keine Hoffnung darauf hat, jemals befördert zu werden, als Spanier in Frankreich…

Dass seine Frau ihn wie Dreck behandelt. Dass er manchmal das Gefühl, seine Frau denke, er sei geistig ein bisschen unterbemittelt…

Warum ich Ihnen das alles erzähle, wenn es diese Serie noch nicht mal im deutschen Fernsehen gibt? Weil dieser Moment, in dem Miguel seinem Bruder die Wahrheit über sein Leben in Frankreich erzählt, ihn zutiefst berührt hat.

So ungefähr muss sich seine baldige Ex-Frau Nadine gefühlt haben, als sie gegangen ist (auch Miguel verlässt seine französische Frau nach langem Hin und Her ein paar Staffeln später endgültig). Nicht gut behandelt, in einem fremden Land, wie ein Bürger zweiter Klasse, immer eine Ausländerin, von ihrem deutschen Ehemann und ihrer eigenen Tochter nicht (immer) für voll genommen, fünf Jahre älter und mit Falten, eine Putzfrau, die vorgibt, einen anderen Beruf zu haben. Auch sie muss zurück gewollt haben. Nicht nach Ecuador, sondern zu ihrer Familie aus Ecuador in Deutschland. Die sie immer so akzeptiert hat wie sie ist. Die sie besser verstanden haben muss als er, ihr deutscher Ehemann, obwohl er fließend Spanisch spricht. Wie Miguel in der Serie war sie nicht glücklich, war frustriert, hatte keine Lust mehr, sich ihr ganzes Leben etwas vorzumachen, und ist am Ende zu ihrer Familie zurück. Zu ihrer Herkunftsfamilie, ihren Wurzeln.

Trotz Rosenkrieg und knallhartem Anwalt könnte er fast mit ihr Mitleid bekommen.

Aber das ist noch lange nicht alles. Das ist nicht der einzige Grund, warum ihn das so berührt hat. Letzten Endes ist Mitleid mit anderen nämlich immer und vor allem eins: Selbstmitleid! Und so trifft das Geständnis Miguels in Cuéntame como pasó genauso auf sein eigenes Leben zu. Auch er hat sein ganzes Leben lang allen etwas vorgemacht, hat so getan als ob. Hat sich besser gemacht als er in Wirklichkeit war. Hat so getan als hätte er ein besseres Leben als das, was er tatsächlich hatte. Als verdiene er mehr Geld mit seinem popligen Job in der Musikschule. In der Spielhalle. Wo er seine Aufstiegschancen genau wie die Miguels in Frankreich gen Null tendieren. Auch er hat sich und allen anderen etwas vorgemacht. Damit seine Eltern, seine Tochter und letztendlich seine Frau auf ihn stolz sind.

Dass er einen guten Job hat, der ihn erfüllt.

Dass er mit seiner Wohnung zufrieden ist.

Dass er auch ohne Führerscheint zurechtkommt.

Dass er glücklich sei, wenn er mit ihr und ihren Freunden rausgeht und genau weiß, dass die ihn nie so akzeptiert haben wie er ist, dass die eine ganz andere Agenda als er hatten.


Auch er hat immer so getan, als ob er über all dem stehe, als ob er etwas Besseres sei…nur weil er genau wusste, dass das Gegenteil der Fall war. Wie hat das damals diese Bolivianerin in Schottland gesagt. Dein Mann ist arrogant. Aber wo kam denn die vermeintliche Arroganz her?! Aus einem Gefühl der Unterlegenheit, des nicht gelebten Lebens.

Auch er hat seinen Eltern, seiner Frau, seiner Tochter, seinen Kollegen all die Jahre etwas vorgemacht, hat sie und sich selbst belogen. Wie Miguel in der Serie.

Auch er hat nie das Leben gehabt, was er wirklich wollte, in einer großen Stadt im Ausland, mit Leuten wie ihm, die an Literatur interessiert sind, an Kunst, an Kultur, was weiß ich, für die das was bedeutet und die nicht, wie Nadines Freundin sagen: „Komm mir nicht mit Freud. Freud zahlt nicht deine Rechnungen…“

Dass er in Bonn, in Deutschland nie glücklich geworden ist. In diesem Leben, in dem es scheinbar nur darum ging, einen schönen Job, ein schönes Haus, ein schönes Auto, eine schön eingerichtete, saubere Wohnung und am Ende eine schönen Ruhestand und eine schöne Beerdigung zu haben.

Einen schönen Aufstieg ins Himmelreich…

Dass das Einzige, was er im Leben erreicht hat, eine schöne, intelligente Tochter ist


Deswegen hat er heute fast geheult, als er das gesehen hat. Obwohl er dachte, dass schon lange keinen Tränen mehr kommen würden.

Wir machen alle allen etwas vor. The grass is always greener on the other side. Bis uns die Realität irgendwann einholt. Und dann stehen wir da

und heulen fast (wenn die Tränen noch kommen würden)

Aber dann ist es zu spät…